Link zum Post über den Besuch der Museumsinsel Berlin vom 24.10.2011
Der Lebensraum griechischer Götter ist vergiftet von Inzest, Ehebruch, Vergewaltigung, Promiskuität, Eifersucht, Egoismus, Respektlosigkeit, Rücksichtlosigkeit, Verantwortungslosigkeit, Verrat, Illoyalität, Raub, schwere Körperverletzung, Mord etc. Dieses Untugenden, Laster, Sünden und Verbrechen sind Menschen nicht fremd und können auch nur darum in der Mythologie beschrieben werden. Ein dauerhaftes Zusammenleben von Menschen wäre jedoch in dieser Dimension von Regellosigkeit in komplexeren sozialen Strukturen völlig ausgeschlossen. Für uns drängt sich die Frage auf, was nur mit den griechischen Göttern los ist. Wie kann es zu diesen Auswüchsen kommen? Spinnen die Götter?
Soziales und Kultur
Émile Durkheim verdanken wir die Einsicht, dass erst 'soziale Tatbestände' (von Durkheim als 'fait social' bezeichnet und hier auf 'Soziales' verkürzt) das Verhalten von Menschen in einer regelhaften Art und Weise modelliert, dass ein Zusammenleben in Kontexten und Strukturen möglich wird. Das Soziale ist gewissermaßen das Fundament, auf dem komplexe soziale Systeme aufbauen, in denen auch wir leben. Auch ohne Soziologie wissen oder spüren wir zumindest, dass wir in einer Vielzahl sozialer Systeme leben (z.B. Familie, Beruf, Straßenverkehr, Verein, Partei, Staat etc.), in denen wir jeweils spezifische Rollen einnehmen, die sich stark voneinander unterscheiden können oder sogar widersprüchlich sind. Wie bei jedem System beruht auch die Entstehung sozialer Systeme auf Anpassungsstrategien an relativ stabile und komplexe funktionale Anforderungen die Umgebung an das Überleben von Elementen stellen.
Muster und Prinzipien des Sozialen entziehen sich weitgehend einer konkreten Anschauung (im Unterschied etwa zum kodifizierten Recht oder zu Religionen), weshalb 'soziale Tatbestände' zum Gegenstand soziologischer Methoden werden. Längerfristig überdauernde konkrete inhaltliche Ausprägungen eines Systems 'sozialer Tatbestände', die als eigenständiger Kontext wahrgenommen werden, bilden eine 'Kultur'. Erst mittels Kultur entstehen dauerhafte soziale Strukturen, die unabhängig von einzelnen Individuen sind.
Das Soziale entfaltet im Verhalten von Individuen Wirkungen bzw. Kräfte als vermeintliche Selbstverständlichkeiten oder Regeln eines Verhaltens, die ein Individuum intuitiv als richtig, falsch, angemessen oder unangemessen wertet und von denen ein Individuum intuitiv weiß, ob die Konsequenzen dieses Verhaltens Billigung, Belohnung oder Sanktionierung erwarten lassen. Auf diesen nicht unmittelbar sichtbaren und bewusst erfahrbaren Anteil des Verhaltens macht uns Durkheim aufmerksam, wenn er von 'Kollektivbewußtsein' spricht ('conscience collective ou commune'). Carl Gustav Jung übernimmt dieses Konzept als 'kollektives Unbewusstes' in die analytische Psychologie.
Die griechische Mythologie beschreibt die Götterwelt als eine Welt, in der einzelne 'soziale Tatbestände' durchscheinen, die aber von keiner Kultur getragen sind und darum auch kein System bilden. Eine Welt ohne Kultur kennt kein soziales Verhalten bzw. soziale Interaktionen im Sinne von wechselseitig aufeinander bezogenen und aufeinander einwirkenden Handlungsweisen. Die Götterwelt ist mit einer nicht sesshaften paläolithischen Horde vergleichbar, deren Mitglieder eng miteinander verwandt sind. Individuelles Handeln zielt auf die Errichtung oder den Erhalt von Machtstrukturen, weil diese ungehemmten Hedonismus ermöglichen. Triebhaftigkeit und Machtstreben bilden den Kern der Motivationsstruktur im Handeln der Götter.
Die Entstehung des Sozialen
'Prometheus' (der Vorausdenkende), ebenso wie 'Zeus' ein 'Titan' der zweiten Generation (das Verwandschaftsverhältnis entspricht Cousins), wurde zum Freund und Kulturstifter der Menschheit, weil er 'Zeus' nicht als Oligarchen akzeptieren wollte. Nachdem 'Prometheus' den Menschen das Feuer gebracht hat, das 'Zeus' ihnen zuvor verweigert hatte, strafte ihn 'Zeus' für diesen Frevel, indem er ihn im Kaukasus an einen Felsen fesseln ließ, wo der 'Adler Ethon' über Jahrhunderte täglich von 'Prometheus' nachwachsender Leber fraß, bis 'Herakles' schließlich 'Prometheus' befreite. Aber auch die Menschen kamen nicht ungeschoren davon. Das Feuer konnte 'Zeus' den Menschen nicht mehr nehmen, aber er ließ ihnen die 'Büchse der Pandora' bringen, aus der alle Übel in die Menschheit entwichen. Allein die Hoffnung blieb zurück.
'Zeus' ist keineswegs ein Menschenfreund, aber die Existenz der Menschen vergrößert die Sphäre seiner Macht, was 'Zeus' gefällt. 'Zeus' erkennt jedoch, dass die Sterblichen zwar über die Fähigkeit verfügen zu leben, aber nicht gemeinschaftlich zusammenleben können, solange ihnen Scham und Mitgefühl fehlen und sie sich deshalb gegenseitig töten. Das gefällt 'Zeus' nicht. Er will die Menschen nicht wieder verlieren, weil damit der Raum seiner Macht kleiner würde. 'Zeus' lässt den Menschen die Fähigkeiten zu Scham und Mitgefühl bringen und unter den Menschen im Unterschied zu allen anderen Fähigkeiten gerecht (!) verteilen. Götter benötigen diese Fähigkeiten nicht. Sie sind nämlich werder sterblich noch zum Zusammenleben in Gemeinschaften gezwungen. Um überhaupt leben zu können, müssen Sterbliche Gemeinschaften bilden, obwohl sie von Natur aus nicht gemeinschaftsfähig sind. Erst das Soziale und damit auch die Kultur ermöglichen das Leben in Gemeinschaften.
Im Unterschied zum Verhalten der Sterblichen wirkt auf das Verhalten der Göttern kein kulturelles System modellierend ein. Das noch nicht von kulturellen Artefakten verzerrte Verhalten der Götter verweist daher auf Vorstellungen eines urtümlichen bzw. natürlichen Verhaltens und assoziiert ein Verständnis ihres Verhaltens als 'Rohdatenmaterial' universeller Kräfte. Wenn das so ist, lassen sich aus dem Verhalten in der Götterwelt Annahmen über universelle Grundmuster menschlichen Verhaltens isolieren. Muster des 'kollektiven Unbewussten', die über Epochen, Sprachen und Kulturen hinweg auftreten, bezeichnet Jung als 'Archetypen'. Die griechische Mythologie der 'Titanomachie' (Titanenkampf) und 'Gigantomachie' (Gigantenkampf) deckt drei archetypische Urkonflikte auf.
1. Der Konflikt zwischen den Geschlechtern
Ein durchgängiges Thema ist in immer wieder neuen Konstellationen der Konflikt zwischen den Geschlechtern, bei dem es sich auch um einen Konflikt zwischen männlichem und weiblichem Prinzip handelt.
'Uranus', 'Zeus' und andere männliche Protagonisten stehen als Phänotypus für das männliche Prinzip. Diese Protagonisten sind rohe, gewalttätige und monsterhafte Typen, Kampfmaschinen ihres Strebens nach Dominanz. Ihre Stärke beruht nicht auf Intelligenz, sondern auf Kraft und Gewalt. Sofern sie Dominanz erreichen, ist diese von Vergänglichkeit bedroht. Die nachfolgende Generation kämpft um Dominanz und wird diese auch erreichen, wenn das Aufwachsen einer Nachfolgegeneration nicht verhindert werden kann.
Als Ehefrau und Mutter stehen 'Gaia' und auch 'Hera' als Phänotypus für das weibliche Prinzip. Sie bringen Leben hervor, aber sie rächen auch, sagen die Zukunft voraus und greifen schließlich in die Gestaltung der Zukunft ein. 'Gaia' und 'Hera' verfügen über spezifische weibliche Macht, die auf Klugheit beruht und die Mittel von List und Intrige einsetzt. Ob sich weibliche Macht oder männliche Macht überlegen zeigt, ist von der jeweiligen Situation abhänigig. Durchsetzen kann sich über die Zeit weder die eine, noch die andere Macht. Taktische Koalitionen sind möglich, aber echte Kooperationen bzw. Synergien kommen nicht zustande. Die Konflikte zwischen den Machtprinzipien haben oft neutralisierende Wirkung.
Der Konflikt zwischen den Geschlechtern ist ein antiker Topos, der die Menschen offensichtlich bereits in der Antike beschäftigt und der bis heute seine Bedeutung nicht eingebüßt hat. Die griechische Mytholgie erklärt diesen universellen Konflkt aus Inkompatibilitätsproblemen zwischen den in den jeweiligen Geschlechtern wirkenden Prinzipien. Ehemänner sind zwanghaft untreu, ungeachtet der Probleme, die Untreue nach sich zieht. Frauen agieren gegen ihre dominaten Ehemänner und scheuen sich nicht, ihre Kinder in diesen Konflikt hineinzuziehen, wobei dem jeweils jüngsten Sohn eine besondere Rolle zufällt. Kinder lassen sich andererseits in diesen Konflikt hineinziehen, nicht weil sie ihrer Mutter helfen wollen, sondern um ihre eigenen Interessen in einem weiteren universellen Konflikt durchzusetzen.
2. Der Konflikt zwischen den Generationen
Griechische Mythologie thematisiert den schicksalhaften Kampf um die Macht zwischen den Generationen als Universalie. Das Orakel erkennt diese Schicksalhaftigkeit, weshalb sich die Weissagung zwangsläufig einstellt. Im Unterschied zum Orakel muss jede Generation aufs Neue ihre Erfahrungen in diesem Kampf machen, ein Indiz für Zwanghaftigkeit und fehlende Lernfähigkeit.
Bemerkenswert ist die Haltung der Frauen gegenüber ihren Ehemännern. Nach Abschluss der Reproduktion unterstützen sie ihre Kinder im Kampf um Dominanz gegen ihren jeweiligen Vater, der seine Macht nicht freiwillig an die nachfolgende Generation weitergibt und die ihm darum seine Kinder im Kampf abringen müssen.
3. Der Konflikt um Dominanz innerhalb von Generationen
Dass der Kampf um Vorherrschaft bzw. Dominanz innerhalb einer Generation bereits biologisch angelegt ist und ein Kampf um das Recht der Reproduktion ist, mögen die Griechen noch nicht so deutlich gesehen haben. Erkannt haben sie jedoch, dass
- dieser Kampf von jeder Generation aufs Neue geführt wird, weil er unausweichlich ist
- als Ergebnis dieses Kampfes Ungleichheit entsteht.
Dominante Akteure beanspruchen
(a) Beherrschung bzw. Unterwerfung der Unterlegenen,
(b) bevorzugte Bedienung mit knappen Ressourcen,
(c) bevorzugter oder alleiniger Zugang zu besonders begehrten Ressourcen, (d) das Recht zur Reproduktion der eigenen Art.
In allen drei Archetypen geht es im Kern um das Streben nach Macht und um Einflussnahme auf die Machtverteilung, also um Politik. Poliik dient in der Götterwelt der Durchsetzung privater Ziele. Für Sterbliche, die in der 'Polis' (Stadtstaat) leben, erweitert sich die Semantik von Politik um Themen des Aufbaus, des Erhalts und der Veränderung der öffentlichen und gesellschaftlichen Ordnung der 'Polis'. Um einen Blick auf diese spannenden Themen an den Wurzeln von Kultur zu wagen, bedarf es einen weiteren Artikels.
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