Montag, 20. Januar 2020

Evolution, kognitive Revolution und die Folgen - panta rhei (πάντα ῥεῖ), alles fließt (Update 01.12.2023)

Brain Memory - CC0 1.0 Universal (CC0 1.0)

Ich kann freilich nicht sagen, ob es besser werden wird, wenn es anders wird; aber so viel kann ich sagen, es muß anders werden, wenn es gut werden soll. - Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799), 
Sudelbücher

Dieser Anfang 2020 begonnene Post ist nicht als statischer Text angelegt. Er unterliegt einer zu Lebzeiten nicht abschließbaren Dynamik eigener Erkenntnis. Um Veränderungen des Posts zu nachvollziehbarer zu gestalten, ist seit dem 26.11.2022 eine Veränderungsdokumentation angefügt.
 
Den aktuellen Stand des Posts inspirieren drei nachhaltig beeindruckende, kürzlich rezipierte Veröffentlichungen, deren Themen substanzielle Aspekte des Posts betreffen. Anmerkungen zu diesen Veröffentlichungen fügen sich nicht nahtlos in die Struktur dieses Posts und bilden darum ein dem Post vorausgehendes kurzes einleitendes Kapitel. 
 
 
Inhaltsübersicht 
 
0        Anmerkungen zu Evolution und kognitive Revolution in neuen Veröffentlichungen
1        Evolution von Leben und Bewusstsein
2        Kognitive Revolution 
2.1     Merlin Donalds Evolutionsmodell des menschlichen Bewusstsein
2.1.1  Theorie und Narrativ
3        Evolution von Kultur
3.1     Neolithische Revolution?
3.2     Urbane Revolution?
3.2.1  Göbleki Tepe 
3.2.2  Çatalhöyük
3.3     Erfindung von Schrift
3.4     Anfänge von Wissenschaft
3.5     Wissenschaftliche Revolution
3.6     Verwissenschaftlichung der Welt
3.7     René Girards Theorie der Evolution von Kultur als Transformation von Gewalt
3.7.1  Gabentausch, Opferriten und symbolische Gewalt 
3.8     Die Entstehung von Religion in Robert Bellahs Theorie kultureller Evolution
3.8.1  Gemeinschaftliches Spiel in episodischer Kultur
3.8.2  Entstehung von Riten und symbolischer Kommunikation in mimetischer Kultur
3.8.3  Entstehung von Sprache, Narrativen, Religion in mythische Kultur
3.8.4  Entstehung sozialer Hierarchien und komplexer Symbolsysteme in archaischer Kultur
3.8.5  Verdrängung archaischer Kultur in der Achsenzeit
3.8.6  Aufbruch aus der Achsenzeit
4        Leben in der gegenwärtigen Welt des Übergangs vom Holozän zum Anthropozän
4.1     Komplexität und Modell
4.2     Legitimationskrisen politischer Herrschaft
5        Leben in anthropozäner Welt – Leben 4.0
5.1     Bevölkerungsentwicklung und Klimawandel
5.2     Digitale Transformation und Digitale Revolution
5.2.1  Generelle Auswirkung: Beschleunigung von Strukturwandel
5.2.2  Wirtschafts- und Arbeitswelt
5.2.3  Künstliche Intelligenz, 5G und private Mobilität
5.2.4  Zunahme des Stadt-Land-Gefälles
5.2.5  Infrastruktur im öffentlichen Raum
5.2.6  Entgrenzung von Lebenssphären durch Vernetzung
5.3     Drift in Richtung Überwachungsstaat und Überwachungskapitalismus
6        Verlust der Kontrolle über unbeabsichtigte Folgen zweckbestimmter Handlungen
6.1     Zunahme sozio-struktureller Komplexität durch soziale und funktionale Differenzierung
6.2     Beschleunigung des sozialen Wandels
6.3     Ökologische Katastrophen
7        Schlussbetrachtungen
7.1     Folgen zunehmender Komplexität
7.2     Der Gang der Geschichte und ihre Anfänge - Anmerkungen zum Buch Anfänge von David Graeber und David Wengrow  
8        Änderungshistorie des Posts


0 Anmerkungen zu Evolution und kognitive Revolution in neuen Veröffentlichungen
 
Kulturanthropologe David Graeber (1961-2020) und Prähistoriker David Wengrow (*1972) unternehmen mit ihrer gemeinsamen Veröffentlichung Anfänge: Eine neue Geschichte der Menschheit den Versuch, Narrative einer linearen Evolution von Kultur zu dekonstruieren und begründen ihre Argumente mit neueren empirischen Befunden archäologischer Forschungen. Der Post referiert einige ihrer Gedanken in Kapitel 3 und im Schlusskapitel 7.(1)
 
Graebers und Wengrows alternative Sicht relativiert das monumentale Alterswerk 'Der Ursprung der Religion. Vom Paläolithikum bis zur Achsenzeit' des US-amerikanischen Religionssoziologen Robert Bellah (1927-2013), der sich als Schüler von Talcott Parsons (1902-1979) an funktionalistisch-systemtheoretischen Erklärungsmodellen orientiert.(2) Soziologisch steht Bellah vor allem Émile Durkheim (1858-1917), aber auch Max Weber (1864-1920), Alfred Schütz (1899-1959), Clifford Geertz (1926-2006) und Walter Runciman (1934-2020) nahe.(3,4) Mit seltener Gelehrsamkeit erzählt Bellah eine Evolutionsgeschichte, die in nicht überschätzbarer universalwissenschaftlicher Tradition interdisziplinär zwischen natur- und kulturwissenschaftlichen Fachdisziplinen navigiert. Auf seiner Tour durch Raum und Zeit von Kultur und Wissenschaft macht Bellah immer wieder demütig auf Lückenhaftigkeit, Unsicherheit, Vorläufigkeit von Einsichten und Ansichten aufmerksam. Der Post verweist in mehreren Kapiteln auf Aussagen in Bellahs Der Ursprung der Religion. Bellahs Kerngedanken fasst Kapitel 3.8 zusammen. Diese Gedanken setzen sich deutlich von René Girards (1923-2015) umstrittener Theorie der Evolution von Kultur als Transformation von Gewalt ab, die Kapitel 3.7 skizziert
 
Entwicklungsstufen Robert Bellahs soziologisch geprägter Evolutionsgeschichte sind maßgeblich von Merlin Donald (*1939) beeinflusst, kanadischer Neuroanthropologe, kognitiver Neurowissenschaftler und Vertreter der mimetischen Theorie der Sprachentstehung.(5) Donald entwickelte mit seinem Entwurf einer Theorie der Evolution von Bewusstsein ein im deutschen Sprachraum nur selten diskutiertes Modell der Evolution menschlichen Bewusstseins als Hybridprodukt einer Symbiose von Gehirn und Kultur.(6) Kapitel 2 dieses Posts skizziert Merlin Donalds Theorieentwurf. 
 
-------------------------------------
  1. David Graeber, David Wengrow, Anfänge: Eine neue Geschichte der Menschheit, Stuttgart 2022 (Original: The Dawn of Everything. A New History of Humanity, London, New York 2021)
  2. Robert Bellah: Der Ursprung der Religion. Vom Paläolithikum bis zur Achsenzeit. Freiburg 2021, Seite 23 (Originalausgabe: Robert N. Bellah: Religion in Human Evolution. From the Paleolithic to the Axial Age. Cambridge Mass. 2011)
  3. Bellah identifiziert sich als "zutiefst durkheimischer Soziologe" (Der Ursprung der Religion, a.a.O., S. 672). Émile Durkheim (1858-1917) etablierte strukturelle Denkweise als soziologische Methode. Mit Max Weber und Alfred Schütz teilt Robert Bellah auf Sinnverständnis basierende handlungstheoretische Konzepte. Bellahs Kulturbegriff verbindet Auffassungen von Clifford Geertz, der Kultur analog Texten als sinnstiftend verflochtene symbolische Bedeutungsmuster definiert, mit Walter Runciman, der biologische, soziale und kulturelle Evolution als sich gegenseitig durchdringende Prozesse versteht.
  4. Robert Bellah: Der Ursprung der Religion, a.a.O., S. 559
  5. Mimetische Theorien beziehen sich begrifflich auf Mimesis und erklären Lernprozesse als Aneignung durch Nachahmungen. Sie nehmen an, dass in der Frühphase menschlicher Evolution diese Lernprozesse ausschließlich symbolisch durch Gestik, Mimik, Körperhaltungen und Bewegungen vermittelt wurden. Gemäß mimetischer Theorie entstanden mit erweiterter Kapazität des Gehirns Sprache als Abstraktion von Mimik und Gestik sowie in einer weiteren Abstraktionsstufe Schriftsysteme als externe Wissensspeicher.
    Da bisher keine zuverlässigen Forschungsergebnisse vorliegen, unterscheiden sich theoretische Erklärungsansätze bezüglich der Art und des Zeitraums der Entstehung von Sprache erheblich.
  6. Merlin Donald: Triumph des Bewusstseins. Die Evolution des menschlichen Geistes (2008 bei Klett-Cotta erschienen, aktuell vergriffen). 
Original: A Mind So Rare: The evolution of human consciousness (Norton, 2001)

1 Evolution von Leben und Bewusstsein
 
Gemäß Standardmodell der Kosmologie entstand das Universum mit dem Urknall und mit diesem Zeit, Raum und Materie. Den Urknall selbst und Fagen danach, ob das Universum singulär ist und was außerhalb des Universums liegt, vermögen Naturwissenschaften nicht zu beantworten. Lücken füllen Narrative kosmogonischer Mythen. Antworten gibt es jedoch auf die Frage nach dem Alter des Universums, die das Weltraumteleskop Planck präzise gemessen hat: 13,81 ± 0,04 Milliarden Jahre. Das Sonnensystem, zu dem die Erde gehört, entstand vor ca. 4,6 Milliarden Jahren. Vor ca. 4,1 Milliarden Jahren setzte auf der Erde die Evolution von Lebewesen ein. Vor ca. 541 Millionen Jahren begann eine fast explosionsartige Entwicklung mehrzelliger Tiere und bildete die Ausgangsbasis der Vielfalt komplexer Lebewesen. Die ältesten menschenähnlichen Lebewesen traten vor ca. 2,5 Millionen Jahren auf den Plan. Die ältesten Funde anatomisch moderner Menschen sind ca. 315.000 Jahre alt.
 
Leben ist eine vermutlich seltene Ausprägung von Naturprozessen. Leben benötigt Materie, die Prozesse biologischer Art organisiert. Die Evolution von Menschen geht einher mit einer Evolution der Leistungsfähigkeit ihres Gehirns. In der Evolution biologischer Systeme scheint eine bisher nicht identifizierte Kraft zu treiben, die in Richtung Zunahme von Komplexität wirkt. Mit zunehmender Komplexität entwickeln sich Fähigkeiten der Selbstwahrnehmung, des Denkens und der Deutung von Erlebnisinhalten.
 
Die Evolution des Bewusstseins ist wissenschaftlich ungeklärt. Es ist weder bekannt, ab wann Bewusstsein und Vernunft auftraten noch, was diese Entwicklung auslöste und wie sie ablief. Mehrere Theorien bieten spekulative Antworten. Ein weiteres wissenschaftliches Rätsel verbindet sich mit der Frage nach der Definition von Bewusstsein, die eng mit Problemen von Qualia und Intentionalität korrespondiert und von der einige der renommiertesten Philosophen annehmen, dass sie naturwissenschaftlich nicht zu beantworten ist.(1,2,3) 
 
Eine Gruppe von Kognitionswissenschaftlern vertritt ein strittiges naturalistisches bzw. materialistisches Weltbild, das sämtliche Phänomene von Welt auf Natur und ihre Gesetzmäßigkeiten zurückführt. Naturalistische Ansätze verstehen Kultur als Ausprägung von Natur und soziokulturelle Evolution als Entwicklung der biologischen Evolution.(4) Gemäß dieser Denkweise sind mentale Zustände aus physischen Zuständen zu erklären. Annahmen über Intentionalität des Denkens gelten als nützliche Fiktion. Um soziokulturelle Evolution erklären zu können, bedarf es jedoch der Annahme zusätzlicher Entitäten als Replikationseinheiten, die als Meme bezeichnet werden (in Anlehnung an den Begriff Gene).(5) Meme werden als Bewusstseinsinhalte verstanden, die mittels Kommunikation als Informationen weitergegeben bzw. vervielfältigt (repliziert) werden und wie biologische Vererbung von Genen soziokulturell vererbbar sowie durch soziokulturelle Evolution veränderbar sind.(6)

 
Einen Gegenentwurf zu materialistischen Erklärungsmodellen entwickelte Merlin Donald (*1939), dessen Entwurf Kapitel 2 des Posts vorstellt.(7) 

--------------------------------------
  1. Wissenschaftstheoretisch konkurrieren drei grundlegende Positionen, die nicht in Übereinstimmung gebracht werden können und das harte bzw. schwierige Problem des Bewusstsein, das sich auf den in der Philosophie als Rätsel von Qualia diskutierten subjektiven Inhalt mentaler Zustände bezieht, aus verschiedenen Richtungen betrachten.
    • Monistische Modelle nehmen in verschiedenen Varianten an, dass die gesamte Realität aus einem Stoff besteht. Populäre funktionalistische Theorien der Soziologie, Ethnologie und Psychologie beruhen auf physikalischem Monismus und nehmen an, dass geistige Phänomene unabhängig vom Material auf funktionale Mechanismen reduzierbar sind. Somit wären eine wie ein menschliches Gehirn denkende Maschine bzw. Künstliche Intelligenz prinzipiell möglich.
      Für monistische Annahmen spricht das allgemeine Verständnis von Wissenschaft, gemäß dem Naturgesetze für die gesamte Realität gelten und frei von Widersprüchen sind.
      Gegen monistische Annahmen spricht, dass bedeutende theoretische Modelle der Physik (Quantenmechanik und allgemeine Relativitätstheorie) und der Philosophie (Leib-Seele-Problem) bisher nicht widerspruchsfrei vereint werden können und darum vermutlich fehlerhaft sind.
      • Unter monistischen Modellen am weitesten verbreitet ist Materialismus, der alle Phänomene von Welt auf Materie und physikalische Gesetzmäßigkeiten zurückführt und Bewusstsein zur reinen Illusion erklärt. Gegen Materialismus spricht das harte bzw. schwierige Problem des Bewusstsein.
      • Den Mangel des radikalen Materialismus behebt die in mehreren Varianten diskutierte Annahme eines Zwei-Aspekte-Monismus (Dual-Aspekt- oder Doppelaspekt-Monismus), der physikalische und phänomenlogische Eigenschaften als extrinsiche und intrinsische Eigenschaften von Materie versteht.
      • Eine radikale Variante dieser Erklärung ist der Panpsychismus, gemäß dem alle Objekte geistige Eigenschaften besitzen und der intrinsische Aspekt von Objekten als Bewusstsein zu verstehen ist.
        Moderne Varianten des Panpsychismus betrachten als Möglichkeit, dass Bewusstsein den konkrete Stoff von Realität im Sinne einer fundamentalen Hardware bildet, die die Software physikalischer Theorien implementiert. Trotz der unplausibel und merkwürdig scheinenden Umkehrung des allgemeinen Verständnisses von Hardware und Software gewinnt die radikale Idee in der Gegenwart an Boden, weil Panpsychismus die härtesten Probleme der Naturwissenschaft und der Philosophie auf einen Schlag löst.
        (FAZ, Hedda Hassel Mørch: Rätselhaftes Bewusstsein: Wie kommt der Geist in die Natur?)
        Der US-amerikanische Neurowissenschaftler Christof Koch betrachtet das Modell der Integrierten Infromationstheorie als wissenschaftliche Form des Panpsychismus.
    • Dualismus postuliert physische Materie und mentalen Geist als sich ausschließende materielle und immaterielle Entitäten. Gegen Dualismus spricht das allgemeine Verständnis von Wissenschaft.
    • Pluralistische Erklärungen nehmen an, dass neben physischen Phänomenen (Objekte, Eigenschaften, Ereignisse) nichtphysische Entitäten mit jeweils spezifischen Eigenschaften existieren (Bewusstsein, Zahlen, Normen, Symbole etc.).
      Pluralistische Erklärungen korrespondieren mit Konzepten starker Emergenz, gemäß der sich Eigenschaften eines Systems nicht vollständig aus Eigenschaften seiner Komponenten erklären lassen. Evolutionäre Innovationen werden als Entwicklungssprünge der Komplexität lebender Systeme ausgefasst, durch die neue emergente Phänotypen entstehen. Erklärt werden Innovationen mit rekursiven Prozessen der Autopoiesis (Fähigkeit lebender Systeme zur Selbsterschaffung, Selbsterhaltung, emergenten Selbstorganisation).
      Humberto Maturana und Francisco Varela beschreiben in ihrem Werk Der Baum der Erkenntnis, wie auf Basis dieser Konzepte die Evolution von Leben erklärbar ist.
    In Kognitionswissenschaften waren ehemals Annahmen vom Computermodell des Gehirns verbreitet, wonach das Gehirn als informationsverarbeitendes System wie ein Computer operiere und Gehirn und Geist analog Hardware und Software aufzufassen seien. Geist galt als abbildungsähnliche mentale Repräsentation von Umweltinformationen. Mit dem Wissenszuwachs von Neurowissenschaften wurde deutlich, dass mentale Prozesse des Gehirns nicht als symbolische Repräsentation von Objekten der Welt zu verstehen und im Gehirn gespeicherte Informationen nicht binär codiert sind. Dynamische Modelle neuronaler Netze haben das Computermodell verdrängt. Die Suche nach neuronalen Korrelaten bewussten Erlebens hat begonnen und befindet sich in einem noch sehr frühen Stadium. Ob der neuronale Code zu knacken ist und sich Erklärungslücken zwischen bewusstem Erleben und biologischen Prozessen schließen lassen, ist unsicher. Vertreter der Integrierten Informationstheorie (Giulio Tononi, Christof Koch) sind sich sicher, "dass keine noch so ausgereifte Computersimulation eines menschlichen Gehirns Bewusstsein erlangen kann – selbst, wenn sich ihre Antworten nicht von denen eines Menschen unterscheiden lassen" (Spektrum, Christof Koch: Was ist Bewusstsein?).
    Unsicher ist jedoch die Validität der Integrierten Informationstheorie. Relativ sicher ist jedoch, dass die Entschlüsselung des neuronalen Codes nicht frei von Missbrauch bleiben würde. - Weitere Quellen:
  2. Quellen zum Themenfeld Bewusstsein:
  3. Das Thema Bewusstsein betrachtet auch der Post Beobachtung, Theorien, Vermutungen zur Evolution von Kultur und Religion - Teil 1: Basale Konzepte in Kapitel 1.2: Evolution von Bewusstein
  4. Protagonisten dieser Richtung: Richard Dawkins, Daniel Dennett
  5. Wissenschafts-Magazin Spektrum: Evolution: Die Macht der Meme
  6. Die Memtheorie beeindruckt durch Plausibilität, aber mangels empirischer Belege ist sie wie viele wissenschaftliche Theorien strittig.
  7. Merlin Donald: Triumph des Bewusstseins, a.a.O.
    Rezensionen:
 
2 Kognitive Revolution(1)
 
Nach mehr als 13,8 Milliarden Jahre Vorgeschichte zeigen Funde des afrikanischen Middle Stone Age, dass vor ca. 75.000 Jahren Veränderungen des Denkens stattgefundenen haben müssen, die als kognitive Revolution gedeutet werden.(2) Künstlerische Artefakte wie Schmuckstücke, gemahlene Farbpigmente und Knochenflöten belegen erstmals abstraktes künstlerisches Denken, das in Malerei und Musik Ausdruck fand (Wikipedia: Middle Stone Age, Blombos-Höhle). Die Annahme einer kognitiven Revolution impliziert eine sprunghafte Zunahme der Komplexität kognitiver Fähigkeiten (Lernfähigkeit, Gedächtnis, komplexe Sprache, kommunikative Kompetenz), die mit der Entwicklung von Intelligenz einhergeht und Vorstellungen des Bewusstseins von sich selbst sowie Fähigkeiten zur Selbstreflexion voraussetzt.(3) 
 
 
2.1 Merlin Donalds Evolutionsmodell des menschlichen Bewusstseins
 
Merlin Donald versteht Bewusstsein systemisch als Hybridprodukt einer Symbiose von Gehirn (Organ eines Lebewesens) und Kultur (von Menschen erschaffene Netzwerke von Artefakten), die vermutlich als Mutationen zustande kamen, die Veränderungen des präfrontalen Cortex bewirkten und sich aufgrund von vier Voraussetzungen evolutionär zum Bewusstsein entwickelten:(4)
  • hohe neuronale Plastizität des Gehirns
  •  hohe Kapazität des Gedächtnisses
  • erweiterte exekutive Funktionen des Gehirns
  • eine neuartige kognitive Strategie in Form einer Symbiose zwischen individueller interner Hirnaktivität und kollektiver externer Kultur
Diese vier Bedingungen befähigen in einer dynamischen Umwelt zur Selbstregulation, zielgerichteten Handlungssteuerung, Willensbildung und Selbstmotivation sowie zum symbolischen Denken und zur kollektiven Kooperation. Unter diesen Voraussetzungen erschafft kollektives Bewusstsein Kultur, die ihrerseits Bewusstsein formt. Kultur und Bewusstsein treiben im Sinne reziproker Co-Evolution die Dynamik sich selbst erzeugender und verändernder Entwicklungsprozesse von Kultur und Bewusstsein.
 
Evolutionäre Entwicklungsprozesse dieser Fähigkeiten entfalten sich gemäß Merlin Donalds Modell in vier kulturellen Phasen, die sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern ergänzende Erweiterungen darstellen, bei denen Fähigkeiten früherer Phasen erhalten bleiben und neben neu hervorgebrachten Fähigkeiten weiter bestehen und relevant bleiben.(5) 
  1. Die lt. Donald vor 5 Millionen Jahren beginnende früheste kulturelle Phase bezeichnet Donald als episodische Kultur, in der alle höheren Säugetieren und frühe Menschen gelernt haben, unmittelbare Situationen ihrer Umwelt zu verstehen und darauf zu reagieren.
  2. Vor ca. 2,5 Millionen Jahren entstand eine vorsprachliche, aber nicht unbedingt vorstimmliche mimetische Kultur, in der Individuen unter Einsatz ihres Körpers und unter Verwendung expressiver Gesten miteinander kommunizierten. In der Phase der mimetischen Kultur entwickelten sich vorsprachliche Ausdrucksformen wie Rituale, Tanz, Handwerk und Gesten wie Händeschütteln, Kopfschütteln, Kopfnicken, Lächeln etc. oder auch symbolische Körperhaltungen, die Unterlegenheit, Überlegenheit, Freundlichkeit, Feindlichkeit, Zugewandtheit, Gemeinsamkeit etc. symbolisch kommunizieren und bis heute genutzt und universell verstanden werden.
  3. Mit der Entwicklung von Sprache entstand vor ca. 150.000 Jahren durch Spracherwerb und der Erfindung von Symbolen die mythische Kultur, die Donald als ein kollektives System erklärender und regulativer Metaphern beschreibt, das über episodische Wahrnehmungen von Ereignissen und mimetische Rekonstruktionen von Episoden hinausgeht. Mythen durchdringen alle Lebensbereiche und vermitteln via oralem Austausch von Metaphern und Narrativen ein umfassendes Verständnis des Lebens.(6) Mythen operieren nicht mit rationalen Argumenten, sondern erzählen Geschichten, die empirisch nicht prüfbar (falsifizierbar) sind.(7)
  4. Die vierte Stufe bezeichnet Donald als theoretische Kultur. Schlüsselelemente dieser Kultur bilden grafische Darstellungen (wie Körperbemalungen, Sandbilder, Höhlenmalerei, Petroglyphen etc.), mit der Grundlagen für externe symbolische Gedächtnisse durch Verschriftlichung von Sprache (Literalität) als Voraussetzung für Theoriebildung entstehen. Wenn sich Gehirne mit externen Gedächtnisnetzwerken verknüpfen, werden sie vorübergehend Teil dieses Netzwerkes, das die individuelle Gedächtnisstruktur verändert und die kognitive Steuerung übernimmt. Mimetische, mythische und theoretische Kultur schließen sich nicht gegenseitig aus. Sie bilden auf der vierten Stufe kultureller Evolution eine Synthese, in der sie nicht verschmelzen, sondern kontextabhängig ihre Bedeutung bewahren.(8)

2.1.1 Theorie und Narrativ
 
Den Begriff Theorie verwendet Donald als Unterscheidung vom Narrativ (Geschichte, Erzählung). In Abgrenzung von Narrativen mythischer Kultur bezeichnet theoretische Kultur die Fähigkeit zum analytischen und schlussfolgernden Denken im Sinne des Denkens zweiter Ordnung, das Grundlagen seiner Darlegungen berücksichtigt, widersprüchliche Erfahrungen auf einer höheren Abstraktionsebene kritisch reflektiert und sich der Kritik von Außen stellt. Den von einigen Autoren als Achsenzeit diskutierten Durchbruch dieses Denkens zweiter Ordnung verorten Donald und andere erstmals in der frühen griechischen Antike vor ca. 800 Jahren v. Chr..(9) Gemäß diesem Verständnis resultiert die theoretische Haltung dieses Denkens auf einer Transformation von Bewusstseinsstrukturen, die den Keim einer neuen Evolutionsstufe rationaler Kultur sowie von erweiterter menschlicher Kognition als Basis neuzeitlichen wissenschaftlichen Denkens bildet.

Mit der Erfindung von Grafik, Bemalungen und Schriftsystemen entstehen externe Gedächtnisspeicher außerhalb des Gehirns. Externe Gedächtnisspeicher sind Voraussetzung einer theoretischen Kultur, die zum analytischen Denken, zum Nachdenken über das Denken, zum Denken auf Metaebene, zur Säkularisierung des Denkens und zur Theoriebildung befähigt. Theoretische Kultur setzt sich jenseits des menschlichen Alltagsdenkens als fachspezifische Errungenschaft im Sinne von Wissenschaft durch. 
 
Rationales analytisches Denken mindert zwar die Glaubwürdigkeit von Mythen, es verdrängt jedoch nicht narratives Denken, sondern ergänzt es. Mythenspekulationen bleiben erhalten und werden unter dem Rechtfertigungsdruck analytischen Denkens durch Radikalisierung immunisiert. Menschen bleiben weiterhin episodische, mimetische und mythische Geschöpfe, die ihr Alltagsleben wie zuvor mit Face-to-Face-Interaktionen und Face-to-Face-Ritualen gestalten, die bereits in stammesgeschichtlicher Zeit entstanden sind und in ähnlicher Art und Weise bis heute fortbestehen. 
 
Theorien können Narrative kritisch analysieren. In Naturwissenschaften ersetzen Theorien zuvor als real angenommene Geschichten. Theorien können Narrative jedoch nicht in allen Lebensbereichen ersetzen. Ethische, politische, religiöse Fragen nach dem Guten und Richtigen basieren auf Narrativen. Narrative beschreiben die Art und Weise, wie wir Leben sowie persönliche und kollektive Identität verstehen. Theoretische und mythische (narrative) Kultur bezeichnen zwei grundlegende, unverzichtbare Denkweisen. Theorien erzählen keine Geschichten. Geschichten erzählen Narrative, die den Bezug zur Welt herstellen, Persönlichkeiten von Menschen konstituieren sowie wechselseitige Verständnisse von Persönlichkeiten erzeugen und so Kooperation ermöglichen.
 
Theorien und Narrative interagieren miteinander. Auch Theorien benötigen Narrative, um sich durchsetzen zu können. Narrative können Theorien scheitern lassen. Die sog. Achsenzeit ist ebenfalls ein Narrativ und ist laut Karl Jaspers als globaler Aufbruch der Menschheit gescheitert.(10)

--------------------------------------
  1. Phänomene neuronaler und kognitiver Strukturen und Prozesse thematisiert der Post Architektur von Erinnerung, Wissen, Wahrheit - interdisziplinär betrachtet.
  2. Yuval Noah Harari setzt in seinem international stark beachteten Buch Sapiens: Eine kurze Geschichte der Menschheit die kognitive Revolution vor 70.000 Jahren an und entfaltet von diesem Startpunkt eine Geschichte kultureller Evolution.
    Noch früher als Hararis Eine kurze Geschichte der Menschheit setzt Jürgen Kaubes Erzählung über Die Anfänge von allem (Berlin 2017) ein, die kulturelle Innovationen in der Geschichte der Menschheit nicht kausal zu begründen versucht, sondern als evolutionär erzeugte Umbrüche versteht, die sich wegen funktionaler Überlegenheit durchsetzen.
  3. Die Annahme einer kognitiven Revolution findet keine ungeteilte Zustimmung: Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte: Archäologische Ausgrabungen in der Panga ya Saidi Höhle 
  4. Merlin Donald: Triumph des Bewusstseins, a.a.O. 
  5. Merlin Donald: Triumph des Bewusstseins, a.a.O. sowie Robert Bellah: Der Ursprung der Religion, a.a.O., S. 386ff.
  6. Der Begriff Mythos ist je nach Kontext mit unterschiedlichen Bedeutungen belegt (Wikipedia: Mythos). Robert Bellah übernimmt eine abstrakte Definition des deutschen Altphilologen Walter Burkert (1931-2015): "Mythen sind traditionelle Erzählungen, die sich sekundär und partiell auf etwas von kollektiver Bedeutsamkeit beziehen." (Zitat Robert Bellah: Der Ursprung der Religion, a.a.O., S. 480)
    Bellah weist darauf hin, dass sich Bedeutungen der Begriffe Erzählung, Narrativ (sinnstiftende Erzählung), Mythos und Geschichtsschreibung überlappen. Wenn Narrative mit kollektiven Bedeutungen aufgeladen sind, handelt es sich um Mythen. Während Mythen Erzählungen über Interaktionen zwischen Menschen und überirdischen Mächten enthalten können, die keiner zeitlichen Einschränkung unterliegen, erzählt Geschichtsschreibung menschliches Handeln und deren Folgen in der Vergangenheit. (Robert Bellah: Der Ursprung der Religion, a.a.O., S. 480)
  7. Robert Bellah: Der Ursprung der Religion, a.a.O., S. 548f.
  8. Robert Bellah: Der Ursprung der Religion, a.a.O., S. 545ff.
  9. Achsenzeit bezeichnet einen Zeitraum um das Jahr 500 v. Chr. in der in mehreren Kulturkreisen parallel und unabhängig voneinander rationales Denken, Philosophie und Ethik und mit ihnen wissenschaftliche Denkweise entstehen. Der Begriff Achsenzeit geht auf Karl Jaspers (1883-1969) zurück. Jaspers sieht nicht nur eine geschichtliche Periode, sondern er lokalisiert eine Zeitenwende, die Geburt des modernen Menschen, die er als „Achse“ der Weltgeschichte mit universaler Bedeutung versteht. 

    Jaspers identifiziert eine primäre Achsenzeit in vier Kulturkreisen: China, Indien, Orient, Okzident, in denen zeitliche parallel, aber unabhängig voneinander, gleichartige Umbrüche stattfinden, die er als evolutionären kulturellen Sprung auffasst. Nach Jaspers Auffassung folgen auf die primäre Achsenzeit sekundäre Umbrüche, die u.a. ein ehemals universelles Verständnis von Religion umformten und Systeme der aktuellen Weltreligionen hervorbrachten.
    Wie die Bedeutung der Achsenzeit einzuordnen ist und ob Achsenzeit als ein spekulatives philosophisches Konstrukt aufzufassen ist, wird kontrovers diskutiert. In der Achsenzeit entsteht vermutlich die Idee der Transzendenz als einer räumlichen Trennung zwischen dem Weltlichen und dem Göttlichen, durch die ein Gotteskönigtum nicht mehr möglich ist und seitdem sich auch Herrscher gegenüber göttlichen Weisungen rechtfertigen müssen.
    Während der Kulturwissenschaftler Jan Assmann Achsenzeit als eine empirisch nicht nachvollziehbare retrospektive Konstruktion wertet, erkennt Merlin Donald mit der griechischen Antike den Durchbruch einer neuen kognitiven Qualität, ohne explizit von Achsenzeit zu sprechen. Robert Bellah, Hans Joas, Charles Taylor und andere Kulturwissenschaftler insbesondere der Religionssoziologie verwenden explizit das Konzept der Achsenzeit als Kernelement ihrer Theoriebildung.
    Taylor versteht Achsenzeit als Umbruch, den er an Veränderungen "sozialer Vorstellungsschemata" festmacht, die er als "Einbettung" und "Entbettung" bezeichnet. Den Begriff des „sozialen Vorstellungsschemas“ führt Taylor zur Abgrenzung verschiedener Denkmuster ein. Während Theorien und Narrative zwischen Menschen ausgetauscht und diskutiert werden, versteht Taylor „soziale Vorstellungsschemata“ als kollektive Überzeugungen, die Menschen einer Gesellschaft als vermeintlich objektive Selbstverständlichkeiten unbewusst teilen und die auf das Denken und Handeln von Menschen einwirken, ohne dass Menschen dieser Einfluss bewusst ist (Wikipedia: Kollektivbewusstsein).
    Zum Verständnis dieser Diskussion sei angemerkt, dass wissenschaftliche Annahmen in Form von Theorien (Systeme von Aussagen über Hypothesen oder Gesetze) und Modellen (Modellkonzepte sind wissenschaftlich vieldeutig) prinzipiell Konstrukte darstellen, die nicht Realität beschreiben, sondern ein Verständnis komplexer Zusammenhänge und Prozesse, die einer möglichen Realität vermeintlich nahe kommen. Die Qualität derartiger Annahmen muss sich an empirisch wahrnehmbaren Sachverhalten messen lassen und bewähren.
  10.  Zitat Robert Bellah: Der Ursprung der Religion, a.a.O., S. 400
 
3 Evolution von Kultur(1)
 
Evolution von Kultur erfordert Fähigkeiten abstrakten Denkens als Voraussetzung zur Entstehung von Mustern symbolischer Weltbezüge, die in Sprache, Zeichen, künstlerischen Artefakten gestaltet und mit Sinnstrukturen bildende Bedeutungen ausgestattet sind. 
 
Symbolisches Denken befähigt durch Abstraktion zu Deutungen von Sinneseindrücken und zu deren Speicherung als vergleichbare kognitive Muster. Als Wissen und Erfahrung verfügbare kognitive Muster verhelfen zu erlernten Fähigkeiten und ergeben in Summe Vorstellungen einer Realität der Lebenswelt. Der Abgleich von Sinneseindrücken mit gespeicherten kognitiven Mustern beeinflusst Verhalten. Erlernte Fähigkeiten ermöglichen gestaltende Einflussnahme auf Lebenswelten. Als Sprache befähigt symbolisches Denken zur Kommunikation kognitiver Muster und erweitertet Optionen der Kooperation.  
 
In enger Koinzidenz entstanden vermutlich Sinnstrukturen religiöser Vorstellungen, die unbekannte und aus Beobachtung nicht erschließbare Phänomene erklären. Vor 120.000 Jahren beginnende Formen der Bestattungen und deren Grabbeigaben werden als Zeichen religiöser Vorstellungen gedeutet. Mit dem Auftreten künstlerischer Artefakte (Skulpturen, Malerei, Musikinstrumente, Schmuck) sind Hinweise auf religiöse Vorstellungen deutlicher zu erkennen. Inhalte bleiben unklar.(2)
 
Das Auftreten künstlerischer Artefakte markiert unabhängig davon, wie sprunghaft sich diese Entwicklung vollzogen hat, wie auch immer Bewusstsein zu verstehen ist und mit welchen Bedeutungen Symbole belegt waren, das Einsetzen eines beschleunigten kulturellen Wandels, der nicht zielorientiert verläuft und ungeplant weitere Entwicklungen anstößt.
 
 
Modelle soziokultureller Evolution, die in Anlehnung an die biologische Evolutionstheorie sozialen und kulturellen Wandel als Evolution auffassen, sind mit zahlreichen Problemen behaftet und daher umstritten. Unilineare evolutionistische Theorien, die stufenweise Entwicklung von niedrigen zu höheren Formen postulieren, sind Konzepte bzw. 'Erfindungen', die mit der Aufklärung und dem Kolonialismus einsetzten und im 19. Jahrhunderts als Theorien vom Fortschritt kultureller Entwicklung in ethnozentristische politische Mythen mündeten, die dem Eigennutz westlicher Kulturen dienten. Wissenschaftlich haben diese Vorstellungen ausgedient, aber als vulgärwissenschaftliche Erklärungen sind sie nach wie vor anzutreffen.

Im 20. Jahrhundert verbreiteten sich neoevolutionitische Modelle, die empirisch belegbaren gerichteten Wandel in wiederkehrenden Mustern von einfachen zu komplexeren Stadien annehmen, ohne sie mit Vorstellungen sozialen Fortschritts zu verbinden. 
 
Stand der Wissenschaft sind kulturrelativistische Modelle, die als Gegenbewegung zum Universalismus und zum Ethnozentrismus bei zunehmender Komplexität des Gesamtsystems eine ungerichtete Entwicklung zu nicht vorherbestimmten Stadien annehmen. In kulturrelativistischer Sicht kann eine Kultur nicht anhand einer anderen Kultur beschrieben und bewertet werden, sondern nur aus einer Innenperspektive heraus verstanden werden. Demnach folgt jede Kultur eigenen Gesetzmäßigkeiten.  

Graeber und Wengrow (siehe Einleitung) führen zahlreiche Belege gegen religiöse Mythen und wissenschaftliche Narrative kultureller Evolution an, die geopolitische Konstellationen als Stadien linearer evolutionärer Prozesse einer Zivilisationsgeschichte beschreiben. Diese narrativen Muster entstanden in der Neuzeit mit der Aufklärung als modellhafte Ideen einer Zivilisationsgeschichte, die Thomas Hobbes (1588-1679) als Fortschritt und John-Jacques Rousseau (1712-1778) als Rückschritt auffasste. Narrative linearer Evolution von Kultur sind auch in der Gegenwart populär. Yuval Noah Hararis Weltbestseller Sapiens: Eine kurze Geschichte der Menschheit ist u.a. hier einzuordnen. In Anbetracht neuerer empirischer Befunde archäologischer Forschungen dekonstruieren Graeber und Wengrow Geschichtsschreibung als große Erzählung und erzählen Geschichte von unten in Form kontingent verlaufender petites histoires, die in kein Standardmodell passen. Prähistorische Forschungen und Modelle kultureller Evolution stoßen jedoch an Grenzen, die universelle Gewissheiten ausschließen. Interpretationen von Artefakten und ihr Verständnis als Ausprägungen von Kulturmustern erfordern ergänzende Annahmen, die Leerstellen füllen, Spektren von Möglichkeiten aufzeigen und immer auch Wertungen enthalten, die je nach Perspektive unterschiedlich ausfallen können. 
 
 
3.1 Neolithische Revolution?
 
Vor ca. 10.000 Jahren begann im Alten Orient ein als Neolithische Revolution oder Neolithisierung bezeichneter Übergang von nomadisierender Lebensweise zu produzierender Landwirtschaft, Viehwirtschaft, Vorratshaltung, Sesshaftigkeit, Arbeitsteiligkeit. Vom Fruchtbaren Halbmond breitete sich die landwirtschaftliche Produktions- und Lebensweise auf mehreren Routen in alle Richtungen aus. Mit der Sesshaftigkeit begannen Menschen komplexere Sozialordnungen des Zusammenlebens zu etablieren. 

Graeber, Wengrow (s.o., Kapitel 7: Die Adonisgärten) und andere Autoren kritisieren den in Anlehnung an die Industrielle Revolution von Gordon Child (1892-1957) entwickelten und von Yuval Noah Harari beschriebenen Prozess der Neolithischen Revolution als verfehlt, weil 'Revolution' einen abrupten Wandel der Produktions-, Wirtschafts- und Lebensweise suggeriert, der so nicht stattfand. Stattdessen vollzog sich der Wandel in unterschiedlichen Regionen auf oftmals unterschiedlicher Art und Weise über mehrere Tausend Jahre. In diesen langen Zeiträumen bestanden unterschiedliche und oft auch gegensätzliche Kulturmuster nebeneinander oder sie wechselten in jahreszeitlicher Abhängigkeit und betrieben z.T wechselseitigen Tauschhandel. 
 

3.2 Urbane Revolution?
 
Mit der Organisation von Menschen in Siedlungen erhöhte sich die Dynamik der soziokulturellen Evolution. Vor ca. 8000 Jahren fand im Fruchtbaren Halbmond ein Übergang von landwirtschaftlichen Dörfern zu städtischen Kulturen statt, die als Urbane Revolution im Sinne tiefgreifender Transformationen der soziokulturellen Evolution verstanden wird.(3,4) Wie die ältesten Städte ausgesehen haben könnten, veranschaulicht ein Video des WDR: Die ältesten Städte der Welt
 
 
3.2.1 Göbleki Tepe 

Vermutlich entstanden sumerische Städte um Tempelbauten. Bis kürzlich sützten Deutungen ältere prähistorische Großarchitekturen wie Göbekli Tepe in Anatolien (ab ca. 9600 v. Chr.) die Annahme, dass Tempel zeitlich vor Städten entstanden sind und Städte sich um Tempel entwickelten. Tempelanlagen verweisen auf etablierte, für Menschen verbindliche Religionen und setzen für ihren Betrieb verantwortliche Priesterkasten voraus, die als Replikatoren der Kultur fungierten. Die Architekten verfügten offensichtlich bereits über geometrisches Wissen und planten die Anlagen mit Hilfe geometrischer Muster.(5) Eindrücke von der Anlage und von Ausgrabungen vermittelt ein Youtube-Clip des WDR: Der erster Tempel der Menschheit - Göbleki Tepe.  
 
Von 1995 bis 2014 leitete der deutsche Archäologe Klaus Schmidt die Grabungen am Göbleki Tepe. Vor Schmidt galt als Paradima, dass aus der Landwirtschaft und durch sie produzierten Überfluss an Lebensmitteln Arbeitsteiligkeit resultierte und erst diese Monumentalbauten und religiöses Leben hervorbrachte. Schmidt stellte das Wissen über die Neolithische Revolution auf den Kopf. Er deutete den Komplex als "Nullpunkt der Geschichte" bzw. als Startpunkt der Neolithischen Revolution und verstand Göbleki Tepe ausschließlich als Kultplatz. Mit dieser Auffassung erlangte die Fundstätte am Göbleki Tepe eine vermeintlich herausragende Bedeutung für die menschliche Kulturgeschichte und damit den Status einer UNESCO-Welterbestätte, die im vergangenen Jahr 850.000 Besucher verzeichnete. Lee Clare, Projektleiter der Grabungen, stellt Schmidts Deutungen in Frage. Aktuelle Grabungsfunde stützen die Annahme, dass Göbleki Tepe primär ein Wohnplatz mit einer Infrastruktur öffentlicher Sondergebäude war, deren Bedeutung bisher nicht eindeutig zu klären ist. Göbleki Tepe versteht Lee Clare als Teil eines Netzwerks von Siedlungen. Bewohner seien Jäger und Sammler gewesen, die teilweise mobil und teilweise sesshaft waren. Da mit Sesshaftigkeit Konflikte zunehmen, seien Gemeinschaftsgebäude errichtet worden, die Konfliktlösungen dienten. Der touristische Erfolg der Grabungsstätte hat jedoch bisher einen Paradigmenwechsel der Bewertung verhindert.(6)
 
 
3.2.2 Çatalhöyük 
 
Vor ca. 9500 Jahren entwickelten sich im Fruchtbaren Halbmond wehrhafte jungsteinzeitliche Großsiedlungen mit mehrebenigen Häusern in Lehmziegel-Bauweise und Zugängen über flache Dächer, die Siedlungen nordamerikanischer Pueblo-Kulturen ähneln. Das Leben spielte sich in diesen Siedlungen in der Terrassenlandschaft der Flachdächer ab. Die bisher am besten erforschte Siedlung ist Çatalhöyük, die ca. 1500 - 1800 Jahre (je nach Quelle) bewohnt war und von der bisher 5 % - 10 % (je nach Quelle) archäologisch untersucht sind (UNESCO-Weltkulturerbe seit 2012).(7) In ihrer Blütezeit um 7000 v. Chr. lebten in Çatalhöyük mehrere Tausend Menschen (Schätzungen der Einwohnerzahl variieren je nach Quelle), sodass diese Großsiedlung sicher mehr als ein Dorf war, aber auch keine Stadt, da Straßen und zentrale Einrichtungen fehlten. Wie die Siedlung ausgesehen haben könnte, zeigt ein Clip aus der ZDF-Reihe Terra X: Film-Produktion Stein e.K., Alexander Hogh/Martin Papirowski/Timm Westen/Roxana, Ardelean/Golem Studio Alexander Leuck, Frauenhofer Institut für Graphische Datenverarbeitung, Christofori u. Partner: Catalhöyük: erste Großsiedlung der Menschheit (CC BY 4.0).

Verstorbene wurden in Çatalhöyük in Häusern begraben, in denen sie lebten. Genetische Untersuchungen belegen, dass zwischen den in ihren Häusern bestatteten Menschen keine biologischen Verwandtschaftsbeziehungen bestanden. Anthropologen nehmen an, dass Çatalhöyük sozial egalitär strukturiert war. Die Realisierung egalitärer Strukturen erforderte die Vermeidung dauerhafter privater Eigentums- und Besitzverhältnisse, was mittels Auflösung biologischer Verwandtschaftsbeziehungen durch Austausch von Kindern gelang.(8)
 
Tatsächlich war Urbanisierung so wenig ein revolutionärer Prozess wie Neolithisierung, sondern entwickelte sich in einem Zeitraum über mehrere tausend Jahre auf allen Kontinenten (außer auf Australien und der Antarktis) in weit auseinanderliegenden Regionen, ohne dass Kontakte zwischen Kulturen bestanden. Unabhängig von den ältesten Städten im Fruchtbaren Halbmond und in Anatolien, zwischen denen Verbindungen bestanden, entwickelten sich zeitlich weit vor der Minoischen Kultur und der Mykenischen Kultur nordwestlich des Schwarzen Meeres um 5000 v. Chr. Megastädte der Cucuteni-Tripolje-Kultur mit den Städten Taljanky und Trypillja sowie ab 2800 v. Chr. in der Indus-Kultur mit den Städten Harappa und Mohenjo-Daro. Entgegen der verbreiteten Annahme, dass Megastädte sich nur auf Basis despotischer Strukturen entwickeln konnten, präsentieren Graeber und Wengrow (s.o.) in Kapitel 8, Imaginäre Städte, überzeugende Argumente für die Annahme, dass diese Städte ohne Könige oder Fürsten unter egalitären Regeln demokratischer Selbstverwaltung entstanden. Dominante aristokratische Eliten kamen erst in späterer Zeit auf und verursachten durch Zentralisierung und Eliminierung demokratischer Entscheidungsstrukturen den Untergang dieser Kulturen.(9)   
 
 
3.3 Erfindung von Schrift
 
Voraussetzungen für die Entstehung von Schrift bilden kognitive Kompetenzen, die Fähigkeiten zur Abstraktion, zum symbolischen Denken sowie zur Entwicklung von Sprache hervorbringen. Die Entstehung dieser Fähigkeiten verortet Merlin Donald zeitlich spekulativ vor ca. 150.000 Jahren in mythischer Kultur (siehe 2.1). Nach überwiegender Auffassung von Paläolinguisten ist der Sprachursprung (Zeitraum, in dem Menschen lernten, sich sprachlich zu artikulieren) mangels emprisch prüfbarer Hinweise wissenschaftlichen nicht seriös datierbar.
 
Zunehmende Komplexität des Zusammenlebens bewirkte Bedarf für abstrakte Aufzeichnung von Informationen, die bis dahin nur bildhaft festgehalten wurden. Vor ca. 6600 Jahren erfanden Menschen im Gebiet des heutigen China die ersten Schriftsysteme, die als generalisierte Zeichensysteme Aufzeichnungen von Informationen und Bevorratung von Wissen ermöglichen und vielen Menschen zugänglich gemacht werden konnten. In Städten des Fruchtbaren Halbmonds traten vermutlich erstmals vor ca. 6.000 Jahren komplexere Schriftsysteme auf. 
 
Mit der Verschriftlichung von Sprache entstehen externe symbolische Gedächtnisspeicher, die nach übereinstimmender Auffassung von Merlin Donald und Robert Bellah eine Transformation nicht nur kultureller Systeme, sondern auch des menschlichen Bewusstseins bewirken (siehe Kapitel 2.1). Schriftsprache setzt eine von Merlin Donald als theoretische Kultur bezeichnete Entwicklung in Gang, mit der in einer relativen kurzen Zeitperiode externe Wissensvorräte, Wissenschaften und vermittelnde Bildungssysteme entstehen, die Lernprozesse beschleunigen, das Denken von Menschen nachhaltig verändern und kulturellen Wandel dynamisieren.(10) Über performative Sprechakte hinaus, die in Mythen ihre eigene Wahrheit kreieren, etablieren sich mit Hilfe von Schriftsprachen neue Wahrheiten, die Bilder unserer Lebenswelten neu zeichnen.
 
 
3.4 Anfänge von Wissenschaft
 
Mit Sesshaftigkeit, Siedlungen, Vorratshaltung, Arbeitsteiligkeit und Bewässerungssystemen der Landwirtschaft nahm der Bedarf für möglichst exakte Vorhersagen von Naturphänomenen zu. Aus der Naturbeobachtung und dem Erkennen von Gesetzmäßigkeiten entstanden frühe Formen von Wissenschaften, die i.d.R von Priesterkasten oder zumindest unter Kontrolle religiöser Institutionen wahrgenommen wurden. Solange Welt als göttliche Schöpfung und religiöse Schriften als göttliche Offenbarungen galten, die nicht infrage gestellt werden durften und Abweichungen von religiösen Normen lebensgefährlich waren, fand reguläre Wissenschaft im Rahmen religiöser Institutionen in engen Grenzen statt und war einer kleinen männlichen Elite vorbehalten.
 
Den Durchbruch eines Denken zweiter Ordnung, das sich auf einer höheren Abstraktionsebene kritisch selbst reflektiert, verorten zahlreiche Kulturwissenschaftler in der sogenannten Achsenzeit, die zeitlich parallel ohne wechselseitige Beeinflussung in der frühen griechischen Antike sowie in China, Indien und im Judentum um das Jahr 2500 v. Chr. gesehen wird (siehe 2.1.1, 3.8.5, 3.8.6).

Eine Blütezeit erlebte Wissenschaft ab dem Jahr 825 im Haus der Weisheit in Bagdad, in dem islamische, jüdische und europäische Wissenschaftler antikes Wissen ins Arabische übersetzten und weiterentwickelten. In Bagdad gesammeltes Wissen gelangte nach Cordoba und Toledo in Spanien, wurde dort vom Arabischen ins Lateinische übersetzt und an europäische Zentren weitergereicht. 1258 zerstörten Mongolen das Haus der Weisheit in Bagdad. Im islamischen Kulturraum haben sich Wissenschaften nicht mehr erholt.(11,12) Islamische wissenschaftliche Zentren Spaniens zerstörte die Reconquista im Interesse der Kirche, aber nach Europa infiltriertes antikes Wissen entfaltete Wirkung.(13,14)


3.5 Wissenschaftliche Revolution

In Europa sammelte sich antikes und arabisches Wissen insbesondere im heutigen Italien. Soziale und politische Strukturen städtischer Republiken boten relative Freiheiten, die eine Wiederbelebung antiken Wissens ermöglichten und einen als Renaissance bezeichneten Epochenumbruch auslösten. Um das Jahr 1500 begann unter Berücksichtigung religiöser Dogmen und Befindlichkeiten eine kritische Auseinandersetzung mit der Tradition, die sich dank Johannes Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks schnell ausbreitete, aber zunächst nur eine naturwissenschaftliche Revolution auslöste.(15)

Kritik an traditionellen Überzeugungen richtete sich nicht gegen die Kirche, sondern wollte die Kirche vor schweren Irrtümern schützen. Die Kirche war jedoch nicht bereit, Fehler und Irrtümer einzugestehen. Sie hielt an traditionellen Lehrmeinungen fest und verurteilte von kirchlicher Lehre abweichende Meinungen als Häresie und Ketzerei, sodass Vertreter solcher Meinungen in die Zuständigkeit von Inquisitionsverfahren fielen, die im Interesse der Reinhaltung des Glaubens in Geheimverfahren vor allem vorreformatorische sektiererische Glaubensrichtungen bekämpften.(16)

Von der Inquisition in Schach gehaltene ehemals kleine Gruppen kritischer Wissenschaftler wären möglicherweise unbedeutend geblieben, wenn nicht Reformation und Gegenreformation schwere religiöse, kirchen- und machtpolitische Krisen ausgelöst hätten, als deren Folge sich Wissenschaft aus der religiösen Umklammerung lösen konnte.

Theologische Argumentation auf Seiten der katholischen Kirche blieb gegen die bald schon politisch und institutionell etablierte Reformationsbewegung erfolglos. Auf Einzelpersonen und kleinere Gruppen ausgelegte Inquisitionsverfahren waren mit der Bekämpfung der Reformation überfordert. Daher entwickelte die katholische Kirche mehrere Strategien von Gegenmaßnahmen, die der Begriff der Gegenreformation bündelt. Neben innerkirchlichen Reformen, Missionierung, Diplomatie und politischer Repression sollten barocker Kirchenbau und Förderung von Marienverehrung als Propagandastrategie zur Rekatholisierung beitragen.(17)

‚Weiche‘ Maßnahmen konnten die Reformationsbewegung nicht aufhalten, weil Autoritätsverlust der Kirche und veränderte religiös begründete soziale Deutungsmuster die Bevölkerung zu Aufständen gegen Unterdrückung und Ausbeutung motivierten. Kirchliche Machtpolitik setzte auf den Feudaladel, der Religion und kirchliche Institutionen für eigene machtpolitische Interessen instrumentalisierte. Der Feudaladel wollte Bedrohungen seiner abgehobenen politischen und sozialen Stellung abwehren und Chancen für Ausdehnungen seiner Machtsphäre realisieren. Politische Gewaltstrategien der Koalition von Kirche und Adel entfachten in zahlreichen europäischen Ländern Religions- und Befreiungskriege, die zahllose Menschen mit ihrem Leben bezahlten.(18)

Gegen Widerstand der katholischen Kirche spaltete sich die institutionelle Kirche. In Deutschland sammelten sich aufklärerische Wissenschaftler in toleranten protestantischen Fürstentümern. Aufgeklärte Wissenschaftler waren keineswegs religionsfeindlich gesinnt, aber sie trennten Wissenschaft von Religion und bewirkten über Jahrhunderte eine Säkularisierung von Wissenschaften. Im 19. Jahrhundert beschleunigten zahlreiche Erfindungen und technologische Innovationen die Dynamik des sozialen und kulturellen Wandels in bis dahin nicht bekannten Dimensionen.(19)



3.6 Verwissenschaftlichung der Welt

Innerhalb von ca. 400 Jahren zerstörte die kognitive Revolution eine ehemals als göttlicher Wille angenommene, vermeintlich harmonische Ordnung der Welt. Harmonie der Welt gilt nicht länger als göttliches Schauspiel himmlischer Harmonie, wie sie noch Johannes Kepler (1571-1630) angenommen hat. Ehemals religiös begründete Programme von Menschenrechten lösen sich als universelles Naturrecht von ihrer religiösen Basis.(20) Der Historiker Heinz Schilling (*1942) stellt in mehreren Veröffentlichung dar, wie die Kirchenspaltung durch die von der Reformation ausgelösten Konfessionalisierung der christlichen Religion zur treibenden Kraft des neuzeitlichen Europas wurde.(21)

In der Gegenwart betrachten wir einen von Religion und ihren Institutionen nicht ver- oder behinderten Wissenschaftsbetrieb als selbstverständlich. Tatsächlich breitete sich die Verwissenschaftlichung der westlichen Welt erst ab dem frühen 20. Jahrhundert aus. Nachdem sich Wissenschaft von Religion abgespalten hat, Religion an Sphären privater Überzeugungen und Entscheidungen verwiesen ist und religiös-fundamentalistische Überzeugungen marginalisiert sind, professionalisierte sich der Wissenschaftsbetrieb.(22) Er etablierte spezialisierte Fachbereiche und entwickelte Methoden und Standards, die kritische Prüfungen von Ergebnissen wissenschaftlicher Arbeit gestatten und selbst einer permanenten Verbesserung unterliegen.(23)

Auf dem Weg der Verwissenschaftlichung hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass Wissenschaft keine Wahrheiten im Sinne absoluter Erkenntnisse aufdeckt, sondern als Forschungswerkstatt zu verstehen ist, die Erkenntnisse über neuartiges Wissen produziert. Erkenntnisse sind relativer Art und können Irrtümer beinhalten. Wissenschaftlichkeit beruht nicht auf dem Wahrheitsgehalt von Erkenntnissen. Forschungen und Forschungsergebnisse beanspruchen Wissenschaftlichkeit, wenn sie von der Forschergemeinde festgelegte methodische Kriterien erfüllen und der Wert von Erkenntnissen auf Prüfständen der Vergleichbarkeit vermessen ist. Objekte, Methoden und Metriken von Forschungen kommen unter vielfältigen Einflüssen als Vereinbarungen zustande. Strittige Diskussionen sind in der Forschergemeinde üblich und gelten als Treiber wissenschaftlicher Erkenntnis. 


 

3.7 René Girards Theorie der Evolution von Kultur als Transformation von Gewalt 

Der französische Literaturwissenschaftler, Kulturanthropologe und Religionsphilosoph René Girard (1923-2015) entwickelte aus der Analyse von Mythen, literarischen Quellen und religiösen Texten eine ebenso interessante wie umstrittene erweiterte mimetische Theorie der Evolution von Kultur, die weitreichende kulturanthropologische Annahmen impliziert. Nachfolgend skizziert dieser Post einige Kerngedanken der Theorie anhand von zwei Wikipedia-Artikeln: René Girard, Mimesis 

Lernprozesse im Sinne aneignender Nachahmung (Mimesis) sind biologische Mechanismen, die sich nicht auf Menschen beschränken. Aus Mimesis entsteht rivalisierendes Verhalten, das Konflikte erzeugt, die durch Dominanz und kulturelle Mechanismen eingedämmt werden. Girards Ausgangshypothese besagt, dass mit wachsender Gehirnmasse und zunehmender kognitiver Kapazität eine Steigerung aggressiven Verhaltens einhergeht, die zunächst keine kulturelle Evolution, sondern eine Gewalteskalation bewirkt, die Dominanz nicht mehr einzudämmen vermag.

Nachahmungsverhalten (von Girard als Mimesis bezeichnet) versteht Girard als Ursache zwischenmenschlicher Konflikte, die im Zusammenleben von Menschen unvermeidbar sind und mit zunehmender kognitiver Kapazität eskalieren: „Dieses Verhalten stiftet Rivalität, Neid und Eifersucht, ist ansteckend, wird von allen Mitgliedern der Gruppe mitgetragen und führt zu raschen Gewalteskalationen, in denen das ursprüngliche Objekt keine Rolle mehr spielt: sie werden lediglich durch das Imitieren des Anderen in Gang gehalten.“(24)

Girard weist dem mimetischen Verhalten eine über lernende Aneignung und künstlerischer Nachahmung hinausweisende Bedeutung zu, indem er Verhaltensdispositionen wie Neid, Eifersucht, Missgunst, Egoismus, Rivalität als anthropologische Konstanten auffasst und aus ihnen vermeintlich kausale Wirkungszusammenhänge ableitet. Gemäß Girard begehren Menschen prinzipiell das, was andere Menschen begehren oder bereits besitzen. Erst das Begehren knapper Güter macht diese Güter für Menschen wertvoll. Verhalten, das sich daran orientiert, was andere Menschen begehren, bezeichnet Girard als mimetisches (nachahmendes) Begehren, das er als kausale Quelle von Konflikten, Hass und Gewalt identifiziert.

Diese Verhaltensdispositionen sind keine Erfindung Girards, sondern sozialpsychologisch profund erforschte und vielfach bestätigte Sachverhalte. Girards mimetische Theorie geht jedoch über Verhaltenspsychologie weit hinaus, wenn er Gewalt-Mimesis und deren Überwindung als Treiber evolutionärer Prozesse der Hominisation annimmt. Kulturelle symbolische Zeichensysteme (Bilder, Riten, Sprache, Mythen, Schrift) und kulturelle Institutionen (Religion, Verwandtschaftssysteme, sakrales Königtum) versteht Girard als Mechanismen, die entstanden sind, um Gewalt-Mimesis kontrollierend einzuhegen und um damit kollektive Selbstzerstörung zu verhindern. Den Prozess der Hominisation versteht Girard als Überwindung dieser Krise durch Symbolisierung von Gewalt mittels Zeichensystemen.

Ein zentrales Kernelement in Girards Argumentation bilden Opferriten, die Girard entgegen verbreiteter soziologischer Auffassung (siehe Kapitel 3.7.1) versteht.(25) Girard postuliert Opferriten als ein Ritual der Entlastung, das sich im Sündenbock-Mechanismus manifestiert. Opferriten deutet Girard als kulturellen Mechanismus, der kollektive Schuld auf Einzelpersonen überträgt, die für das durch mimetisches Begehren entstandene Chaos als vermeintlich Verantwortliche in heiligen Opferriten getötet werden, um die Gruppe zu entlasten und zu befrieden. Aus diesem Kontext erklärt Girard die Entstehung archaischer Religionen, in deren Zentrum das Ritualopfer steht. Den mythisch gerechtfertigten kollektiven Mord versteht Girard als universelles kulturstiftendes Ritual.(26) 
 

3.7.1 Gabentausch, Opferriten und symbolische Gewalt

Soziologisch werden seit Marcel Mauss (1872-1950) Motive für rituelle Opfergaben als eine spezielle Ausprägung des Prinzips des do ut des bzw. des Tit for Tat aufgefasst, das individuelle Nutzenkalküle mit einer universellen sozialen Norm fairer Gegenseitigkeit (Reziprozität) verknüpft (ich gebe, damit du gibst und erwarte einen gleichwertigen Ausgleich).(27,28) Die universelle Gültigkeit des Do-ut-des-Prinzips ist beim Austausch von Waren und Leistungen in Face-to-Face-Beziehungen symmetrischer Interaktionen nicht nur bei positiver (balancierter) Reziprozität (freundlicher, symmetrischer Austausch), sondern auch bei unfairer negativer Reziprozität (Nutzenmaximierung auf Kosten anderer) unmittelbar evident.(29) Diese von Spieltheorie empirisch nachgewiesenen strategischen Grundprinzipien menschlichen Verhaltens bilden die Grundlage von Strafprozessordnungen, die Bestrafungen unfreundlichen Verhalten vorsehen.

  • Der Gabentausch (Übergabe von Geschenken) wird gegenüber dem einfachen Tausch als eine spezielle Art des Tauschs mit erweiterten sozialen Normen verstanden. Trotz scheinbarer Freiwilligkeit verknüpft Gabentausch die dreifache Verpflichtung des Gebens, des Nehmens sowie der Erwiderung mit zeitlich verzögerter Reziprozität und erzeugt damit nicht nur gegenseitige Verpflichtungen zwischen Schenkendem und Beschenktem, sondern er stellt über zeitliche und räumliche Distanzen hinweg sozialen Zusammenhalt außerhalb familiärer Verbände her.
  • Marcel Mauss versteht den Gabentausch als elementare Urform des Handels, aus der ökonomische Strukturen entstanden sind.(30) Der reziproke Gabentausch enthält kein Gewinnstreben, als einleitenden Ritus macht er jedoch den ökonomischen Tauschhandel möglich.
  • Über Tauschhandel hinaus transferieren Gaben aufgrund der zeitlichen Verzögerung symbolisch soziale Absichten (Friedlichkeit, Kooperationsbereitschaft, Vertrauensvorschuss, Fairness), die das Zusammenleben von Menschen und ihre Interaktionen organisieren, eine Schenkökonomie etablieren und im Ergebnis Kultur generieren.(31,32) 

Gemäß dem Verständnis des Gabentauschs zwischen Menschen gelten Opferriten als Variante des Gabentauschs im Verhältnis von Menschen zu Göttern. Göttern wird geopfert, weil das Opfer zu einer Gegengabe bzw. Leistung verpflichtet, die gemäß kollektiver Überzeugungen dank Opfer zustande kommt. 

Gabentausch, Opferriten und viele andere Riten der Gegenwart reichen weit in menschlicher Kulturgeschichte zurück. Riten ändern sich langsam, sie sind aber nicht starr. Details ritueller Handlungsmuster und ihre symbolischen Bedeutungen können mit kultureller Dynamik variieren, wie Opferriten im Übergang von Stammeskulturen zu archaischen Kulturen exemplarisch zeigen:

  • Im Übergang zu archaischen Kulturen findet eine soziale Ausdifferenzierung und Stratifizierung statt, mit der ehemals überwiegend egalitäre soziale Strukturen an Bedeutung einbüßen und hierarchische Strukturen als vermeintlich universelle Ordnungsprinzipien etabliert werden. Diese Ausdifferenzierung hat totalen Charakter, d.h. sie betrifft alle kulturellen Sphären. Hierarchische Strukturen rechtfertigen asymmetrische Verteilungen von Eigentum, Macht, Bildung, Arbeitsleistungen sowie Privilegien aller Art und bewirken die Aufspaltung von Kulturen in Hochkultur und Subkulturen. 
  • Gegenüber egalitär denkenden Menschen resultieren aus dieser Umformung Legitimationskrisen der herrschenden Elite. Diese begegnet der Krise mit Ausdifferenzierung ehemals egalitär zelebrierter Opferrituale und verschafft sich auf diesem Wege Kontrolle über soziopolitische Deutungsmuster. Während die gemeine Bevölkerung weiter ihre traditionell ahnenfokussierte, auf Fruchtbarkeit, Gesundheit und Glück abzielenden Opferrituale zelebriert, erklärt sich die herrschende Elite zu Angehörigen von Göttern und monopolisiert den Zugang zu den mächtigsten Göttern. Rituale, die vermeintlich Einfluss auf Kriege, Regen, Ernten oder die kosmische Ordnung nehmen, sind für die gesamte Gemeinschaft relevant, bleiben aber der herrschenden Elite oder einer von ihnen angeführten Priesterkaste vorbehalten. 
  • Diese Rituale finden meistens demonstrativ vor den Augen der Bevölkerung im Kontext öffentlicher Feste statt. Die Bevölkerung ist lediglich Zeuge einer per Ritual vollzogenen Machtdemonstration und gleichzeitig egalitärer Teilnehmer des Festes. Die Einbindung von Ritualen der Elite in öffentliche Festlichkeiten demonstriert symbolisch sowohl die Spaltung zwischen Elite und ordinärer Bevölkerung als auch die kulturelle Einheit. Die mythisch gerechtfertigte Choreographie dieser Rituale symbolisiert eine kosmische Ordnung, in der sich dank sozialer Schichtung alle am richtigen Platz befinden. Vermeintlich für die Aufrechterhaltung der kosmischen Ordnung zwingend zu erbringende rituelle öffentliche Opfermorde symbolisieren, dass Machtbefugnisse einer gottgleichen oder gottähnlichen herrschenden Elite das Leben und den Tod von Menschen einschließen.(33)

Erklärungen der Entstehung von Kultur durch Transformation von Gewalt sind ebenfalls keine Erfindung Girards, sondern gehen auf Sigmund Freuds (1856-1939) Theorien zurück, in der Freud das Seelenleben der Wilden scheinbar plausibel mit psychoanalytischem Besteck der Behandlung von Psychopathologien seziert.(34) Freuds und Girards Erklärungen erleiden das gleiche Schicksal: sie scheitern. Sie sind jedoch nicht wertlos, weil sie Perspektiven jenseits des Mainstreams aufzeigen, den wissenschaftlichen Diskurs befeuern und Fragestellungen wissenschaftlicher Programme inspirieren.(35)

Einem auf empirischer Überprüfbarkeit basierendem Wissenschaftsverständnis halten Freuds und Girards Theorien nicht stand. Geschlossene Systeme zirkulär argumentierender Theorien, die nahezu alles erklären und empirisch nicht widerlegbar sind, gelten im strengen wissenschaftlichen Sinn als Pseudo-Erklärungen, die letztlich nichts erklären. Daher verwundert nicht, wenn Girards mimetische Theorie in philosophischen Kreisen ignoriert wird und in der wissenschaftlichen Welt überwiegend auf Ablehnung stößt, aber in theologischen Kreisen positive Resonanz findet. Noch stärker ist die Beachtung im Silicon Valley, quasireligiöses Mekka der digitalen Welt.(36)

Robert Bellah hält René Girard auf Distanz und erwähnt ihn in Der Ursprung der Religion (a.a.O.) lediglich ironisch grundiert im Nebensatz einer Fußnote auf Seite 284 des Kapitels, das den Übergang von der Stammesreligion zur archaischen Religion betrachtet: „Wie es scheint, reicht eine Verbindung von Religion und Schrecken weit zurück, aber vielleicht nicht ganz so weit, wie René Girard in seinem ‚Buch Das Heilige und die Gewalt‘ (…) behauptet hat.“ 

 

3.8 Die Entstehung von Religion in Robert Bellahs Theorie kultureller Evolution(37,38) 

Robert Bellah versteht wissenschaftliche Theorien als Narrative, die gemäß vereinbarter methodischer Standards Beobachtungen deuten und Bedingungen von Beobachtungen und Deutungen für Dritte nachvollziehbar machen. Kerngedanken seiner Theorie kultureller Evolution formuliert Robert Bellah in seinem Opus magnum "Der Ursprung von Religion“ nicht immer thesenartig. Aus breit gefächerten Argumenten müssen Leser vermeintlich intendierte Aussagen teilweise selbst extrahieren. Nachfolgende Anmerkungen bilden daher ein Amalgam von Bellah-Statements und eigenem Verständnis ihrer Aussagen.

Biologische, soziale und kulturelle Evolution fasst Robert Bellah systemisch als sich wechselseitig beeinflussende und gegenseitig durchdringende Prozesse auf. Über zeitlich lange Prozessketten entsteht mit der biologischen Evolution soziales Verhalten von Fürsorge und Dominanz.
  • Evolution bedeutet mehr als Mutation, Veränderung, Variation. Evolution umfasst Ausdifferenzierungen, d.h. Erhöhung von Vielfalt und Komplexität. 
  • Kulturelle Evolution bedeutet mehr als die Entwicklung sozialen Verhaltens. Kulturelle Evolution umfasst die Entstehung von menschliches Zusammenleben ordnender symbolischer Zeichensysteme sowie deren ausdifferenzierende Entwicklungen über Zeit. 
  • In Prozessen kultureller Evolution entstehen als Religion bezeichnete symbolische Zeichensysteme. Religionsgeschichte und Geschichte des sozialen Wandels sind eng verknüpfte Ausprägungen von Kulturgeschichte.
  • Die Entstehung von Religion und deren evolutionäre Veränderung versteht Bellah im Kontext kultureller Dynamik, deren Strukturen und sie beeinflussende Treiber Bellahs Theorie identifiziert. Als Religion bezeichnete komplexe Symbolsysteme entstehen mit einem zeitlich und inhaltlich nicht präzise bestimmbaren Grad der Komplexität von Kultur. Bedingungen ihrer Entstehung und Entwicklung beschreibt Bellahs Theorie mit nachvollziehbaren Argumenten, die sich nur rudimentär auf empirische Beobachtungen stützen können.
Erklärungsbedürftig ist, 
  • was Kultur von sozialem Verhalten im Sinne von Fürsorge und Dominanz unterscheidet,
  • unter welchen Bedingungen Kultur entsteht,
  • welche Faktoren den Prozess kultureller Evolution treiben,
  • welche Besonderheiten symbolische Zeichensysteme vom Typ Religion auszeichnen, die sie von anderen symbolischen Zeichensystemen unterscheidet.
Aus Merlin Donalds Modell kognitiver Entwicklungsstufen des Bewusstseins (siehe 2.1.1) leitet Robert Bellah ein Stufenmodell kultureller Evolution ab, das Entwicklungsketten und ihre Veränderungen erklärt. Wie schon bei Donald, löst auch in Bellahs Modell des Prozesses kultureller Evolution eine jüngere Stufe keine älteren Stufen vollständig ab, sondern fügt bestehenden Kulturmustern neue Muster hinzu. Ältere Muster können verblassen, aber sie verschwinden nicht. Sprache, Literalität und Wissenschaft lösen Mimesis, Spiel, Bildzeichen, Musik, Tanz, Riten nicht auf. Verschiebungen und Bedeutungswandel sind möglich, aber "Nichts geht jemals verloren", betont Bellah immer wieder. Selbst rationale säkulare Wertsysteme basieren auf rituell symbolisierter Erfahrung und auf Narrativen (mythischen Erzählungen). Die Entstehung von Religion und deren evolutionäre Veränderung versteht Bellah im Kontext kultureller Dynamik, deren Strukturen und sie beeinflussende Treiber Bellahs Theorie identifiziert. Als Religion bezeichnete komplexe Symbolsysteme entstehen mit einem zeitlich und inhaltlich nicht präzise bestimmbaren Grad der Komplexität von Kultur. Bedingungen ihrer Entstehung und Entwicklung beschreibt Bellahs Theorie mit nachvollziehbaren Argumenten, die sich nur rudimentär auf empirische Beobachtungen stützen können. 
 

3.8.1 Gemeinschaftliches Spiel in episodischer Kultur
 
In episodischer Kultur entsteht gemeinschaftliches Spiel höherer Säugetierarten, das Bellah als entscheidenden Katalysator für die Entstehung von Kultur identifiziert. Spiel findet auf zwei miteinander verknüpften Ebenen statt: Transzendenz und Immanenz.
  • Im Spiel entstehen und verfestigen sich wiederholbare Muster von Tätigkeiten, die transzendente Bedingungen für positive Selbsterfahrungen darstellen.
  • Jenseits als Arbeit empfundener zweckorientierter Tätigkeiten erzeugt Spiel mit Worten nicht vollständig beschreibbare immanente positive Emotionen wie Flow, Glück, Lust, Selbstvergessenheit etc.. Spielerische Aktivitäten wie Sport, Sex, Singen, Tanzen, Musizieren, Malen, Basteln, Dichten, kreatives Schreiben etc. können durchaus große Anstrengungen und ausdauernde Übungen erfordern. Trotzdem empfinden Menschen diese Aktivitäten nicht als Last, sondern als Belohnung und Bereicherung. Dem Lebensunterhalt dienende Feldarbeit ist Arbeit. Gartenarbeit ist Spiel.(39)
  • An der Erzeugung von Gefühlen spielerischen Wohlbefindens, die über dem emotionalen Durchschnittspegel liegen, sind wahrscheinlich fließende oder auch rhythmische Bewegungsmuster beteiligt, wobei Bewegung aus Muskel- und Gedankentätigkeit oder aus einer Kombinationen davon bestehen kann. 
  • Meditation (Ausschalten des Gedankenflusses), Kontemplation, innere Einkehr und vermutlich auch Gebete können ebenfalls Gefühle des Wohlbefindens erzeugen. Sie sind aber kein Spiel, weil sie Wohlbefinden nicht aus hochgeregelten emotionalen Amplituden beziehen, sondern aus einem komplementären Muster, bei dem Wohlbefinden aus Gefühlen der inneren Balance und der Ruhe entsteht. Diese Aktivitäten können Menschen nur für sich alleine betreiben, d.h. es fehlt die soziale Komponente. Bei der rituellen Ausübung religiöser Aktivitäten in Gemeinschaften (Gottesdienste, Gesänge, Gebete etc.) werden diese Aktivitäten mit spielerischen Elementen angereichert.
  • Menschen können alleine spielen. Manche Spiele sind nur alleine möglich. Einige Spiele sind auch in der Gemeinschaft oder erst in der Gemeinschaft mehrerer Menschen möglich. Interaktive Spiele mit mehreren Beteiligten erzeugen Wechselwirkungen. Im gemeinschaftlichen Spiel teilen Menschen gleichartige emotionale Erfahrungen, die Sympathien erzeugen und Bindungsgefühle herstellen oder gegenteilige Emotionen der Abgrenzung und Feindschaft provozieren. Diese Emotionen teilen nicht nur aktive Teilnehmer des Spiels, sondern sie schließen Zuschauer ein, wenn sie sich mit den Akteueren identifizieren. Emotionale Reaktionen auf Seiten von Zuschauern erzeugt Rückwirkungen auf Seiten der Akteure.   
 
3.8.2 Entstehung von Riten und symbolischer Kommunikation in mimetischer Kultur

Damit Gruppen von Individuen jenseits von Aufgaben und Techniken des Überlebens gemeinsam spielen können, müssen sie Regeln etablieren und befolgen. Miteinander spielende Individuen erleben Wir-Gefühle, die über Spiele hinausreichen und Vertrauen erzeugende Empfindungen kollektiver Zusammengehörigkeit ermöglichen, die kooperatives Verhaltens in sozialen Verbänden generalisieren. In Spielen entsteht mimetische Kommunikation mittels Mimesis, Gestik, Tanz. Durch Nachahmung erlernte symbolische Bewegungsmuster erlangen kollektiv verständliche symbolische Bedeutungen, die die Kommunikation von Bedürfnissen intensiviert und ein gemeinsames Verständnis mimetisch kommunizierter Bewusstseinsinhalte ermöglicht. In mimetischer Kultur entstehen Sprache und Musik wahrscheinlich aus gemeinsamen Ursprüngen.


3.8.3 Entstehung von Sprache, Narrativen, Religion in mythische Kultur

Mit Sprache, Musik und der Intensivierung gemeinschaftlicher Rituale entsteht mythische Kultur, die sich von mimetischer Kultur durch Aneignung von Welt mittels Narrativen unterscheidet. Aus Motorik (Bewegung, Handlung, Taten) und rudimentären Regeln entwickeln sich in mythischer Kultur Handlungsziele im Sinne von Motiven und Konstrukte von Ideen, die als Narrative kommuniziert werden (siehe 2.1.1).
 

Mit zunehmender sozialer Komplexität verstärkt sich der Bedarf an sozial integrierenden Riten und Mythen. Aus diesem Bedarf wachsen in unterschiedlichen Ausprägungen narrative Konstrukte, die ordnungsstiftende soziale Funktionen kollektiver und individueller Sinngebung bedienen. Derartige narrativen Konstrukte werden als Urreligionen aufgefasst bzw. als mit Sinnhaftigkeit geladene Systeme symbolischer Welt-Repräsentation.(40)


Urreligionen verknüpfen mittels Ritualen und Erzählungen sinnstiftende Vorstellungen einer universellen Ordnung, die kollektives Wissen fixiert und richtungsweisend auf individuelle Handlungsmotive einwirkt. Urreligionen entstehen nicht beabsichtigt, sondern zwangsläufig mit zunehmender sozialer Komplexität und verhelfen  zur Bewältigung von Komplexität. Urreligionen bedürfen keiner Begründung, kennen keine Priester und benötigen keine festen Kultplätze.
 
In langer Kulturgeschichte von Stammeskulturen ist das Zusammenleben von Menschen auf familiäre Verbände beschränkt, die bis zu 200 Mitglieder umfassen und in Face-to-Face-Beziehungen relativ egalitär organisiert sind. Egalitarismus der sozialen Ordnung musste nicht diskutiert, erkämpft oder verteidigt werden, weil er im kollektiven (Unter-) Bewusstsein von Stammeskulturen das einzige und damit ein quasi-natürliches universelles Ordnungsmuster darstellte, das Kooperation möglich machte. 


3.8.4 Entstehung sozialer Hierarchien und komplexer Symbolsysteme in archaischer Kultur

Landwirtschaftliche Produktionsweise, Überschussproduktion und Vorratshaltung ermöglichen verdichtetes Zusammenleben einer größeren Anzahl von Menschen in verstärkt arbeitsteiliger Organisation. Unter diesen Bedingungen errichteten kooperierende Stammeskulturen gemeinsam bedeutende Kultplätze, deren Bedeutung unsicher ist. Vermutlich trafen sich dort Menschen an jahreszeitlich auftretenden Stichtagen wie Sommer- und Wintersonnenwende, um nicht überlieferte Rituale zu veranstalten. Die Errichtung dieser Kultplätze und die Organisation solcher Großveranstaltungen lässt vermuten, dass besondere Fähigkeiten und seltenes Wissen einige charismatische Personen zu Führungspersönlichkeiten befähigte. Möglicherweise haben diese Personen ihnen anvertraute Führungsaufgaben zunächst nur temporär ausgeübt und allmählich zu Vollzeitaufgaben ausgebaut.

Damit die Gemeinschaft Fähigkeiten von Führungspersonen nutzen konnte, stellte sie Führungspersonen von gemeiner Arbeit frei und sicherte deren Versorgung. Mit dieser Entwicklung veränderte sich die ehemals horizontale Sozialstruktur von Stammeskulturen zur vertikalen Sozialstruktur archaischer Kulturen, an deren Spitze sich eine aristokratische Machtelite etablieren konnte, die ehemals egalitäre Ordnungen von Stammeskulturen durch hierarchische Sozialstrukturen ersetzte und ursprünglich als rituelle Kultplätze errichtete Anlagen zu Herrschaftssitzen erweiterte. Aus Herrschaftssitzen einer aristokratischen Elite entwickelten sich Städte und frühe Stadtstaaten.(41) Städte und Stadtstaaten besetzten nur ein beschränktes Territorium. Zu ihrer Versorgung benötigten sie ein ländliches Umfeld, das Überschuss erwirtschaftete, den Zwangsabgaben abschöpften. 


In archaischen Kulturen trifft hedonistische Monopolisierung von Macht durch eine aristokratische Elite auf im kollektiven Gedächtnis nicht-aristokratischer Bevölkerung verankerten universalistischen Egalitarismus. Die Unvereinbarkeit der beiden Ordnungsmuster erzeugt zwangsläufig Legitimationskrisen der aristokratischen Machtelite. Da eine von Zwangsabgaben parasitär lebende aristokratische Elite nicht alleine existieren kann, muss sie Legitimationskrisen entschärfen. Dieser Kontext macht in archaischer Kultur auftretende Veränderungen von Symbolsystemen und die Entstehung neuer kultureller Symbolsysteme verständlich. 
  • Umformungen von religiösen Symbolsystemen dienen der Legitimierung der aristokratischen Machtelite. Sie gehen einher mit der Entstehung von Theologie und Priesterkasten, die universelle Deutungsmuster universeller und soziopolitischer Ordnungen monopolisiert und Macht aristokratischer Eliten sakralisiert. Archaische Kulturen sind von Heroen und Heroinen mit göttlicher Abstammung geprägt, wie sie z.B. Homer (vermutlich um 850 v. Chr.) in der Ilias u.a. als Agamemnon, Achilleus, Odysseus etc. keineswegs unkritisch beschreibt. Indem sich eine aristokratische Machtelite zu Angehörigen von Göttern erklärt und den Zugang zu den mächtigsten Göttern sowie zu gemeinschaftlich bedeutenden sakralen Ritualen exklusiv sich oder einer von ihnen angeführten Priesterkaste vorbehält, legitimiert sie asymmetrische soziale Strukturen zum eigenen Nutzen (siehe auch 3.7.1).
  • Kriege mit benachbarten Machtzentren entwickeln sich seit archaischer Kultur bis heute zu bedeutenden politischen Instrumenten der Ausübung und Festigung von Macht. Kriege dienen nicht nur Erweiterungen von Machtsphären. Im Erfolgsfall glorifizieren sie Anführer und ihre Politik, legitimieren Herrschaft und schrecken Konkurrenten ab.   
  • Die Kriegspolitik von Machtzentren zwingt zur Befestigung von Städten, verringert die Mobilität von Menschen und erhöht den Leistungs- und Abgabendruck auf die produzierende gemeine Bevölkerung. 
  • Permanente Ausbeutung und Kriegszustände bürden der produzierenden gemeinen Bevölkerung schwer zu ertragende Lasten auf. Unzufriedenheit provoziert auf Machteliten einwirkenden Veränderungsdruck.
    • Entlastung schaffen Ventil-Sitten, die in ritualisierten temporären Ausnahmesituation unter dem Schutz von Maskeraden Ordnungsumkehrungen zulassen, soziale Ungleichheit vorübergehend unsichtbar machen und Zustände ohne Sitte und Anstand nicht strafend sanktionieren. Diese scheinbar jeder Ordnung widersprechenden Riten sind nicht zerstörend und stellen bestehende Ordnungen nicht in Frage, sondern wirken im Gegenteil erneuernd.
    • Taylor erwähnt ein Verständnis dieser Riten (Taylor, a.A.O., S. 87), gemäß dem Ordnung ein Urchaos fesselt. Durch ‚Normalität‘ des Alltagszustands nimmt jedoch die für die Herstellung von Ordnung erforderliche Kraft auf Dauer ab, weshalb sie durch temporäres Chaos periodisch erneuert werden muss. Eine andere Deutung nimmt an, dass die Verspottung einer der Gemeinschaft dienenden Ordnung Erinnerungen an einer egalitären Gemeinschaft der Gleichen erneuert.
    • Aus Sicht der Eliten zeigen diese Umkehrungen von Ordnung ein Bild der sündigen Welt und legitimiert ordnungsstiftendes Handeln von Eliten (Taylor, a.a.O., S. 156).
 Taylor vertritt die Auffassung, dass diese Sitten auch darum zugelassen waren, weil sie zum Gleichgewicht der sozialen Welt gehören und dieses Gleichgewicht stabilisieren (Taylor, a.a.O., S. 216f.). Ordnungsstrukturen können sich nur dort bewähren, wo auch Unordnung besteht. 
    • Taylor nimmt an, dass komplementäre Gegensätze und widersprüchliche Prinzipien ehemals als zu verkraftende Merkmale von Welt betrachtet wurden. Die Annahme, dass Ordnung und Chaos sich komplementär ergänzen, geht lt. Taylor in Eliten der Neuzeit verloren und wird von kompromisslose Ordnungsvorstellungen ersetzt (Taylor, a.a.O., S. 217f.). Im 18. Jh. setzt die Zähmung der Bevölkerung ein (Taylor, a.a.O., S. 218) und mit ihr Ordnung der Natur gestaltender Anthropozentrismus (Taylor, a.a.O., S. 226f.). 
    • Unter tyrannischer Herrschaft etablieren sich öffentlich veranstaltete Festspiele, die aus der griechischen Antike als Agone und Dionysien und als römische Saturnalien überliefert sind und wahrscheinlich auch in anderen Kulturen bestanden, aber keine Spuren hinterlassen haben.(42) Protagonisten verfeindeter Stadtstaaten verglichen und bekämpften sich in sportlichen und musischen öffentlichen Wettkämpfen. Dramatische Inszenierungen klagten in großen Theatern soziale und politische Missstände an, ohne dass diese abgestellt wurden. Gleichzeitig dienten diese Inszenierung der Unterhaltung und Belustigung. Neue Riten großer Festveranstaltungen tolerieren oder verlangen gewöhnlich nicht gestattetes anarchisches Verhalten als Ausnahmen. Parallelen zu ähnlichen Veranstaltungen der Gegenwart sind nicht zu übersehen und treten nicht zufällig, sondern als kulturgeschichtlich verankerte Mechanismen von Spannungsbewältigung  auf.
  • Da die aristokratische Elite außerhalb kriegerischer Aufgaben keiner Arbeit nachgeht und von gewöhnlichen Aufgaben der Lebensbewältigung weitgehend befreit ist, beschäftigt sie sich mit eigenem Amusement sowie mit sportlichen und musischen Spielarten, sodass eine sich von Alltagskultur deutlich absetzende und ständig verfeinernde Hochkultur entsteht.
  • Die Freiheit der Beschäftigung mit sich selbst und mit der eigenen Kultur begünstigt innerhalb von Eliten die Entstehung kritischen Denkens einer intellektuellen Elite von Propheten und Philosophen. Diese propagieren universelle ethische Prinzipien der Egalität, gerechter Herrschaft sowie einer individuellen Lebensweise gemäß dieser Prinzipien. Mit ihrer Kritik der bestehenden Ordnung provoziert die intellektuelle Elite Krisen archaischer Kulturen. In der Renaissance beginnt ein Bruch zwischen Eliten und Volkskultur, aus dem sich die Entzauberung der Welt und mit ihr Humanismus entwickeln, die eine Neuordnung der Welt bewirken (Taylor, a.A.O., S. 156f.).

3.8.5 Verdrängung archaischer Kultur in der Achsenzeit

Der Durchbruch ethischen und rationalen Denkens zweiter Ordnung löst den Umbruch der Achsenzeit aus (siehe 2.1.1.). Umbrüche der Achsenzeit relativieren Herrschaftsordnungen archaischer Kulturen. In der Achsenzeit entstehen Systeme monotheistischer Weltreligionen, die ebenso wie der Buddhismus im kollektiven Gedächtnis verankerten universalistischen Egalitarismus erneuern. Auf die Achsenzeit geht vermutlich die Idee der Transzendenz zurück als einer räumlichen Trennung zwischen dem Weltlichen und dem Göttlichen, durch die ein Gotteskönigtum nicht mehr möglich ist und seitdem sich auch Herrscher gegenüber göttlichen Weisungen rechtfertigen müssen.
 
Die Entstehung rationalen Denkens und ethischer Prinzipien gefährdet tendenziell Selbstverständnis und Monopole aristokratischer Eliten. Dank des theologischen Monopols der Eliten ermöglicht die Aufspaltung von Lebenszusammenhängen in profane Alltagskultur einerseits sowie sakrale religiöse Kultur andererseits eine Rückkehr von universalistischem Egalitarismus, der jedoch auf sakrale Kultur und in dieser auf transzendente Sphären beschränkt bleibt und soziale Ungleichheit in profaner Alltagskultur politischer Systeme konserviert.


3.8.6 Aufbruch aus der Achsenzeit
 
Mit der Entstehung von Säkularismus und von Vorstelllungen universeller Menschenrechte befreit die Evolution kritisch-rationalen Denkens zweiter Ordnung (siehe 2.1.1) ethische Prinzipien aus der Gefangenschaft in sakraler Sphäre. Entstaatlichung und Entpolitisierung von Religion öffnen neue Räume für sakrale Kontexte, deren Gestaltung traditionellen religiösen Institutionen bisher jedoch kaum gelingt, sodass sie zunehmend an kultureller Bedeutung sowie an Glaubwürdigkeit ihrer Narrative einbüßen. Religiöse Institutionen verharren in Mustern ihres traditionellen Selbstverständnisses, das der Dynamik kultureller Evolution nicht zu folgen vermag, weil Dogmen dieser Institutionen kulturelle Dynamik verhindern und als Frevel verurteilen. Herausforderungen der Gestaltung des individuellen und des kollektiven Lebens erweisen sich in der Gegenwart per Saldo nicht als einfacher, sondern als eher anspruchsvoller.
 
Säkularismus der Moderne ist weder eine Erzählung des Fortschritts noch des Verfalls, sondern aufgrund seiner mythischen Struktur letztlich als alternative Religion aufzufassen. Robert Bellah konnte den Prozess der Säkularisation nicht mehr selbst ausarbeiten. In einem vom The Guardian zitierten Interview äußerste sich Bellah jedoch konform mit Charles Taylors Aussagen zum säkularen Zeitalter.(43)

--------------------------------------

  1. Die Bedeutung von Kultur betrachtet der Post Beobachtung, Theorien, Vermutungen zur Evolution von Kultur und Religion - Teil 1: Basale Konzepte in Kapitel 2: Was ist Kultur?
  2. Wikipedia: Religion, Geschichte der Religion 
  3. Den Prozess der Urbanisierung beschreibt eine lesenswerte Veröffentlichung des britischen Historikers Greg Woolf: Metropolis: Aufstieg und Niedergang antiker Städte, Stuttgart 2022, S. 232. (Originalausgabe: The Life and Death of Ancient Cities. A Natural History, Oxford 2020) 
  4. Wikipedia: Soziokulturelle Evolution, Kultur
  5. Artikel zu Göbekli Tepe:
  6. FAZ: Am Nullpunkt der Geschichte?
  7. FAZ: In einer Stadt ohne Türen
  8. Spektrum: Çatalhöyük: Leben und Sterben mit der Wahlfamilie
  9. Hofmann R, Müller J, Shatilo L, Videiko M, Ohlrau R, Rud V, et al. (2019) Governing Tripolye: Integrative architecture in Tripolye settlements. PLoS ONE 14(9): e0222243.
    https://doi.org/10.1371/journal.pone.0222243
  10. Wikipedia: Geschichte der Schrift

    In den Genuss von Bildung kamen jedoch nur Eliten. Bis zur Einführung der allgemeinen Schulpflicht sollte noch viel Zeit vergehen. Die meisten europäischen Länder führten die allgemeine Schulpflicht erst ab 1919 ein. In Deutschland bestand bis zu den 1960er Jahren Schulpflicht nur für Kinder mit deutscher Staatsangehörigkeit. Asylantenkinder wurden erst nach dem Jahr 2000 schulpflichtig. Wikipedia: Schulpflicht (Deutschland), Schulpflicht
  11. Wikipedia: Wissenschaftsgeschichte, Geschichte der Naturwissenschaften
  12. In der islamischen Welt erlebte Wissenschaft in Samarqand im Zeitraum 1417-1449 eine kurze Blütezeit durch den Timuriden-Fürst Ulugh Beg, ein Enkel Timur Lenks (Tamerlan). Ulugh Beg stellte Wissenschaft über den Glauben und beschäftigte sich vor allem mit Mathematik und Astronomie. Er richtete eine bedeutende Lehranstalt ein und baute ein großes Observatorium. Die Geistlichkeit ließ Ulugh Beg 1449 ermorden und das Observatorium Gurkani Zidsch zerstören. Einer der dort erarbeiteten präzisen Sternenkataloge gelangte nach Europa und wurde erst über hundert Jahre später von Tycho Brahe übertroffen.
    Eigener 
Reisebericht vom 10. Oktober 2018: Reise von Taschkent nach Samarkand
  13. Gemäß Narrativ spanischer Nationalgeschichte begann die Reconquista in Covadonga, wo Pelayo, legendärer Gründer Asturiens, muslimische Truppen im Jahr 722 mit einer christlichen Streitmacht besiegte. In der Gegenwart ist Covadonga ein Wallfahrtsort, den wir 2018 besucht haben. - Fotoserie Covadonga
  14. ZEIT: Die Entstehung der Wissenschaft
  15. Wikipedia: Die naturwissenschaftliche Revolution in der frühen Neuzeit Europas
  16. Wikipedia: Inquisition, Inquisitionsverfahren 
  17. Wikipedia: Reformation, Gegenreformation, Barock
    In der Bretagne trieb diese Propaganda mit umfriedeten Pfarrbezirken kuriose Blüten.

    Fotoserien umfriedeter Pfarrbezirke der Bretagne: Pleyben, Guimiliau, St Thégonnec
  18. Wikipedia: Religionskriege in Europa, Deutscher Bauernkrieg, Hugenottenkriege
  19. Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt: Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009

    Rezension von Friedrich Lenger in H/Soz/Kult: J. Osterhammel: Verwandlung der Welt
  20. Wikipedia: Menschenrechte, Naturrecht, Johannes Kepler
  21. FAZ: Europa und die Kirchen. Wir nützlich doch Häretiker waren
  22. In Kreisen des Islams und des Judentums kämpfen nach wie vor Anhänger religiös-fundamentalistischer Dogmen in globalen Konflikten um Ansprüche auf Deutungshoheit.
  23. Wikipedia: Die Verwissenschaftlichung der Lebenswelt im 20. Jahrhundert, Fundamentalismus
  24. Zitat Wikipedia: René Girard
  25. Wikipedia: Opfer (Religion)
  26. Literaturkritik.de: Sündenböcke als Kulturstifter
  27. Das Prinzip des do ut des gilt als universelle soziale Norm, aus der sich das Vertragsrecht entwickelt hat. Wikipedia: Do ut des
  28. Ob neben auf Eigennutz ausgerichtetes Handeln auch als Altruismus bezeichnetes uneigennütziges Handeln zum Repertoire menschlicher Handlungsmotivation zählt, wird in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen kontrovers diskutiert (Wikipedia: Altruismus).
  29. Gertrud Seiser und Elke Mader, Theoretische Grundlagen der Ökonomischen Anthropologie: 4.3.3.1.1 Formen der Reziprozität nach Sahlins  
  30. Marcel Mauss: Die Gabe. Die Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften. Übersetzung Eva Moldenhauer, Frankfurt 1968 
Original: Essai sur le don. Forme et raison de l’échange dans les sociétés archaïques. In: L’Année Sociologique, 1 (1923/24), Alcan, Paris 1925, S. 30–186, Text original in deutscher Übersetzung (PDF)
  31. Iris Därmann, Kirsten Mahlke, Universität Konstanz: Kulturtheorien des Gabentauschs
  32. Deutschlandfunk: Die Philosphie des Schenkens. Kultursoziologin Elfie Miklautz: "Geschenke sind Beziehungsangebote"
  33. Diese Perspektive macht deutlich, warum die Reformation (deren Voraussetzungen hier ungenannt bleiben) für die herrschende Elite extrem gefährlich war und in Europa den Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) entfachte. Das von Martin Luther (1483-1546) und anderen Reformatoren propagierte Laienpriestertum war ein Angriff auf Monopole der herrschenden Elite. Reformatoren waren jedoch lediglich Ideengeber, die gemeinsam mit radikalen häretischen Sekten ausgelöscht werden mussten, um Flächenbrände zu verhindern. Den Hauptangriff führte eine gegen die herrschende Elite aufbegehrende subalterne Elite. Diese nutzte die Reformation als Hebel zum Aufstieg in der Machthierarchie bzw. zur Durchsetzung eigener Machtansprüche und löste durch konfessionelle Polarisierung eine nicht intendierte Dynamisierung des sozialen Wandels in Europa aus, mit dem christliche Konfessionen und Machteliten des feudalen Adels politischen Einfluss einbüßten.
  34. FAZ, 08.10.2009: Eberhard Th. Haas: René Girard, Das Ende der Gewalt. Der sich und allen sich zum Opfer gibt
  35. Nachruf des katholischen Theologen Józef Niewiadomski, Universität Innsbruck: Im Andenken an René Girard
  36. Vordenker von Tech-Unternehmen wie Elon Musk, Mark Zuckerberg, Peter Thiel sehen René Girard als Guru:
  37. Aussagen dieses Kapitels beziehen sich auf Robert Bellah: Der Ursprung der Religion. Kapitel 2.1 betrachtet Merlin Donalds Modell kognitiver Entwicklungsstufen des Bewusstseins, das Robert Bellah mit Annahmen zu kulturellen Entwicklungsstufen verknüpft. 
  38. Die Bedeutung von Religion betrachtet der Post Beobachtung, Theorien, Vermutungen zur Evolution von Kultur und Religion - Teil 1: Basale Konzepte in Kapitel 3: Was ist Religion?
  39. ‚Flow‘ beschreibt der Post Laufglück oder Laufsucht? - Teil 1: Wie es begann: Kurze Geschichte menschlicher Bewegung bis zum Sport der Gegenwart in Kapitel 5.3.5: Flow als mentaler Zustand.
  40. Greg Woolf: Metropolis, a.a.O.
  41. Annahmen über Urreligionen sind ebenso hochgradig spekulativ wie Annahmen über Bedeutungen prähistorischer Artefakte.
    Unterschiede zwischen Mythen und Religionen betrachtet der Post Mythen, Mythologien, Religionen.
  42. Siehe Post: Basics der Antike Griechenlands
  43. The Guardian, 10.09.2009: The origins of religion 

4 Leben in der gegenwärtigen Welt des Übergangs vom Holozän zum Anthropozän 

Gegenwart ist kein stabiler Zustand. Gegenwart ist ein zeitlicher Schnappschuss ineinander verschlungener und wechselseitig aufeinander einwirkender komplexer Prozessketten mit langer Vorgeschichte. Im 20. Jahrhundert ist der Mensch zu einem dominanten Einflussfaktor auf biologische, geologische und atmosphärische Prozesse der Erde geworden.(1)


4.1 Komplexität und Modell

Ein vollständiges wissenschaftlich-analytisches Verständnis dieser Komplexität ist unmöglich und wird niemals möglich sein. Darum verzichtet Wissenschaft (im Unterschied zur Religion) auf Betrachtungen der Welt als Ganzheit. Wissenschaft beschäftigt sich mit Ausschnitten von Welt bzw. mit als relevant und mehr oder weniger konsistent geltenden gedanklich konstruierten Modellen von Ausschnitten der Welt. Modelle sind gemäß wissenschaftlichen Standards entworfene und mit wissenschaftlichen Methoden prüfbare Annäherungen, die nicht beanspruchen, Anforderungen der Vollständigkeit und Korrektheit (Wahrheit) einzulösen.

Mentale Prozesse finden im Gehirn statt. Das Gehirn ist eine Erlebnis- und Deutungsmaschine, die Menschen zur Orientierung in der Umgebung von Lebenswelten verhilft. Wissenschaft zeigt, dass Wahrnehmungen und Verständnis der Komplexität von Lebenswelten auf Vermutungen und unbewussten Annahmen beruhen, die manchmal erfolgreich sind und sich manchmal als Irrtum herausstellen. Um erfolgreich navigieren zu können, werden Ziele und Richtungsanzeiger als Orientierungsbedingungen sowie zum Ziel führende Bewegungsstrategien benötigt. Da vollständiges Wissen nicht erreichbar ist, nutzen Menschen implizite oder explizite Orientierungsmodelle.

Religion ist ein Orientierung stiftendes Modell. In der Vergangenheit nutzten fast alle Menschen Orientierungsbedingungen und Bewegungsstrategien von Religionen. In der Gegenwart hat in westlichen Kulturen Religion für viele Menschen ihre Bedeutung als Orientierungsbedingung und Bewegungsstrategie eingebüßt. Religiöse Menschen der Gegenwart praktizieren häufig unverbindliche ‚Light-Versionen‘ von Religion, in denen individuell geeignete Versatzstücke zu einer beliebigen privaten Religion verknüpft sind, die je nach individuellen Präferenzen mit beliebigen disjunkten Orientierungsmodellen kombiniert wird.

Wissenschaft und Kirchenpolitik haben Religion für viele Menschen diskreditiert. Wissenschaften bieten keine Ersatzorientierungen. Von Religion hinterlassene Leerräume besetzen in kapitalistischen Wirtschaftsräumen von Konsum- und Dienstleistungsindustrie zugesagte Versprechen des Glücks und der Zufriedenheit durch Konsum. Tatsächlich geht es Produzenten nur um Absatz, Umsatz und Profit. Durch Konsum vermittelte Glücksversprechen funktionieren trotzdem, weil das Gehirn eine manipulierbare Erlebnis- und Deutungsmaschine ist, deren Denkmuster sich unter dem Einfluss von Lebensbedingungen herausbilden. Der Nutzen von Konsum verschleißt jedoch schnell und erfordert immer wieder neuen Konsum. Per Saldo erfolgt eine Umverteilung des Vermögens vieler Menschen zum Nutzen weniger Menschen. Absichtsvolle Handlungen ungehemmten Konsums erzeugen unbeabsichtigte negative Konsequenzen für das Biotop Erde. Sichtbar werden diese Konsequenzen erst bei Überschreitung von Schwellenwerten.

Wer sich auf Verkaufspsychologie und ihre Tricks nicht einlassen möchte (was vermutlich niemals vollständig gelingt) und sich von Religion nicht angesprochen fühlt, findet sein persönliches Ikigai nicht en passant, sondern nur durch eigene Anstrengungen. Längst nicht alle Menschen finden ihr persönliches Ikigai (das, wofür es sich zu Leben lohnt). Diese Menschen erleben sich selbst häufig als getrieben, fremdbestimmt, vom Leben überfordert, unglücklich.


4.2 Legitimationskrisen politischer Herrschaft

Diktatorische oder despotische politische System benötigen keine Legitimation, weil politische Macht dieser Systeme keine Zustimmung der Beherrschten benötigt. Demokratien beruhen auf fiktiven Gesellschaftsverträgen, durch die das Volk mittels Wahlen eine gesetzlich geregelte Art der Ausübung von Herrschaft temporär an einen mehrheitlich gewählten Kreis von Personen delegiert, der zur Ausübung von Macht legitimiert ist.

Wenn politische Systeme in Krisen geraten, können diese von vielen Faktoren verursacht sein. Krisen werden meistens von Faktorenbündeln ausgelöst. Das Paket von Demokratie, Kapitalismus und Markwirtschaft mit Fokus auf Ökonomie, Wachstum, Märkte war über mehr als 100 Jahre ein Erfolgsmodell. Das demokratische Gesellschaftsmodell ist in der Gegenwart bedroht, weil Kapitalismus und Marktwirtschaft zahlreiche und teilweise unbeabsichtigte negative Effekte anstoßen:

  • Umweltzerstörung
  • Klimakatastrophe
  • Ressourcenausbeutung
  • Ausbeutung von Entwicklungsländern
  • Sicherheitsrisiken durch Krieg und Terror
  • Verkehrskollaps
  • Müllberge und Vermüllung der Meere
  • Vergrößerung der Kluft zwischen arm und reich
  • Altersarmut
  • Immobilienpreise und Mieten laufen (regional unterschiedlich und nicht überall) Einkünften davon
  • Überversorgung in Regionen mit hoher Kaufkraft, Unterversorgung in Regionen mit geringer Kaufkraft
  • etc.

Das Management von Risiken dieser Art liegt im Hoheitsbereich von Staatsregierungen. Deren Ausrichtung auf Wirtschafts- und Finanzpolitik auf Kosten von Sozial- und Bildungspolitik, Umwelt und Klima verschärft diese Risiken. Die Krise des Kapitalismus führt in die Krise der Demokratie. Keine Regierung kann alle Menschen gleichzeitig glücklich machen, aber wenn große Teile der Bevölkerung erkennen oder zu erkennen glauben, dass Politik ihre Interessen ignoriert oder Prioritäten unterordnet, die nicht im Allgemeininteresse liegen und öffentliche Güter offensichtlich nachhaltigen Schaden erleiden, dann kündigen sie einseitig den Gesellschaftsvertrag, verweigern Legitimationsrituale und begeben sich in Opposition. Während potente Akteure zur Durchsetzung ihrer Interessen Lobbyisten engagieren, müssen sich weniger potente Akteure auf der Straße organisieren oder sie leihen ihre Stimme politisch zweifelhaften populistischen Bewegungen.

Legitimierung beruht auf Vertrauen. Wähler entscheiden sich für die Partei oder den Kandidaten ihres Vertrauens. Wenn Wähler keine vertrauenswürdigen Kandidaten identifizieren können, treiben sie Enttäuschung, Unverständnis, Wut, Protest in Richtung radikaler Bewegungen. Konzepte von "Wählerbestechungsdemokratie", die Wähler mit Wahlgeschenken ködern, sind mehr als zweifelhaft.(2) Wahlgeschenke appellieren an egoistische Instinkte, die sich gegen das Gemeinwohl richten. Wahlgeschenke sind Indikatoren für einen Verfall von Kultur des Vertrauens. Noch größer ist das Zerstörungswerk von Wahlversprechen, deren Umsetzung sich zu Debakeln entwickelt. Undurchsichtige Wahlverfahren mit Erst- und Zweitstimme, Wahllisten, auf deren Ranking Wähler keinen Einfluss haben oder auch indirekte Wahlverfahren durch Wahlmänner, tragen zur Wahlmüdigkeit bei. Vertrauen lässt sich nur langsam und mit viel Bemühung aufbauen und muss sich nachweislich bewähren. Zerstörbar ist Vertrauen dagegen schnell und mühelos.

Globalisierung und Öffnung von Märkten nutzen insbesondere global agierende Konzerne. Wo immer es möglich ist, produzieren sie in Niedriglohnländern und kreieren selbst Märkte für überteuerte Produkte, mit denen sie traumhafte Profite erzielen. Selbst wenig profitable Großkonzerne entlohnen ihr Top-Management unanständig. Gehälter und Boni profitabler Großkonzerne liegen in irrationalen Größenordnungen. Gleichzeitig zahlen Großkonzerne mit Hilfe findiger und windiger Kanzleien so wenig wie möglich steuerliche Abgaben und tragen damit so wenig wie möglich zum Gemeinwohl bei, während sie umgekehrt Gemeingüter großzügig nutzen. Gegen das Bestreben zur Privatisierung von Profiten und zur Sozialisierung von Risiken findet politische Verantwortung keine wirksamen Antworten und mitunter ist fraglich, ob geeigneter politischer Wille vorhanden ist.

Das starke Aufkommen mehr oder weniger radikaler rechtspopulistischer Bewegungen und Tendenzen zur Re-Nationalisierung von Politik und Wirtschaft sind Folgen von Vertrauenskrisen, die Demokratie aushöhlen, unterwandern, zerstören. Wie antwortet Politik auf solche Entwicklungen? Hilflos! Aussagen wie „Wir schaffen das!“ plädieren für Vertrauen, das längst verloren ist. Offen bleibt: Wer ist wir? Wer schafft was? Wie hoch ist die Rechnung? Wer zahlt die Zeche?


--------------------------------------
  1. Wikipedia: Holozän, Anthropozän
  2. Der Begriff der "Wählerbestechungsdemokratie" ist Dirk Schümer zu verdanken, der in einem Artikel der FAZ vom 26.10.2012 die Berlusconi-Ära bewertet: Der König hat geweint  

5 Leben in anthropozäner Welt – Leben 4.0
 
Niemand kennt die Zukunft. Jede Vorhersage ist spekulativ. Von Menschen initiierte relativ stabile Entwicklungsprozesse erlauben jedoch Ausblicke auf Trends, die sich mit hoher Wahrscheinlichkeit in die Zukunft verlängern und deren Auswirkungen in der Zukunft bereits heute absehbar sind.


5.1 Bevölkerungsentwicklung und Klimawandel

Trotz aller regionaler Unterschiede und Veränderungen von Wachstumstrends nimmt die Anzahl auf der Erde lebender Menschen zu. Die weltweit ärmsten Staaten haben die höchsten Wachstumsraten der Bevölkerungsentwicklung. Eine Reihe von Konsequenzen sind absehbar.(1)

Laut UN leiden in der Gegenwart ca. 11 % der Weltbevölkerung längerfristig unter Unter- oder Mangelernährung, davon 98 % in Entwicklungsländern. Landwirtschaftlich nutzbare Bodenressourcen sind ebenso begrenzt wie Ertragssteigerungen der Produktion. Durch das Weltbevölkerungswachstum schrumpft die verfügbare landwirtschaftlich nutzbare Fläche pro Kopf.(2,3)

Emissionen der Landwirtschaft zählen zu den stärksten Treibern des Klimawandels.(4)  Vom Klimawandel verursachte langfristige Entwicklungen und klimatische Extremereignisse führen zu sinkenden Bodenerträgen und abnehmender Ernährungssicherheit.(5) Klimawandel und Umweltzerstörung verschärfen die Ernährungssituation und führen zu einer steigenden Zahl an Flüchtlingen aus Entwicklungsländern, die das internationale Flüchtlingsrecht nicht berücksichtigt. Bereits in der Gegenwart ist die Zahl der Klimaflüchtlinge deutlich höher ist als die Zahl politischer Flüchtlinge.(6)

Folgen des Klimawandels für die weltweite Nahrungsmittelproduktion wurden bisher massiv unterschätzt. Diese Folgen kumulieren mit Problemen der wachsenden Weltbevölkerung sowie mit Problemen von Ressourcen hinsichtlich ihrer Begrenztheit, Verfügbarkeit und Verteilung. Die Kumulierung dieser Probleme lässt Zunahmen von Hunger, Krankheiten, Flüchtlingen, bewaffneten Konflikten und Todesopfern erwarten und stellt ein schnell wachsendes Risikopotential dar. Im öffentlichen Diskurs und in politischen Programmen stehen Probleme der wachsenden Weltbevölkerung auf keiner Agenda. Laut Robert Engelman, Präsident des Worldwatch Institute, besteht zwischen Staatschefs der Welt eine unausgesprochene Vereinbarung, dieses Thema nicht zu erwähnen, weil es zu sensibel sei.(7) 


Allerdings werden Fragen der Bevölkerungsentwicklung der Weltbevölkerung seit dem 18. Jahrhundert kontrovers diskutiert. Ob oder zu welchem Grad Konzepte von Überbevölkerung und Bevölkerungsexplosion zutreffen, ist nach wie vor strittig und aufgrund der Unsicherheit von Prognosen nicht seriös zu entscheiden. Die Bedeutung dieser Konzepte erfährt im Kontext wissenschaftlicher Fokussierungen und öffentlicher Wahrnehmung im zeitlichen Verlauf schwankende Zustimmung und Ablehnung. Unter Bedingungen der Klimakrise gewinnt das Thema der Bevölkerungsentwicklung an Bedeutung. Ein ungebremstes Wachstum der Weltbevölkerung ist jedoch eher unwahrscheinlich.(8)


5.2 Digitale Transformation und Digitale Revolution

Digitale Technologien bewirken als Digitale Transformation bezeichnete Veränderungsprozesse nicht nur in der Arbeitswelt, sondern in nahezu allen Bereichen der sozialen Welt. Das Ausmaß der durch digitale Transformation initiierten strukturellen Veränderungen ist mit dem historischen Prozess der Industriellen Revolution vergleichbar, weshalb die Digitale Transformation als Digitale Revolution verstanden wird.

Durch Digitale Transformation ausgelöste Umbrüche betreffen insbesondere: Wirtschafts- und Arbeitswelt, Gesundheitssystem, Bildungssystem, Politik, Wissenschaft, Regional- und Verkehrsstrukturen sowie in einem kaum zu überschätzenden Maß das Privatleben. Gegenwärtig stehen wir erst am Anfang dieser Entwicklung. Wie die Welt sich in 1-2 Generationen darstellt, lässt sich nur grob skizzieren, aber nicht im Detail ausmalen. Der Versuch einer vollständigen Skizzierung würde den Rahmen dieses Textes weit übersteigen, weshalb der Text auf eine Auswahl von Aspekten digitaler Revolution fokussiert, die soziales Leben in globaler Dimensionen verändern.



5.2.1 Generelle Auswirkung: Beschleunigung von Strukturwandel

Soziale Strukturen, in denen Menschen leben, ändern sich unter zahllosen vielfältigen Einflüssen kontinuierlich. In westlichen Kulturen lebende Menschen wissen aufgrund eigener und familiärer Erfahrung, dass das Änderungstempo von Lebensbedingungen sowie das Wachstum von Informationsmengen und Wissensvorräten sich in vielen Bereichen beschleunigt hat. Damit werden Verfallzeiten von ehemals Gelerntem und Beherrschtem kürzer und steigen Anforderungen an Tempo, Umfang und Qualität des Lernens. Gleichzeitig verlieren formale Qualifikationen an Wert.

Aufnahmekapazitäten und Lerntempo sind endlich und fallen je sozialem Akteur (gleich ob individuell oder korporativ) unterschiedlich aus. Der Erfüllungsgrad dieser Anforderungen verschafft Vorteile oder Nachteile im sozialen Wettbewerb. Verteilungen von Fähigkeiten und das schnelle Wachstum relevanter Informationsobjekte erzwingen im sozialen Wettbewerb zunehmende Differenzierung und Spezialisierung, durch die ein Verständnis größerer Zusammenhänge abnimmt. Spezialistentum produziert Fachidioten. Die digitale Revolution beschleunigt in vielen Bereichen die Dynamik struktureller Veränderungen und verschärft damit beschriebene Selektionsmechanismen.



5.2.2 Wirtschafts- und Arbeitswelt

Für Wirtschaftsunternehmen, deren Kernkompetenzen außerhalb der IT-Welt liegen, bildet die Digitale Transformation eine hohe Hürde, die sie bewältigen müssen. Unternehmen müssen sich verändern und mit ihnen ihre Mitarbeiter. Wer als Unternehmen oder als Mitarbeiter den Wandel nicht vollziehen kann, ist Verlierer. Für Systemhäuser, Berater und Freelancer ist die Digitale Transformation ein 'Goldesel', der in einem noch nicht absehbaren längeren Zeitraum Dukaten ausscheidet. Unternehmen, die ihre Strategie nicht rechtzeitig neu ausrichten, verschwinden vom Markt. Von diesen Risiken sind nicht nur finanzschwache Kleinunternehmen betroffen, sondern auch Großunternehmen mit umzustellenden Altlasten. Besonders stark bedroht sind traditionelle Banken und Versicherer, weshalb sich im Markt der Finanztechnologie als FinTechs bezeichnete Start-up-Unternehmen tummeln.

Innovationsstarke, finanzkräftige Unternehmen entwickeln sich zu marktbeherrschenden ‚Superstar-Unternehmen‘ (wie Apple, Microsoft, Google, Amazon, Samsung, Huawei, Tesla etc.), die dank ihrer wirtschaftlichen Potenz die fähigsten Mitarbeiter absorbieren. In Unternehmen konzentriertes Humankapital kreiert Produkte, die in ihren Märkten im Wettbewerb unterlegene Produzenten ausschalten und Anbietermärkte bis zur Monopolisierung konzentrieren.

Die digitale Revolution ermöglicht Crowdworking und agile Arbeitsweisen mit erhöhter Flexibilisierung von Arbeitszeit- und Arbeitsort. Unternehmensgrenzen und Hierarchien verschwimmen. Agile Formen der Zusammenarbeit nehmen zu. Die Produktvielfalt nimmt zu, während gleichzeitig Produktzyklen kürzer werden. Arbeitsverhalten und Leistungen werden transparenter. In digitalisierten Arbeitsprozessen ist eine vollständige Leistungkontrolle beteiligter Mitarbeiter möglich.


5.2.3 Künstliche Intelligenz, 5G und private Mobilität

Hype um die Entwicklung von Künstlicher Intelligenz (KI) lässt vermuten, dass die Bedeutung bisher unverstanden ist. KI dient dem Nutzen von Industrie, d.h. dem Erhalt und Ausbau von Marktmacht und Profit. Für menschliche Individuen liegt der praktische Nutzen im Sinne der Erhöhung von Lebensqualität oder der Verbesserung von Menschenrechtssituationen trotz aller wolkigen Versprechungen bei Null. Im Gegenteil bedroht KI individuelle Autonomie, wenn Maschinen mit Macht ausgestattet sind.

Der Aufbau des zur Zeit stattfindenden 5G-Netzes dient industriellen Zwecken. Privat benötigt niemand 5G. Sicherheitsrisiken und mögliche Gesundheitsgefahren von 5G werden billigend in Kauf genommen. Industrie 4.0 sowie autonomes Fahren als vermeintliches Verkehrskonzept der Zukunft sind die Treiber von 5G und KI.

Elektromobilität und autonomes Fahren sind Geschäftsmodelle der Industrie, die mit Unterstützung von Politik umgesetzt werden. Probleme unserer Kultur lösen diese Geschäftsmodelle so wenig, wie die Einrichtung von Umweltzonen und die Reduzierung von Emissionsbelastungen. Sie verlängern bestenfalls das Sterben. Zukunftsfähig wäre eine Politik des radikalen Umbaus privater Mobilität, deren Bedarf mit der Umsetzung digitaler Transformation und mit zunehmender Vernetzung ohnehin abnimmt. Zukunftsinvestitionen wären ein Abbau der Nutzung von Kraftfahrtzeugen und von Flugreisen sowie der Aufbau einer umfassenden und für Nutzer attraktiven öffentlichen Verkehrsinfrastruktur, die Kraftfahrzeuge und Flugreisen weitgehend überflüssig macht. Über solche Mobilitätskonzepte wird nicht einmal nachgedacht, weil Industrie und Handel daran selbstverständlich kein Interesse haben und Politik dazu mit dem Schwanz wedelt.



5.2.4 Zunahme des Stadt-Land-Gefälles

Der Aufbau leistungsfähiger Netze ist kostenintensiv und konzentriert sich darum auf urbane Zentren mit hoher Bevölkerungsdichte bzw. hoher Dichte an industrieller und gewerblicher Infrastruktur. Leistungsfähige Netze sind eine Voraussetzung für wirtschaftliche Infrastrukturen und öffentliche Einrichtungen. Kostenintensive Versorgungsinfrastrukturen (Schulen, Krankenhäuser, niedergelassene Ärzte) siedeln sich ebenfalls in Ballungszentren an. Leistungsfähige Netze und Infrastrukturen motivieren Bewohner ländlicher Regionen zum Umzug in urbane Zentren. Diese Migrationsbewegungen treiben in Zentren Immobilienpreise bzw. Mietkosten. In ländlichen Regionen steigen Preise von Verbrauchsgütern mangels Wettbewerb der Versorgungsinfrastruktur.

Wohlstand konzentriert sich in urbanen Zentren. In ländlichen Regionen konzentriert sich Bevölkerung, die am Wohlstand nicht teilhaben kann. Von rechtsradikalen Gruppierungen instrumentalisierte ‚Abgehängte‘ bilden Nährboden für das Aufblühen vor-aufklärerischer populistischer Kultur, die mittels Renationalsierung offene in geschlossene Gesellschaften umwandeln möchte und Freiheiten von Toleranz, Meinungsvielfalt, Pluralismus, repressionsfreie Kommunikation bedroht. 



5.2.5 Infrastruktur im öffentlichen Raum

Historisch gewachsene urbane Strukturen befinden sich in der Auflösung, weil Online-Handel bzw. Home Shopping im Non-Food-Bereich den klassischen Einzelhandel verdrängen. Buchhandel, Musikgeschäfte und Warenhäuser sind bereits stark ausgedünnt. Tageszeitungen und Zeitschriften verschwinden, weil Auflagenhöhe und Werbeeinnahmen keinen auskömmlichen Betrieb erlauben. Mit ihnen verschwindet unabhängige Meinungsvielfalt.

Weitere Branchen werden folgen. Banken bauen Filialnetze und Mitarbeiter ab. Versicherungsunternehmen teilen das Schicksal. Standardprodukte von Finanzdienstleistern sind Online-Produkte. FinTechs konkurrieren mit innovativen Produkten, Preisen, Services. Autowerkstätten werden vorerst auch zukünftig benötigt, aber für den Autokauf muss man nicht mehr das Home verlassen. Innenstädte veröden. Shopping Malls an der Peripherie zählen ebenfalls zu Verlierern.



5.2.6 Entgrenzung von Lebenssphären durch Vernetzung

Traditionelle abgegrenzte Lebenssphären des Wohnens, Arbeitens und der individuellen Versorgung werden durchlässiger oder sogar aufgehoben. Menschen können am Wohnsitz ihre Arbeit erledigen, Einkäufe tätigen und Vorgänge mit Unternehmen und Behörden bearbeiten.

Informationsversorgung via Zeitungen und Zeitschriften verliert an Bedeutung. Für schriftliche Medien sind Autoren verantwortlich. Autoren und Redaktionen verbürgen Qualität von Inhalten. Die Qualität von News in virtuellen Medien hat nachrangige Bedeutung. Vorrangig ist Aufmerksamkeit auf sich ziehender Sensationscharakter von News, mit dem unbewusst wirkende Werbeinhalte verknüpft sind.

Private Kommunikation per Face-to-Face-Kontakte nimmt ab. Kommunikation wird zunehmend mittels technischer Medien vermittelt. Ob Menschen in dieser Welt zufrieden und glücklich sind, interessiert die Wirtschaft nicht. Wirtschaft interessiert sich für Verkaufszahlen und Profit. Menschen droht die Gefahr der sozialen Entfremdung und Vereinsamung. Möglicherweise ist diese Entwicklung an zunehmender Aggression im Netz beteiligt.



5.3 Drift in Richtung Überwachungsstaat und Überwachungskapitalismus

Lösungen für die drängendsten globalen Probleme sind nicht in Sicht. Menschen werden zunehmend unruhig. Sie empfinden Zusammenhänge ihrer eigenen Lebenswelt als mehr oder weniger unbeherrschbar komplex oder als chaotisch und eigenes Handeln als fremdbestimmt. Sie erkennen, dass Ressourcen, erwirtschaftete Leistungen und Macht unfair verteilt sind und betrachten unfaire Verteilungen als willkürliche Ungerechtigkeiten.

Volkssouveränität, die das Volk zum souveränen Träger der Staatsgewalt bestimmt, ist Bestandteil des Demokratieprinzips im deutschen Verfassungsrecht. Gefragt wird das Volk jedoch nur anlässlich Wahlen. Wahlen legitimieren intransparente Politik, die für weite Teile des Volkes nicht nachvollziehbar ist. Mit dem Argument, dass Wachstum und wirtschaftlicher Erfolg vermeintlich allen zugute kommt, erhalten Interessen der Wirtschaft Priorität auf Kosten der Interessen von Mehrheiten, Interessen der Umwelt, Interessen zukünftiger Generationen. Im Ergebnis schwindet das Vertrauen in Politik und wachsen Verweigerung und Widerstand, notfalls mit Hilfe aus dem rechten Lager.

Politische Protagonisten kennen die Risiken. Sie treffen Vorsorge und bauen der Überwachung dienende Infrastrukturen auf, für die 5G äußerst hilfreich ist. Begründet werden diese Maßnahmen mit Abwehr von Terror und Bekämpfung von Kriminalität bzw. Erhöhung von Sicherheit. Überwachungstechnologie in Händen von Geheimdiensten kann jedoch vielen Gründen dienen und den zu überwachenden Personenkreis beliebig ausdehnen.(9) Im Inland entwickelte und an zweifelhafte Regierungen des Auslands gelieferte Staatstrojaner werden selbstverständlich auch im Inland genutzt. Wie sie genutzt werden, berichten Geheimdienste nicht (sonst wären sie keine Geheimdienste).(10)

Öffentliche Transparenz ist prinzipiell ausgeschaltet. Kontrolle sollen parlamentarische Gremien ausüben, aber auch diese Gremien beklagen sich über Intransparenz, verfassungswidrige und ungesetzliche Aktionen.(11) Nicht nur in Deutschland, sondern weltweit findet eine Drift in Richtung Überwachungsstaat statt.(12) Wer Zweifel an der Lauterkeit staatlicher Institutionen nicht teilt, sollte sich bei Edward Snowden informieren.(13)

Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht, wir alle stehen unter ständiger Beobachtung und nicht nur durch installierte Video-Überwachungssysteme. Verhalten im Netz und Bewegungsdaten werden ständig protokolliert. Smartphones, Apps (besonders intensiv Social Media), Suchmaschinen, Browser, Streaming-Dienste, Fitness-Tracker, Verkaufsportale und Webseiten generell, Cloud Services und auch moderne Autos spionieren uns aus. Smarte Home-Technik (vernetzte Fernseher, Musikanlagen, Kühlschränke,  Kaffeemaschinen, sprachgesteuerte Frontends etc.) spioniert uns ebenfalls aus. Vernetzte Services sammeln Daten und schicken sie an Kanäle außerhalb unserer Kontrolle. Die US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftlerin Soshona Zuboff hat für diesen Sachverhalt den Begriff Überwachungskapitalismus geprägt.(14)

Protokolldaten sind dauerhafte Fußabdrücke unseres Verhaltens im Netz und unserer räumlichen Bewegungen. Um bestimmte Services zu nutzen, werden wir zur Registrierung genötigt. Registrierung ermöglicht die Erstellung individueller Profile. Raffinierte Algorithmen machen uns transparent. Unser Verhalten ist im Rahmen von Wahrscheinlichkeiten vorhersagbar, manipulierbar und mitunter auch erpressbar. Die Realisierung derartiger Algorithmen ist neben industrieller Nutzung die zweite Domäne von KI.

Erklärungen von Anbietern zur ‚Privacy‘, zum Datenschutz oder zur Datensicherheit zu vertrauen, wäre naiv und fahrlässig. Selbst wenn Anbieter ihre Erklärungen einhielten (was nachweislich nicht immer der Fall ist), wären Daten nicht sicher. Risiken von Datenlecks lassen sich nicht mit Sicherheit ausschließen und Hacks von Nutzerdaten passieren täglich. Das wahrscheinlich größere Datenleck verursachen Geheimdienste, die über mehrere Jahre Infrastrukturen zum Abgreifen privater Daten aufgebaut haben und diese Infrastrukturen mit Billigung von Regierungen ohne parlamentarische Kontrolle nutzen.(15)

Was passiert mit unseren Daten? Wir wissen nicht, wer am anderen Ende sitzt, bei wem unsere Daten landen, wie Daten verteilt, verkauft und missbraucht werden. Wir wissen lediglich, dass es sich um einen riesigen Markt handelt und dass dieser Markt völlig intransparent ist. Auf diesem Markt bedienen sich die Werbewirtschaft, kriminelle Erpresser, Geheimdienste und Politik. Wir sollten realisieren, dass es um Macht geht, Marktmacht und politische Macht, die eng miteinander kooperieren. Das Ausspionieren von Menschen und Manipulationen ihres Verhaltens verhelfen nicht nur der Wirtschaft zu Marktmacht, Umsatz und Profit, es dient auch der Absicherung und dem Missbrauch politischer Macht. China, Russland, USA sind nicht nur technologische Vorreiter, sie sind auch Vorreiter des Missbrauchs von Macht. Weitere Staaten befinden sich auf dem gleichen Weg (u.a. Türkei, islamische Staaten und auch Deutschland) oder sie werden bald folgen. 


-------------------------------------- 
  1. Wikipedia: Bevölkerungsentwicklung
  2. Wikipedia: Welthunger
  3. Wikipedia: Ertragsgesetz
  4. Greenpeace: Landwirtschaft und Klima
  5. Klimafakten: Was der Klimawandel für die Landwirtschaft bedeutet
  6. Greenpeace: Klimaflüchtlinge: Die unterschätze Katastrophe - Studie (PDF): Klimawandel, Migration und Vertreibung
  7. Wikipedia: Worldwatch Institute, Bevölkerungsentwicklung
  8. Empirische Daten zur Bevölkerungsentwicklung
  9. ZEIT: Staatstrojaner für alle?
  10. SWR: Spionage-Trojaner im Staatsdienst
  11. Wikipedia: Online-Durchsuchung (Deutschland)
  12. Medienberichte zum Überwachungsstaat:
  13. Edward Snowden: Permanent Record (Veröffentlichung im Fischerverlag)

    Buchbesprechungen und Interviews:

  14. Medienberichte zum Überwachungskapitalismus:
  15. Instrumente geheimdienstlicher Überwachung beschreiben mehrere Artikel in Wikipedia: Selector, PRISM, Tempora, XKeyscore  
 

6 Verlust der Kontrolle über unbeabsichtigte Folgen zweckbestimmter Handlungen
 
Wer Zugang zu frei verfügbarer Informationen hat, der weiß oder könnte zumindest wissen,
  • dass Ressourcen der Erde endlich sind,
  • dass aufgrund endlicher Ressourcen und endlichem Lebensraum die demographische Entwicklung sich nicht unendlich fortsetzen kann,
  • dass menschliche Lebenssituationen hinsichtlich Ernährung, Gesundheit, Bildung, Sicherheit, Einkunft in vielen Teilen der Welt prekär sind,
  • dass die ökologische Situation nicht weniger prekär ist,
  • dass unfaire Verteilungen von Wirtschaftsgütern und Missbrauch von Macht nicht kontrollierbare und in ihren Folgen nicht abschätzbare Krisen provozieren,
  • dass demographische, klimatische, ökonomische Entwicklungen Defizite und mit ihnen verbundene Risiken verschärfen.
Kein halbwegs vernünftig denkender Mensch beabsichtigt bewusst, die aufgeführten prekären Entwicklungen gezielt durch eigene Handlungen herbeizuführen. Vielmehr handelt es sich um Auswirkungen absichtsvoller Handlungen, die völlig anderen Zwecken dienten. Dieses Phänomen der unbeabsichtigten Folgen als Resultat absichtsvoller Handlungen ist ein Topos der Soziologie, den jedoch das Alltagsdenken kaum kennt.(1) Welcher Art absichtsvolle Handlungen sind, ist unerheblich. Entscheidend ist, dass Effekte auftreten, die nicht er- oder bekannt waren oder aufgrund von Interessenkonflikten oder aus Dummheit ignoriert wurden.

Ungeachtet des Wissens über negative Langzeiteffekte dominieren in global bedeutenden Kulturen kurzfristige Interessen auf Wachstum programmierter ökonomischer Systeme, die politische Machtinteressen beherrschen und eine Politik durchsetzen, mit der kurzfristige ökonomische Interessen Priorität über längerfristige Perspektiven nachhaltigen Wirtschaftens erhalten. Globale Wirtschaft schadet nicht nur in der Gegenwart vielen Menschen und weiten Teilen der Umwelt, sie zerstört auch Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen. Auf die Frage nach Ursachen unvernünftigen Wirtschaftens bieten auf egoistische Eigeninteressen verweisende Haltungen nur unvollständige Antworten.

Die Evolution von Sozialverhalten (Kooperation) erzeugt evolutionären Nutzen für biologische Arten. Sozialverhalten setzt sich aus egoistischen Individualinteressen und aus kooperativen Gruppeninteressen zusammen. Sozialverhalten bietet Nischen für parasitäres Verhalten, das Gruppeninteressen schadet und darum durch ethische Regeln und Gruppenkontrolle eingehegt wird.(2) Mit der evolutionären Entfaltung kognitiver Kompetenz entstehen zwei nicht beabsichtigte und sich gegenseitig verstärkende Folgeeffekte der globalen Entwicklung, die sich menschlicher Kontrolle weitgehend entziehen und durch Aggregation unbedeutender Einzelwerte Größenordnungen erreichen, die in Summe Gleichgewichte des Ökosystems Erde bedrohen:
  1. Zunahme sozio-struktureller Komplexität durch soziale und funktionale Differenzierung
  2. Beschleunigung des sozialen Wandels


6.1 Zunahme sozio-struktureller Komplexität durch soziale und funktionale Differenzierung

Evolution erhöht die Komplexität von Systemen. Mit zunehmender funktionaler Differenzierung wachsen Anzahl und Vielfalt von Elementen und die Menge der Verknüpfungen zwischen Elementen. Aufgrund des Wachstums über Zeit werden Elemente eines Systems, Verknüpfungen, Interdependenzen und Kausalitäten zwischen ihnen zunehmend unüberschaubar bzw. komplex. Diese Gesetzmäßigkeit betrifft auch Kulturen. Der Soziologe Georg Simmel erkannte langfristige Veränderungen von Kulturen durch Prozesse zunehmender Differenziertheit und führte 1890 den Begriff soziale Differenzierung ein.(3) Von sozialer Differenzierung verursachte Komplexität bewirkt,
(a) dass Auswirkungen von Entscheidungen und Veränderungen nicht zu überschauen sind, 
(b) dass Chancen für die Duchsetzung parasitären Verhaltens wachsen.

Mit steigender Komplexität nimmt daher die Wahrscheinlichkeit zu, mit der unbeabsichtigte Folgen als Effekt absichtsvoller Handlungen auftreten. Gleichzeitig verführt zunehmende soziale Differenzierung zur Marginalisierung unbeabsichtigter Effekte absichtsvoller Handlungen, wenn Kausalitäten zwischen Verursacher und Effekten intransparent bleiben. Zusätzlich verhindert wachsende Komplexität eine effiziente Kontrolle parasitären Verhaltens. Unbeabsichtigte Folgen können sich als positive, negative oder perverse (gegenteilige) Effekte einstellen, z.B.:

  • Niemandsland, Öden und exklusive Reservate haben positive Effekte für Biodiversität.
  • Notwendige Medikamente können gefährliche Nebenwirkungen provozieren.
  • Unterdrückung von Informationen fördert deren Verbreitung.



6.2 Beschleunigung des sozialen Wandels

Dynamiken des sozialen Wandels sind Konflikttreiber, die destruktiv auf soziale Ordnung einwirken und damit sozialen Wandel beschleunigen. Wechselwirkungen zwischen Ordnung, Wandel und Konflikten erzeugen Reibung bzw. Instabilität und drängen auf Veränderungen. Veränderungen beinhalten Chancen und Risiken. Sozialer Wandel interagiert mit sozialer Differenzierung und Spezialisierung, durch die sich Komplexität von Lebenswelten erhöht und soziale Ungleichheit zwischen Menschen verstärkt. Die Beschleunigung des sozialen Wandels trägt zur Erhöhung von Komplexität und durch Komplexität verursachte Effekte bei.


6.3 Ökologische Katastrophen

In der Erdgeschichte sind fünf als ökologische Katastrophe einzuordnende Umbrüche bekannt, bei denen in relativ kurzer Zeit mehr als 50 % aller biologischen Arten ausgestorben sind.(4) Zu den Hauptursachen von Massenaussterben bzw. Faunenwechsel zählen abrupte Klimawechsel. Als Auslöser dieser Krisen sind Vulkanismus magmatischer Großprovinzen (die Entstehung ist noch nicht verstanden) sowie von größeren Asteroiden oder Kometen verursachte Impakt-Ereignisse identifiziert. Diskutiert werden extraterrestrische Ursachen wie Gammablitze und Supernovae.

Unabhängig von Ursachen kollabiert in allen bekannten ökologischen Katastrophen jeweils das Gleichgewicht des Ökosystems Erde. Im Zeitalter des Anthropozän tritt mit menschlicher Kultur ein weiterer Verursacher globaler Krisen auf. Ein vor ca. 8000 Jahren einsetzendes gegenwärtiges Massenaussterben und drohende ökologische Katastrophen sind von Menschen verursacht. Risiken dieser Krise sind für die Zukunft von Natur deutlich weniger bedrohlich als für die Zukunft menschlicher Kultur. Die Natur hat bisher alle globalen Katastrophen überlebt und auf neue Herausforderungen stets neue Antworten gefunden.(5) Bedroht ist vor allem die zukünftige Überlebensfähigkeit menschlicher Kultur. Zum Anthropozäns lassen sich jedoch verschiedene Narrative erzählen.(6)

Entwicklungen der Gegenwart verstärken den Verdacht, dass von menschlicher Kultur verursachte und durch sie beschleunigte Dynamiken des sozialen und kulturellen Wandels Anforderungen stellen, denen Fähigkeiten und Potenziale kognitiver Kompetenz nicht gewachsen sind. Global mehrheitsfähige kluge Antworten auf Krisen der Gegenwart und Herausforderungen der Zukunft sind nicht in Sicht. Menschliche Wahrnehmung reagiert auf diese Entwicklungen mit kognitiver Dissonanz (als unangenehm empfundene Spannungszustände, die es aufzulösen gilt), aus der prinzipielle Handlungsbereitschaft resultiert. Vielfältige und widersprüchlicher Interessen und Einflüsse verhindern Orchestrierungen problemadäquater Strategien und machen Aktionen zersplitterter kollektiver Akteure unwirksam.

-------------------------------------- 

  1. Wikipedia: Unbeabsichtigte Folgen
  2. In Wirtschafts- undSozialwissenschaften wird diese Problematik als Trittbrettfahrerproblem und als Tragik der Allmende diskutiert.
  3. Soziale Differenzierung umfasst
    • horizontale Differenzierung (Spezialisierung und Arbeitsteiligkeit),
    • vertikale Differenzierung (Aufgliederung von Macht- und Herrschaftsstrukturen),
    • räumliche Differenzierung von Lebensräumen,
    • abnehmende Segmentierung und zunehmende Institutionalisierung kulturell bedeutender Funktionen,
    • funktionale Differenzierung (Herausbildung von Teilsystemen, die Funktionen des Gesamtsystems übernehmen). 
  4. Als die sogenannten „großen Fünf“ (Big Five) des Massenaussterbens gelten:
  5. Dass Säugetiere ökologische Nischen verlassen konnten und Menschen in der evolutionären Entwicklung zur dominanten Art wurden, ist auf ein Massenaussterben von Arten zurückzuführen, das eine ökologische Katastrophevor ca. 66 Millionen Jahren an der Kreide-Paläogen-Grenze verursachte.
  6. Gabriele Dürbeck: Das Anthropozän erzählen: fünf Narrative

 
7 Schlussbetrachtungen
 
„Wir müssen uns als Gesellschaft entweder einen normativen Konsens erarbeiten (…) oder wir werden von den technischen Folgen der Entwicklung überrollt werden.“ - Thomas Metzinger, Philosoph  
 
 
7.1 Folgen zunehmender Komplexität
 
Herausforderungen globaler menschliche Kultur sind auf langer Sicht durch Wechselwirkungen zwischen rekursiven Systemprozessen verursacht, auf die über Zeit eine Gesetzmäßigkeit zunehmender Komplexität als exogene Variable einwirkt:
  • Zunehmende Komplexität
    Bei hinreichender Komplexität bringt der biologische Evolutionsprozess als Produkt Menschen mit kognitiver Kompetenz hervor.
  • Genese sozio-kultureller Evolutionsprozesse
    Die Ausstattung mit kognitiver Kompetenz befähigt Menschen zur Erzeugung sozio-kultureller Evolutionsprozesse, in denen Menschen ihre Lebenswelten selbst gestalten. Prozesse der biologischen und der sozio-kulturellen Evolution verlaufen parallel mit unterschiedlichen Dynamiken.
  • Entstehung nicht beabsichtigter Folgen im sozio-kulturellen Evolutionsprozess
    Während biologische Evolutionsprozesse nicht zielorientiert verlaufen, ist menschliches Verhalten von Absichten und Zielen motiviert. 
  • Entstehung neuer Strukturen und Automatismen durch quantitative Prozesse
    Folgen absichtsvoller Einzelhandlungen können das Ökosystem lokal stören. Fähigkeiten von Ökosystem zur Regenerierung vermögen lokale Störungen zu heilen. Erst die Kumulierung von Einzelhandlungen voneinander unabhängig handelnder Individuen generiert bei Überschreitung quantitativer Schwellen nicht intendierte neue Strukturen und Automatismen. 
  • Nicht intendierte Folgen von Innovationen sozio-kultureller Evolution:
    • Die zunehmende Ausdifferenzierungen sozio-kultureller Strukturen erhöht die Komplexität von Lebenszusammenhängen.
    • Kontinuierliche Beschleunigungen sozio-kultureller Evolutionsprozesse beschleunigen das Tempo der Zunahme von Komplexität.
    • Mit wachsender Komplexität nimmt Transparenz von Lebenszusammenhängen ab und steigen Risiken unbeabsichtigter Folgen absichtsvoller Handlungen an.
  • Folgen der kognitiven Revolution
    Die kognitive Revolution ermöglicht die Ausbreitung sozio-kultureller Innovationen, deren nicht beabsichtigte Folgen auf evolutionäre Entwicklungsprozesse insgesamt und auf das Gleichgewicht des globalen Ökosystems nachhaltig störend einwirken. An erster Stelle sind Bevölkerungsentwicklung und Ressourcenverbrauch als Verursacher von Krisen des globalen Ökosystems zu nennen.

Verhalten von Individuen und Organisationen orientiert sich längst nicht immer an Normen ethischer oder juristischer Art. Dieses Problemfeld ist keineswegs unbedeutend. Normenkonformität von Verhalten hat jedoch keinen dominierenden Einfluss auf Ursachen von Krisen des globalen Ökosystems, die aus langfristigen Prozessen sozio-kultureller Evolution resultieren. Innovationen sozio-kultureller Evolutionsprozesse ermöglichen menschliche Eingriffe in Regelkreisläufe des Ökosystems Erde und erzeugen Eigendynamiken, die sich nachhaltig störend auf die Homöostase des Ökosystems Erde auswirken. Kognitive Kompetenz vermag diese Störungen offensichtlich nicht im notwendigen Ausmaß unter Kontrolle zu bringen. Der Geist hat die Flasche verlassen.(1)



Im globalen Kontext hat Komplexität der Gegenwart Dimensionen erreicht, die menschliche Entscheidungs- und Handlungsspielräume an Grenzen führt, die mit keinem historischen Modell vergleichbar sind und für Optimismus nur wenig Raum lassen. Der bedeutende Religionssoziologe Robert Bellah betrachtet in seinem großen Alterswerks Der Ursprung der Religion die Beschleunigung des kulturellen Wandels mit Skepsis:  

  • In Verbindung mit der moralischen Blindheit, was wir den Gesellschaften der Welt und der Biosphäre antun, ist der hochtourige technische Fortschritt ein Rezept für rasches Aussterben [der Menschheit; eigene Ergänzung]. Die Beweislast liegt bei allen, die behaupten, dies sei nicht der Fall. Wir können darauf hoffen und daran arbeiten, dass unser Kurs eine andere Richtung nimmt, aber selbstzufrieden dürfen wir nicht sein.(2)

 
7.2 Der Gang der Geschichte und ihre Anfänge - Anmerkungen zum Buch Anfänge von David Graeber und David Wengrow(3)
 
Bis in die Neuzeit hinein dominieren in europäischer Kultur religiös gespeiste apokalyptische Überzeugungen. Mit Prozessen globaler Expansion europäischer Kultur setzte im 15. Jahrhundert eine Gegenbewegung ein. Europäische Kultur entwickelte gegenüber historischen Kulturen sowie gegenüber als primitiv oder barbarisch verstandenen alternativen Kulturen der Gegenwart ein vermeintlich universal gültiges Selbstverständnis der Überlegenheit utilitaristischer Ethik, die dystopische Ängste verdrängte und Imperialismus, Kolonialismus, Rassismus legitimierte. Politische Programme europäischer Kultur korrespondierten mit wissenschaftlichen Überzeugungen, die Zivilisation als kontinuierlichen Fortschritt verstanden und verstehen, an dem zwar nicht alle Menschen im gleichen Umfang partizipieren, von dem aber alle in Form zunehmenden Wohlstands und verbesserter Lebensqualität vermeintlich profitieren.
 
Kulturmuster europäischer Prägung sind über historisch lange Zeiträume aus zusammenhanglosen Einflüssen und Prozessen zu einem kaum zu entwirrenden Konglomerat zusammengewachsen, das gegenüber alternativen Kulturmustern Dominanz entfalten konnte. Prägenden Einfluss auf dieses Konglomerat hatten und haben 
  • patriarchalische Herrschaft,
  • das Patriarchat legitimierende monotheistische Religion,
  • Herausbildung eines Rechtsverständnisses von Privateigentum, das unfreie Menschen, Tiere, Land und die gesamte Natur als Objekte betrachtet und Macht über diese Objekte legitimiert,
  • Ideen der Aufklärung, die einerseits Einflüsse von Religion zugunsten von Verwissenschaftlichung der Welt zurückdrängen und andererseits Vorstellungen von Fortschritt und Naturbeherrschung durch Kultur entstehen lassen,
  • revolutionäre technologische Entwicklungen, 
  • Prozesse der Digitalisierung, die mit Hilfe intransparenter Algorithmen Kontrolle von Verhalten, Entscheidungen und Handlungen von menschlichen Interaktionen unabhängig machen. Digitalisierung ermöglicht neuartige Verfahren unsichtbarer Machtausübung, die sich menschlicher Kontrolle entziehen, indem sie Schaltstellen individueller Motivation besetzen.
Mit dem Erfolg europäischer Kulturen wuchs deren Macht. Wenn Kontrolle über politische Macht fehlt oder verloren geht, legitimiert politische Macht sich selbst und erzeugt Narrative ihrer Legitimation. Trotz und entgegen aller empirischer Erfahrung von Machtmissbrauch durch Imperialismus, Kolonialismus, Nationalismus, Rassismus, Religion und nicht zuletzt auch Technologie, gelang europäischer Kultur auf Feldern wie Erziehung, Bildung, Wissenschaft, Ökonomie, Konsum etc. im Denken von Menschen eine individuelle und kollektive Internalisierung von Narrativen, die Fortschritt und zivilisatorische Überlegenheit mit europäische Kultur gleichsetzt und europäischer Kultur den Spitzenplatz im Ranking einer von ihr selbst definierten Zivilisation verschaffte.
 
Graeber und Wengrow erkennen Bedarf für eine "konzeptionelle Transformation" des vorherrschenden "großen Bildes" der Geschichte, das entstanden sei, um bestehende Verhältnisse zu rechtfertigen, aber den Fakten nicht standhalte und in weiten Teilen falsch sei. In Anfänge setzen die Autoren Teile eines Puzzles zusammen "in dem vollen Bewusstsein, dass noch kein Mensch über ein auch nur annähernd vollständiges Set verfügt. Die Aufgabe ist gewaltig und die Themen sind so wichtig, dass es Jahre der Forschung und der Diskussion brauchen wird, um die Folgen des Bildes, das wir zu sehen beginnen, auch nur ansatzweise zu verstehen." (Anfänge, S. 17) Graeber und Wengrow suchen nach Antworten auf die Frage, "ob wir die Freiheiten wiederentdecken können, die uns überhaupt erst zu Menschen machen." (Anfänge, S. 21)  
 
Selbstverständlich findet Anfänge keine ungeteilte Zustimmung, sondern provoziert Widerspruch. Mit der Diskussion um Anfänge befasst sich ein separater Post: Der Gang der Geschichte und ihre Anfänge - Anmerkungen zum Buch 'Anfänge' von David Graeber und David Wengrow
 
-------------------------------------- 

  1. Wikipedia: Flaschengeist
  2. Robert Bellah: Der Ursprung der Religion. Vom Paläolithikum bis zur Achsenzeit. Freiburg 2021, Seite 23 (Originalausgabe: Robert N. Bellah: Religion in Human Evolution. From the Paleolithic to the Axial Age. Cambridge Mass. 2011)  
  3. David Graeber, David Wengrow, Anfänge: Eine neue Geschichte der Menschheit, Stuttgart 2022 (Original: The Dawn of Everything. A New History of Humanity, London, New York 2021)
    Graeber und Wengrows Positionen sind anarchistisch grundiert. Innerhalb der anarchistischen Bewegung sind zahlreiche unterschiedliche Strömungen identifizierbar, über die ein Artikel in Wikipedia informiert: Anarchismus 
--------------------------------------
 
8 Änderungshistorie des Posts
 
01.12.2023   Vorbemerkungen umorganisiert als Kapitel 0
                     Kapitel 3.2: Untergliederung eingefügt
                     Kapitel 3.2.1: Ergänzung Neubewertung von Göbleki Tepe
10.12.2022   Kapitel 3: Einleitung ergänzt und Anmerkungen 3, 23, 39 eingefügt 
                     Kapitel 3.3: Einleitende Anmerkung ergänzt
09.12.2022   Neue Anmerkungen eingefügt: 3 in Kapitel 1, 1 und 35 in Kapitel 3
02.12.2022   Ergänzende Anmerkung zur Urbanen Revolution
01.12.2022   Ergänzende Verweise auf Achsenzeit
29.11.2022   Ergänzung Integrierte Informationstheorie in Fußnote 1 zu Kapitel 1
26.11.2022   Änderungshistorie aufgenommen
                     Änderung Einleitung und Verschiebung Jump Break
                     Überarbeitung und Erweiterung Fußnote 1 zu Kapitel 1
20.01.2020   Veröffentlichung Urversion

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen