Montag, 5. Februar 2007

Marathonstudie - Ist Laufen schädlich? (letztes Update: 05.05.2013)


Teilnehmer und Projektleiter der Marathonstudie vor dem Düsseldorf-Marathon 2006
Koronare Ereignisse zählen noch immer zu den größten Risiken in einem fortgeschrittenen Alter. Um Risikofaktoren früher zu erkennen und die Prognosefähigkeit koronarer Ereignisse zu verbessern, führt das Universitätsklinikum Essen seit dem Jahr 2000 die "Heinz Nixdorf RECALL-Studie" durch. Um den Einfluss von Ausdauersport auf die koronare Situation bewerten zu können, sollen zusätzlich Daten von Marathonläufern erhoben und mit den Daten einer vergleichbaren Gruppe der Durchschnittsbevölkerung abgeglichen werden.

Probanden der im Jahr 2005/6 durchgeführten „Marathonstudie“ sind langjährige männliche Marathonläufern der Altersgruppe ab 50 Jahren, die in mehreren Durchgängen von einem äußerst engagierten Team absolut gründlich und mehrfach untersucht werden. Die Probanden verpflichten sich zur Teilnahme am Düsseldorf-Marathon 2006, damit die Belastung der Wettkampfsituation in die Untersuchung einbezogen werden kann. 

Das Datenmaterial der Untersuchung wirft viele Fragen auf. Erste Ergebnisse sind nicht nur überraschend, sondern auch erklärungsbedürftig. Obwohl belastbare Antworten fehlen, formulieren etliche Medien schon bald nach den ersten Veröffentlichungen vermeintliche Erkenntnisse, gemäß denen intensiv betriebener Laufsport koronare Herzschäden provoziert. Nicht-Läufer vermuteten oder wussten schon lange, dass intensives Laufen nicht gesund sein kann. Das sagt ihnen bereits ihr 'gesunder Menschenverstand', ohne dass bislang wissenschaftliche Beweise vorlagen. Die Marathonstudie scheint nun die Beweislage zu liefern.

Gemäß medizinischem Standard werden koronare Herzkrankheiten und eine fortgeschrittene Arteriosklerose, die das Infarktrisiko erhöht, mit dem Einfluss messbarer spezifischer individueller Risikofaktoren erklärt. Die ab 1948 in den USA durchgeführte "Framingham-Studie" identifiziert eine Reihe von Risikofaktoren, insbesondere Bluthochdruck, erhöhtes LDL-Cholesterin, Rauchen, Übergewicht, Bewegungsmangel, Diabetes mellitus, kontinuierliche Ernährungsfehler etc. 

Im Rahmen dieses Posts kann lediglich auf die Komplexität von Risikofaktoren aufmerksam gemacht werden, ohne diese Aspekte weiter zu vertiefen. Angemerkt sei zumindest, dass zwei Klassen von Risikofaktoren unterschieden werden, nämlich beeinflussbare und nicht beeinflussbare. 
  • Alter, männliches Geschlecht und genetische Veranlagung zählen zu den nicht beeinflussbaren Risikofaktoren einer Arteriosklerose. Mit zunehmenden Alter bedenkt die Natur männliche Personen mit zunehmenden arteriosklerotischen Veränderungen. Kommen noch genetische Faktoren hinzu, verdoppelt sich das Pech.
  • Bzgl. der beeinflussbaren Risikofaktoren unterscheidet die Literatur zwei Unterklassen:
    (a) Risikofaktoren, deren Korrektur die Prognose nachweislich verbessert, hierzu gehören Rauchen, erhöhtes LDL-Cholesterin und Bluthochdruck sowie
    (b) Risikofaktoren,
    deren Korrektur die Prognose wahrscheinlich oder vermutlich verbessert. Übergewicht, Bewegungsmangel, Stress und einige weitere Faktoren sind dieser Unterklasse zugeordnet. 

Dass Ausdauersport die körperliche Fitness erhöht und gleichzeitig das Risiko des Auftretens kardiologischer Ereignisse signifikant reduziert, kann als unstrittig gelten. Insbesondere Ausdauersport wird eine hohe prophylaktische Bedeutung zugemessen. Für diese allgemein akzeptierten Zusammenhänge fehlen bislang belastbare Nachweise in einem wissenschaftlichen Sinne, wie sie für medizinische Behandlungsleitlinien erforderlich sind. Weitgehend ungeklärt ist zudem, in welcher Dosierung Ausdauersport gesundheitsfördernd ist bzw. ab welcher Schwelle und mit welchen Auswirkungen Ausdauersport u. U. als gesundheitsschädigend erweist. Mit der Marathonstudie ist die Erwartung verbunden, diese Lücken zumindest teilweise schließen zu können.   

Erste Ergebnisse der Marathonstudie zeigen, dass die meisten bekannten Risikofaktoren koronarer Ereignisse in der Läufergruppe signifikant niedriger sind als bei der nicht laufenden Vergleichsgruppe der Durchschnittsbevölkerung. Über lange Zeiträume kontinuierlich betriebener Ausdauersport hat unmittelbaren und mittelbaren Einfluss auf viele Faktoren. Das Gewicht, Blutdruck, LDL nehmen ab. Stress wird leichter bewältigt, das Ernährungsverhalten ist besser und Raucher sind eher selten unter Sportlern zu finden. Das Risikoprofil von Marathonläufern zeigt eine drastisch verbesserte Prognose hinsichtlich der Eintrittswahrscheinlichkeit eines kardiologischen Ereignisses. Soweit entspricht dieses Ergebnis den Erwartungen. Entgegen der Erwartung zeigt überraschenderweise die Läufergruppe gegenüber den Nicht-Läufern statistisch mindestens die gleiche, in etlichen Fällen aber auch einen signifikant höheren Grad koronarer Verkalkung, die als das Hauptrisiko koronarer Ereignisse gilt.

Die mit der Marathonstudie aufgedeckte Paradoxie verleiht nicht nur den Untersuchungen der Studie weltweite Beachtung, sondern weckt auch Zweifel an der gesundheitsfördernden Wirkung des Ausdauersports und insbesondere des Marathonlaufs. Presse und Laienmedien transportieren diese „Sensation“ emphatisch in die Öffentlichkeit und liefern damit allen ohnehin Sportresistenten ein willkommenes Alibi für ihre Sportenthaltsamkeit. Läufer geraten dagegen unter einen verstärkten Rechtfertigungsdruck, weil sie sich vermeintlich selbstschädigend gegen ihre Gesundheit verhalten und sozialschädigend die Gesundheitskosten erhöhen.

Die Zusammenhänge der Marathonstudie lassen sich nicht ignorieren. Das Erklärungsmodell dieser Zusammenhänge scheint jedoch komplex und mehrdimensional zu sein. Ein Erklärungsmuster, das moderaten Ausdauersport als gesundheitsfördernd erklärt und Marathonlauf als gesundheitsschädigend etikettiert, ist eine sehr schlichte Konstruktion, die gerade darum zunächst mit ihrer Plausibilitätskraft überzeugt. Andererseits ist bei komplexen Zusammenhängen die Belastbarkeit einfacher Erklärungsmuster grundsätzlich verdächtig, weshalb die Gültigkeit von Korrelationen und Stärke des Zusammenhangs von Variablen mittels methodisch akzeptierter Verfahren zu überprüfen ist. Wenn das Erklärungsmuster Gültigkeit beansprucht, müssen die Schwellenwerte benannt werden, ab der "gesunder Sport" umschlägt in "krank machenden Sport". Über Schwellenwerte erfahren wir jedoch nichts.

Über die verwendeten Methoden der Korrelationstests liegen keine Informationen vor. Ohne Kenntnis des aktuellen Standes der Hypothesenbildung und ihrer Überprüfung durch Methoden wissenschaftlicher Forschung lassen sich Einwände nur sehr vorsichtig bzw. ohne Anspruch auf Beweiskraft formulieren und haben darum bestenfalls heuristischen Wert. Mit dem Bewusstsein dieser Einschränkung sind die nachfolgenden eigenen Überlegungen zu vermeintlichen Korrelationen formuliert und ist der Entwurf einer Sekundäranalyse mit einer erweiterten Hypothesenbildung skizziert.

1.  Exkurs über populäre Scheinkorrelationen[1]

Bekanntlich und nachweisbar ist in Regionen mit einem erhöhten Aufkommen von Störchen die Geburtenrate ebenfalls erhöht. Dass der Storch nicht die Kinder bringt, wissen wir spätestens ab einem gewissen Alter. Dass Störche die Fruchtbarkeit oder die Spermienqualität bei Menschen verbessern, wird auch niemand ernsthaft annehmen.
Die Entlarvung der Korrelation zwischen den beiden Variablen „Storchpopulation“ und „Geburtenrate“ als Scheinkorrelation, die keine Kausalbeziehung aufweist, ist in diesem Fall trivial. In der Realität lässt sich bei komplexen Fragestellungen die Kausalität zwischen Variablen keineswegs immer trivial nachweisen oder entlarven. Zu einer nach wissenschaftlichen Kriterien belastbaren Beantwortung solcher Fragen bedarf es im Gegenteil anspruchsvoller Methoden, die außerhalb des Alltagsdenkens liegen und deren Anwendung und Ergebnisse mitunter sogar Konflikte gegenüber den im Alltagsdenken verhafteten kognitiven Strukturen produzieren.
Die Geschichte berühmter Irrtümer in der empirischen Sozialforschung weist mit Émile Durkheims epochalem Werk über den Suizid[2] ein besonders prominentes Beispiel aus, das Generation nachfolgender Soziologen zu immer wieder neuen empirischen Forschungen und Veröffentlichungen motiviert hat, so dass der Suizid zu einem intensiv untersuchten und häufig zitierten soziologischen Thema geworden ist, dem Durkheim bis heute einen beträchtlichen Anteil seines Rufs als einer der „Väter der Soziologie“ verdankt. Durkheims Bedeutung und seine Interpretationen bestimmter Beobachtungen zum Suizid haben vermutlich das eher zweifelhafte Ansehen einer gewissen Lebensfeindlichkeit der protestantischen Ethik verstärkt, was mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht in Durkheims Absicht lag.
Neben vielen weiteren und bahnbrechenden Ergebnissen seiner Untersuchungen über den Suizid hat Durkheim eine Suizidtypologie entwickelt und für den Typ des „anomischen“[3] Selbstmords unter anderem einen Zusammenhang zwischen der Konfession und der Selbstmordhäufigkeit interpretiert. Die erste große kritische Würdigung dieser Interpretation stammt von Maurice Halbwachs, einem ehemaligen Mitarbeiter Durkheims, der 1930 in seinem Werk „Les causes de Suicide“ aufzeigt, dass der sog. „anomische Selbstmord“ nicht über die eindimensionale Variable „Konfession“ variiert, sondern über eine komplexe und aus einem Bündel von Sozialindikatoren zusammengesetzten Variable, die sich als „Lebensstil“ umschreiben lässt. Gemäß Stand soziologischer Erkenntnis variiert die Suizidrate über den "Lebensstil".
Das Verständnis von Suizid als Sozialindikator für komplexe, mehrdimensionale Kausalzusammenhänge hat sich in der empirischen Sozialforschung durchgesetzt und wird von einigen Sachverhalten belegt, deren Erklärung sich einer eindimensionalen Alltagskausalität entziehen. Laut WHO-Statistik[4]
· ist die Suizidrate in der Schweiz signifikant höher als in Deutschland[5],
· hat Finnland die höchste Suizidrate in West-Europa,
· ist im europäischen Raum in Osteuropa die Suizidrate am höchsten,
· verteilt sich Suizid global insbesondere auf Europa, große Teile Asiens, Australien und Neuseeland.

2.  Einwände und Hypothesen

1.  Bezogen auf das Aggregat „Gesamtbevölkerung“ sind die Aussagen über koronare Risikofaktoren gemäß Framingham-Studie unstrittig. Innerhalb von Teilaggregaten (des Gesamtaggregates) reichen u.U. die identifizierten Risikofaktoren der Framingham-Studie nicht aus, um die dominanten Risikofaktoren eines spezifischen Aggregats zu erfassen.
2.  Die Form einer verkürzten und tendenziösen Berichterstattung über die Marathonstudie in den Massenmedien begünstigt eine verzerrte Wahrnehmung vermeintlicher Kausalitäten, diskreditiert den Marathonsport und verleitet zu irrtümlichen Schlussfolgerungen.
3.  Der Scope medizinischer Fragestellungen reicht möglicherweise nicht aus, um die Dominanz der Risikofaktoren aller Risikogruppen berücksichtigen zu können. Nur eine holistische Vorgehensweise, über die Grenzen wissenschaftlicher Disziplinen hinweg, eröffnet den Blick auf alle Risikofaktoren und vermag deren Dominanz nachzuweisen. Da wissenschaftliche Forschung bekanntlich in den Grenzen ihrer Paradigmen stattfindet, und ein Paradigmenwechsel nicht über den freien wissenschaftlichen Diskurs vollzogen wird, sondern über einen revolutionären (Paradigmen sprengenden) Prozess sozial durchgesetzt wird, sind die Chancen für disziplinübergreifende Fragestellungen niedrig.
4.  Dominierende Persönlichkeitsmerkmale beeinflussen als intervenierende Variablen die Korrelation zwischen Marathon und Arteriosklerose. Zur Überprüfung dieser Annahme wird (a) eine Typisierung vorgeschlagen, mittels der sich (b) Hypothesen überprüfen lassen.

3.  Die Argumente im Einzelnen

1.  Annahmen zur Reichweite der Framingham-Studie

Die Marathonstudie stellt die bekannten Risikofaktoren von Koronarerkrankungen nicht in Frage, belegt aber die beschränkte Reichweite des Erklärungsmodells der Framingham-Studie, das in Bezug auf die Gruppe der Marathonläufer versagt.
Bei den Marathonläufern handelt es sich um ein soziales Aggregat, das von der Framingham-Studie nicht erfasst wird. In diesem Aggregat sind die typischen Risikofaktoren nicht nur deutlich schwächer ausgeprägt als bei der Vergleichsgruppe der Gesamtbevölkerung, sondern das Aggregat zeichnet sich darüber hinaus durch eine langfristige und konsequente Beachtung der bewährten Präventivmaßnahmen aus, und lässt darum statistisch eine deutlich günstigere Koronarsituation erwarten.
Die Marathonstudie beweist das Gegenteil und verweist in der Konsequenz auf den Bedarf zur Untersuchung zusätzlicher Risikofaktoren dieses Aggregates, um die aufgedeckten Erklärungslücken zu schließen und das Framingham-Modell zu erweitern.

2.  Annahmen zur öffentlichen Wahrnehmung

Der Begriff „Marathonstudie“ ist zunächst nicht mehr als eine Nominaldefinition für die Untersuchung und eine Etikettierung der Probandengruppe. Marathonlauf ist neben Alter und Geschlecht der Probandengruppe das dominierende und ein sehr griffiges Abgrenzungskriterium des Untersuchungsbereiches.
Anbetracht der weit verbreiteten Skepsis gegenüber dem Trend-Phänomen Marathonlauf sind die populären Massenmedien gerne zu der Veröffentlichung der ersten Erkenntnisse aus dieser Untersuchung bereit. Die Tatsache, dass es gemäß anerkannter wissenschaftlicher Standards noch keine Erklärung für die Befunde gibt, kann nicht verhindern, dass vermeintlich plausible und sehr einfache Kausalerklärungen den Marathonlauf als Ursache nicht nur verdächtigen, sondern als gesicherte Erklärung annehmen. Schließlich hat „man“ schon lange geahnt, dass Marathonlauf nicht gesund sein kann. Die Marathonstudie dient als vermeintlicher Beweis. Eine weitere Beweisführung wird nicht benötigt.
An einer derartigen Populärerklärung ist der Wissenschaftsbetrieb möglicherweise nicht ganz unbeteiligt, womit keine täuschende Absicht unterstellt sein soll. Die Annahme ist vielmehr, dass der Wissenschaftsbetrieb unter wirtschaftlichen Zwängen zu seiner Aufrechterhaltung auf eine Mittelakquisition aus unterschiedlichen externen Quellen angewiesen ist. Als „Marketingmaßnahme“ werden solche Informationen in verdichteter Form veröffentlicht, für die eine hohe Empfangsbereitschaft besteht. Das erzeugt Aufmerksamkeit, steigert die Reputation und wirkt sich positiv auf die Mittelverteilung aus.
Die öffentliche Interpretation dieser Ergebnisse befindet sich außerhalb der Kontrolle des wissenschaftlichen Diskurses und entwickelt ihre eigene Dynamik. Dass dieser Effekt auftritt, ist nicht intendiert, aber er ist vorhersehbar und wird als Artefakt aus den genannten Gründen in Kauf genommen. Manchmal führen halt Umwege schneller zum Ziel als der direkte Weg. Wer mag da schon kleinlich sein.

3. Annahmen zum Scope des Untersuchungsbereiches

Medizinische Forschung bevorzugt „harte“ Faktoren mit einer labormedizinisch nachweisbaren Evidenz. Die Relevanz der eher „weichen“ soziologischen und sozialpsychologischen Faktoren wird nicht bestritten, aber sie liegen nicht im Scope der medizinischen Forschung und bleiben anderen Disziplinen überlassen.
Das Standardmodell wissenschaftlicher Erklärung verlangt eine Beweisführung über Kausalitätshypothesen. Es besteht Einigkeit darüber, dass die angenommene Korrelation zwischen Marathonlauf und Arteriosklerose durch die Überprüfung von Hypothesen mittels belastbarer Methoden vom Artefaktrisiko befreit werden muss, um Gültigkeit von Kausalitätsannahmen nachzuweisen.
Hinweise besagen, dass die Ausschüttung von Stresshormonen, die Erhöhung des Blutdrucks unter Belastung oder vielleicht das Zusammenwirken dieser Faktoren an der Entstehung der erklärungsbedürftigen Untersuchungsergebnisse beteiligt sind. Ob allerdings die Eingrenzung auf die Symptome der Wettkampfsituation für die Erklärung zielführend ist, darf zu Recht so lange angezweifelt werden, wie der Nachweis nicht erbracht ist.
Alternative Erklärungsmodelle, die über den Scope medizinischer Forschung hinausreichen, unterliegen selbstverständlich den gleichen methodischen Anforderungen. Die Beweisführung für ein alternatives Erklärungsmodell kann hier nicht geleistet werden. Darum müssen sich die nachfolgenden Ausführungen auf den Vorschlag eines alternativen Erklärungsmodells mit Hypothesen und Anordnungen zum Hypothesentest beschränken.

4. Vorschlag eines alternativen Erklärungsmodell mit einem breiteren Scope

Der Gegenentwurf eines alternativen Erklärungsmodells geht von der Annahme aus, dass der Scope des medizinischen Erklärungsmodells zur Erklärung der Problematik nicht ausreicht und darum ein breiterer Scope erfolgversprechender ist. Der Widerspruch zu den Erkenntnissen der Framingham-Studie stützt diese Annahme.
Zur Falsifizierung des medizinischen Erklärungsmodells könnte ein Hypothesentest über folgende Aussagen geeignet sein:
1. Wenn die Laufbelastung ursächlich am erhöhten Score beteiligt ist, muss der Score Faktor
a) mit der Anzahl der gelaufenen Marathons pro Zeitintervall korrelieren,
b) mit der Menge der Laufkilometer pro Zeitintervall korrelieren,
c) bei Ultralangläufern höher sein als bei reinen Marathonläufern.
2. Eine fehlende oder niedrige Korrelationsstärke falsifiziert dagegen das medizinische Erklärungsmodell.
Eine scheinbare Paradoxie zwischen den Untersuchungsergebnissen und den Erkenntnissen der Framingham-Studie lässt sich auflösen mit dem Nachweis intervenierender Variablen, die bei dieser Probandengruppe einen dominierenden Einfluss ausüben.[6]
Als intervenierende Variable wird die Persönlichkeitsstruktur der Probanden angenommen, für deren Klassifizierung folgende Typologie vorgeschlagen wird.
a)  Der Abenteurer
befindet sich ständig auf der Suche nach neuen Reizen und den Grenzen der eigenen Leistungsfähigkeit. Die Herausforderung des Marathonlaufs ist zunächst zur Befriedigung der Abenteurerlust geeignet. Mit der Routine einiger Marathonläufe schwächt sich dieser Reiz ab, und der Abenteurer begibt sich auf die Suche nach neuen Reizen. Er ist kein Marathonsammler.
b)  Der Sammler
verbucht eine hohe Anzahl von Marathonläufen als persönlichen Erfolg. Herausragende Wettkampfleistungen haben untergeordnete Bedeutung und stehen hinter dem Sammeln zurück. Eine Sinnstruktur erfährt das Sammeln mittels Kriterien, die sich aus persönlichen Vorlieben begründen.
c)  Der Meditierende
begibt sich mit dem Langstreckenlauf in einen meditativen Zustand des Gleichgewichtes und der inneren Befriedigung. Man wird ihn häufig bei Landschaftsläufen und auf der Ultralangstrecke antreffen. Städtemarathons sind nicht seine Sache. Er kann durchaus als Sammler gelten, aber das Sammeln steht für ihn nicht im Vordergrund.
d)  Der modische Trendfolger
kann sich dem Marathonlauf schlecht entziehen, wenn seine Bezugsgruppen bereits beim Marathonlauf angekommen sind. Wenige Teilnahmen reichen ihm als Beweis dafür, dass er es ebenfalls kann, wenn er es will. Spätestens wenn die Karawane weiter zieht, lässt er den Marathonlauf als eine Episode hinter sich.
e)  Der Manager
ist sich bewusst, dass er im Alltag ein ungesundes Leben führt und benötigt Ventile, um Druck abzubauen. Anbetracht seines Ehrgeizes und seines Leistungswillens ist für ihn der Marathonlauf der geeignete Ausgleich, bei dem er seine hohe Selbstmotivation weiter ausleben kann. Auf der Ultrastrecke wird man ihn eher selten antreffen, weil der Zeitaufwand für den Ultralauf zu hoch und die Zieldefinition unscharf ist, aber auf der Marathonstrecke trifft man ihn regelmäßig.
Vom Manager wird angenommen, dass er nicht nur ein ausgeprägter Risikotyp ist, sondern sich dessen auch bewusst ist und darum die Teilnahme an der Marathonstudie gesucht hat.
Einen hohen Score hat er nicht wegen, sondern trotz des Laufens. Ohne Laufsport hätten ihn die typischen Risikofaktoren gemäß Framingham-Studie möglicherweise schon früher eingeholt und ein kardiologisches Ereignis provoziert.

4. Fazit

Hinsichtlich des Erklärungsmodells der Framingham-Studie hat die Marathonstudie unzweifelhafte Verdienste, weil sie die aufzeigt, dass dieses Erklärungsmodell zu einfach konstruiert ist. Sie versagt bei abgrenzbaren Aggregaten und kann daher keine universelle Gültigkeit beanspruchen.
Weitgehend unerklärt sind einige durch die Marathonstudie aufgedeckten Befunde. Erklärungen müssen nicht zwangsläufig auf den Marathonlauf oder sein Training als kausale Begründung zurückgreifen. Dass vermeintliche Zusammenhänge mit dem Marathonlauf auf Scheinkorrelationen beruhen könnten, legt eine aktuelle Studie zur Untersuchung von Arteriosklerose nahe.

Gefäßverkalkungen gelten gemäß medizinischem Standardmodell als Phänomen ungesunder Lebensweise in modernen Kulturen. Schon länger ist bekannt, dass starke Gefäßverkalkungen auch bei ägyptischen Mumien auftreten. Als Anomalie galt diese Beobachtung bislang nicht, weil sich Widersprüche zum medizinische Erklärungsmodell mit der Annahme von ungesunder Lebensweise der Herrscherkaste lösen lassen. 

Die renommierte britische medizinische Fachzeitschrift 'The Lancet' veröffentlicht am 10.03.2013 unter der Überschrift 'Atherosclerosis across 4000 years of human history' Forschungsergebnisse einer Studie, die Wissenschaftler der 'University of Missouri-Kansas City' an insgesamt 137 bis zu 4.000 Jahre alte Mumien aus vier unterschiedlichen Kulturen und Regionen durchgeführt haben. Unabhängig von Kulturen, Zeiten, Ernährung und Klima konnten bei mehr als einem Drittel aller Mumien deutliche Kalkablagerungen in mindestens einer großen Arterie nachgewiesen werden. Verkalkungen zeigten sich sowohl bei Mumien von Aleuten-Jägern und von Pueblo-Indianern wie bei peruanischen und ägyptischen Mumien. (Randall Thompson (University of Missouri-Kansas City.) et al., The Lancet, doi: 10.1016/S0140-6736(13)60598-X  Download des Artikels aus 'The Lancet' als PDF)

Weltweites Aufsehen erregten die Ergebnisse einer am 7. April 2013 in 'Nature Medicine' veröffentlichten Untersuchung mit dem sperrigen Titel 'Intestinal microbiota metabolism of l-carnitine, a nutrient in red meat, promotes atherosclerosis'. Die Untersuchung liefert Indizien für die Annahme, dass Anforderungen der Verstoffwechselung von L-Carnitin in rotem Fleisch eine Darmflora begünstigen, durch die L-Carnitin in TMA (Trimethylamin) umgewandelt wird. In der Leber wird anschließend TMA in TMAO (Trimethylamin-Oxid) metabolisiert. Erst bei regelmäßigem Konsum von rotem Fleisch stellt sich eine erhöhte TMAO-Konzentration im Blut ein, die gemäß der zitierten Studie als Auslöser für Arteriosklerose in Verdacht gerät. L-Carnitinpräparate, die gerne als 'Fatburner' im Rahmen von Diäten oder von Ausdauersportlern zur Leistungssteigerung verwendet werden, geraten durch diese Studie ebenso unter Verdacht gesundheitsschädlicher Wirkung wie aktuell wieder angesagte Varianten von 'Low-Carb-Diät'. 

Das Design der 'Mumien-Studie' erfüllt keine strengen Kriterien an wissenschaftliche Untersuchungen, weshalb die Beweiskraft der 'L-Carnetin-Studie' als höher zu bewerten ist. Der auffällige Widerspruch zwischen der 'Mumien-Studie', gemäß der Arteriosklerose unabhängig vom Ernährungsverhalten auftritt, und der 'L-Carnetin-Studie', die Konsum von rotem Fleisch als Auslöser von Arteriosklerose erklärt, bleibt trotzdem erklärungsbedürftig.

Viele Seefische weisen eine hohe intrazelluläre TMAO-Konzentration auf. Dieser Sachverhalt stärkt die 'Mumien-Studie' und macht deutlich, dass entgegen Verlautbarungen auf medizinischer Seite die Bedingungen für die Entstehung von Arteriosklerose bislang unverstanden sind. 

Die Bestätigung von Hinweisen bzgl. des Einflusses von L-Carnitin tte Konsequenzen für Annahmen hinsichtlich des Einflusses von Cholesterin. Die Rolle von LDL, ein gemäß medizinischem Standardmodell Hauptverdächtiger von Arteriosklerose, müsste erneut auf den Prüfstand gestellt werden. 

Interpretationen der aufgeführten Studien stellen das medizinische Standardmodell der Erklärung von Gefäßverkalkung in Frage, was im Ergebnis eine 'Paradigmenkrise' auslösen könnte. Typische 'Paradigmenkrisen' lassen zunächst eine längere, unerbittliche Schlacht um 'Wahrheit' erwarten. Lipdsenker sind immerhin der weltweit umsatzstärkste 'Blockbuster' der Pharmaindustrie. Wie in allen bekannten Paradigmenumbrüchen werden Profiteure eines in die Krise geratenen Paradigmas (in diesem Fall Industrie, 'Wissenschaftler', Kardiologen und sonstige Mediziner) um ihre Pfründe kämpfen.  

5. Empfehlung

Wenn die im Rahmen der Marathonstudie erhobene sozio-psychologische Datenbasis ausreicht, sollte mittels einer Sekundäranalyse ein Test der vorgeschlagenen Hypothesen möglich sein. Voraussetzung ist allerdings die Bereitschaft einer vorurteilsfreien Untersuchung ohne Interessenkollisionen. Je nach Ergebnis einer Sekundäranalyse könnte sich herausstellen, dass die öffentliche Wahrnehmung der Marathonstudie die Marathonszene möglicherweise völlig unbegründet als verdächtig etikettiert und Läufer wie Veranstaltung voreilig ohne Beweise verurteilt. Dass der wissenschaftliche Forschungsbetrieb diese öffentliche Wahrnehmung mit unlauterer Absicht betreibt, darf nicht unterstellt werden. Die Annahme, dass der wissenschaftliche Forschungsbetrieb von dieser öffentlichen Wahrnehmung profitieren könnte, ist jedoch begründbar.


Nachbemerkungen

Grundsätzlich ist hier nicht beabsichtigt, Fragestellungen und Nutzen einer Marathonstudie anzuzweifeln. Die Nachfrage zielt stattdessen auf methodische Aspekte der Interpretation von Ergebnissen dieser Studie.  Zweifel an einigen Annahmen sind aufgrund aktueller Veröffentlichungen durchaus angebracht.

Dass Ausdauersport vielfältige gesundheitsfördernde oder gesundheitserhaltende Wirkungen entfaltet, ist unter Sportlern schon lange bekannt und wird inzischen auch von Medizinern nicht mehr abgestritten. Insofern bestätigt die Marathonstudie Bekanntes. Ob, ab welcher Intensität und aus welchem Grund Ausdauersport und speziell Laufen aus kardiologischer Sicht prinzipiell gesundheitsschädigend ist oder werden kann, bleibt trotz Marathonstudie bislang ungeklärt. Zwangsläufig bleibt daher ebenfalls ungeklärt, in welchem Verhältnis ggf. Vorteile und Nachteile von Ausdauersport zu werten sind, ob sie sich neutralisieren bzw. Vorteile oder Nachteile überwiegen. 

Als Verdienst der Marathonstudie kann gelten, die Bedeutung von Ausdauersport für die gesundheitliche Prävention messbar nachzuweisen und darüber hinaus neue Erkenntnisse hervorzubringen. Nach der Belastung eines Marathonlaufs verweisen das Bild des Ruhe-EKG und der Anstieg der Troponin-Werte vermeintlich auf Symptome eines frischen Herzinfarktes, der wahrscheinlich ohne Kenntnis des Kontextes auch angenommen würde. Tatsächlich tritt jedoch eine schnelle Normalisierung ein, so dass dauerhafte Schäden kaum zu befürchten sind. Wie diese Effekte zu bewerten sind, ist noch nicht abschließend geklärt.

Entscheidungen zum Trainingsumfang muss jedoch nach wie vor jeder für sich selbst treffen, ohne auf medizinische Leitlinien vertrauen zu dürfen. Immerhin hat sich über mehrere Jahrzehnte auch bei Medizinern die Auffassung durchgesetzt, dass Ausdauersport gesundheitsfördernd ist, wobei Empfehlungen gerne mit dem einschränkender Hinweis versehen sind: "... wenn nicht übertrieben wird." Danke, so schlau sind wir selbst. Als Läufer wüssten wir lediglich gerne, wann die "Übertreibung" einsetzt bzw. wie die Schwelle zur "Übertreibung" definiert ist und wie sie kontrolliert werden kann. Wer auf eine Empfehlung von drei Schwimmeinheiten pro Woche gerne verzichtet, sollte besser derartige Fragen an Mediziner vermeiden. Letztlich merken wir als Sportler selbst, wenn wir überzogen haben. Auf diese Erfahrung würden wir gerne mit Hilfe der Medizin verzichten, was wohl vorerst noch ein frommer Wunch bleibt.

Neben der Behandlung von Verletzungen und Fragen der Verletzungsprophylaxe betreffen unsere Fragen an Mediziner die eigene individuelle Risikovorsorge, die wir selbstverständlich betreiben müssen. Die Medizin hilft uns, individuelle Risikosituationen zu erkennen. Bei bestehenden und möglicherweise unerkannten Defekten können in Belastungssituationen schwerwiegende Ereignisse mit u. U. letaler Wirkung auftreten. Ein plötzlicher Herztod, über den mitunter nach Marathonläufen und auch anderen Sportereignissen berichtet wird, ist i. d. R. auf solche unerkannten oder ignorierten Risiken zurückzuführen. Der Sport ist nicht die Ursache, aber er kann bestehende Risiken verstärken und derartige Ereignisse auslösen. In Medien und im öffentlichen Meinungsbild wird selten differenziert gedacht oder berichtet, weshalb im Ergebnis einiges durcheinander gerät. Die gleichen Ereignisse treten viel häufiger im Haushalt, bei trivialen Freizeittätigkeiten oder im Bett auf. Allerdings erregen sie dann kaum öffentliches Aufsehen.

[1] Dieser Exkurs steht exemplarisch für die Komplexitätsproblematik und wirbt für ein „Querdenken“ (über Disziplinen hinweg) als Schlüssel für die Entwicklung eines erfolgversprechenden Erklärungsmodells.
[2] Émile Durkheim, Le suicide, Paris 1897. (Deutsch: Der Selbstmord, Übersetzung von Sebastin und Hanne Herkommer, Luchterthand Neuwied/Berlin 1973.)
[3] Der Begriff „Anomie“ ist ein soziologisches Konstrukt, das in diesem Begriff Phänomene des Verlustes verhaltensmodellierender und -moderierender Einflüsse bündelt und insbesondere im Kontext der Erklärung abweichenden Verhaltens verwendet wird.
[5] Gemäß einer Schweizer Studie liegt in einigen Kantonen mit überwiegend katholischem Bevölkerungsanteil die Suizidrate höher als der Mittelwert der Schweizer Kantone.
[6] Muster einer genetischen Ausstattung oder sozio-kultureller Erblasten werden in dem Alternativvorschlag ebenfalls vernachlässigt. Ihr Einfluss wird nicht abgestritten, sondern als nicht dominierend angenommen.




Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen