Mittwoch, 17. April 2013

Leben, Materie, Sprachspiele – Anmerkungen zur Semantik von Begriffen(1)

Die Unterscheidung zwischen ‚Lebewesen’ (lebende Organismen) und ‚toter Materie’ (unbelebte Gegenstände) bezeichnet im alltagssprachlichen Denken intuitiv unterschiedliche Entitäten bzw. Wirklichkeiten sui generis. Der praktische Nutzen dieser Unterscheidung ist unstrittig. Sobald wir jedoch auf die Semantik der Begriffe schauen, eröffnen sich spannende Ausblicke auf Grenzbereiche unseres Denkens, die über mehrere tausend Jahre Philosophiegeschichte vermessen wurden, ohne dass abschließende Entscheidungen getroffen werden konnten. Über die lange Tradition dieser Diskussion können wir immerhin eine Gewissheit konstatieren: Wissenschaftliche Aussagen basieren auf impliziten Prämissen, die sich jeder Beweisbarkeit entziehen. Eine Abgrenzung von Aussagen des Alltagsdenkens ist daher schwierig bzw. nur dank willkürlicher Postulate möglich, die keine unumstößlichen Wahrheiten bilden.
Vor diesem Hintergrund muss dieser oberflächliche Artikel bescheiden bleiben, wenn er versucht, das semantische Feld der Begriffe ‚Lebewesen’ und ‚unbelebte Gegenstände’ jenseits ihres alltagssprachlichen Gebrauchs auszuleuchten.

Was verstehen wir unter Materie?


Als ‚Materie’ bezeichnen wir alles, was eine Masse besitzt und beobachtet werden kann. Diese scheinbar sehr einfache Definition ist Gegenstand über Jahrtausende zurückreichender philosophischer Diskussionen ontologischer und erkenntnistheoretischer Art. Ontologische Fragen nach Grundstrukturen der Wirklichkeit und erkenntnistheoretische Fragen nach Grenzen sicheren Wissens ranken um das als ‚Leib-Seele-Probleme’ diskutierte Verhältnis von mentalen und physikalischen Zuständen. Bezüglich der Frage, ob das Physische und das Mentale zwei unterschiedliche Substanzen darstellen oder als Einheit zu verstehen sind, lassen sich zwei gegensätzliche Positionen identifizieren, die ‚dualistische Antwort’ und die ‚monistische Antwort’. (Erwähnt sei lediglich, dass in der Philosophie auch nicht-interaktionistische Varianten des Substanzdualismus auftreten.)

Die Annahme eines ‚Substanzdualismus’ deckt sich mit intuitiver menschlicher Alltagserfahrung, in der sich physische und mentale Phänomene ohne Zweifel unterscheiden lassen und die beiden Substanzen miteinander interagieren.

Der ‚Monismus’ behauptet die Existenz von nur einer Substanz, wobei die monistische Ausrichtung in drei Ausprägungen auftritt:
  • Am weitesten verbreitet ist der ‚Materialismus’, für den nur physikalische Objekte real sind. Dass sich mentale Zustände nicht vollständig mit Prozessen im Gehirn erklären lassen, wird überwiegend einer prinzipiell überwindbaren Unreife von Forschungsprogrammen zugeschrieben.
  • Für den ‚Idealismus’ sind dagegen nur der Geist und mentale Zustände real.
  • Mitunter wird eine dritte, für uns nicht erkennbare, Substanz mit den Eigenschaften Materie und Geist angenommen.

Was verstehen wir unter Lebewesen?


Um Lebewesen zu definieren, müssen wir auf Merkmale zurückgreifen, die als Bedingung für die Existenz von Leben gelten. Konsens besteht über drei wesentliche Eigenschaften, die als Kriterium von Leben vorliegen müssen:
  • Stoffwechsel (Metabolismus)
  • Fähigkeit zur Selbstreproduktion
  • Evolutionäre Entwicklung mit genetischer Vielfalt
Bei genauerer Betrachtung stellen sich Unschärfen ein:
  • Viren sind von dieser Definition ausgeschlossen, weil sie für die Reproduktion auf eine Wirtszelle angewiesen sind und den Stoffwechsel von Lebewesen nutzen.
  • Da viele Organismen ihre eigene Mikroumgebung schaffen, bleibt die physische Grenze zwischen einem Organismus und seiner Umgebung unscharf.
  • Die Autarkie von Lebewesen ist aufgrund komplexer Wechselwirkungen mit ihrer  Umgebung unvollständig.
  • Eigenschaften und Organisationsformen von Lebewesen kommen auch bei unbelebten Systemen der Natur und Technik vor (jedoch eher unvollständig)
Selbst eine empirische Beschreibung von ‚Leben’ erweist sich bereits als nicht problemfrei. Noch unübersichtlicher und letztlich unverständlicher geraten Auffassungen von ‚Leben’ unter ontologischen Aspekten. In der Neuzeit lassen sich zwei Grundauffassungen von ‚Leben’ identifizieren, die an ‚idealistischen’, respektive ‚materialistischen’ Ausrichtungen der Philosophie anknüpfen:
  • In Anlehnung an religiöse Vorstellung deklariert das Lager der ‚Idealisten’ eine als ‚vis vitalis’ bezeichnete zusätzliche Qualität aller organischen Erscheinungsformen, weshalb diese Ausrichtung das Etikett ‚Vitalismus’ schmückt.
  • Das Lager der ‚Materialisten’ will dagegen Leben alleine aus physikalischen Gesetzmäßigkeiten von Materie erklären. Das entsprechende Etikett wird als ‚Mechanizismus’ bezeichnet.
Eine Synthese beider Modelle bildet der ‚Organizismus’, der Leben aus Prinzipien von Physik und Chemie erklärt, aber Leben zusätzliche (‚emergente’) Eigenschaften zuspricht.(2) Seit dem 19. Jahrhundert gilt das vitalistische Modell in der Biologie als überholt. Zur Herstellung organischer Substanzen bedarf es gemäß neuerer Denkweise keiner Lebenskraft oder Lebensenergie. (3)


Systemtheoretische Erklärungsmodelle von ‚Leben’


Systemtheorie versteht ‚Geist’ nicht als Eigenschaft eines Organs (Gehirn) oder Individuums (Mensch), sondern als Eigenschaft lebender Systeme als Ganzem. Was als ‚Geist’ beschrieben wird, sind Systemfähigkeiten zum Transport und zur Speicherung von Informationen. Lebende Systeme haben evolutionär mehrere Mechanismen entwickelt, um über Interaktion gewonnene Erfahrungen zu speichern, zu konservieren und zu transportieren: Genstrukturen, Hirnstrukturen, Sprache, Schrift.

Die chilenischen Neurobiologen Humberto Maturana (geb. 1928) und Francisco Varela (1948-2001) regen eine Übertragung von Konzepten der Kybernetik auf biologische Systeme an. Ihr Konzept der ‚Autopoiese’ betrachtet ‚Selbsterzeugung’ in rekursiv organisierten Systemen als charakteristisches Organisationsmerkmal lebender Systeme. Das funktionale Zusammenwirken von Elementen dieser Systeme bildet die Organisation, in der ihre Elemente erzeugt werden. Die Aufhebung einer Trennung zwischen Erzeuger und Erzeugnis unterscheidet gemäß Konzept der ‚Autopoiese’ lebende von nicht-lebenden Systemen.

Maturanas Credo „Wir erzeugen die Welt, in der wir leben, buchstäblich dadurch, dass wir sie leben“, markiert die Position eines radikalen Konstruktivismus. Realität gilt als eine individuelle Konstruktion aus Sinnesreizen und Gedächtnisleistung. Unsere Wahrnehmung täuscht uns zwar vor, Abbilder einer bewusstseinsunabhängigen Realität zu liefern, aber  tatsächlich ist Wahrnehmung vollständig subjektiv, weshalb Objektivität im Sinne der Übereinstimmung eines wahrgenommenen Bildes mit einer externen Realität unmöglich ist.

Diese Art von Selbsttäuschung ist kein einfacher Irrtum, sie beruht auf kognitiven Mechanismen unserer Wahrnehmung. Um unter Zeitmangel spontane Entscheidungen treffen zu können und Handlungsfähigkeit herzustellen, sind implizite Annahmen über objektive Realität und kausale Beziehungen zwischen Objekten dieser Realität äußerst hilfreich. Dieser Mechanismus hat sich offensichtlich evolutionär bewährt, er beschränkt aber andererseits unsere Fähigkeiten zur Bewertung von Handlungszusammenhängen. Treten als Ergebnis unserer Handlung offenkundige Irrtümer oder Fehler auf, schützen uns ebenfalls kognitive Mechanismem vor Selbstzweifeln. Wir suchen die Fehler nicht in unserer eigenen Wahrnehmung oder unserem Handlungsprogramm, sondern identifizieren Fehler bei beteiligten Akteuren oder den Randbedingungen, z.B. in Form falscher oder unzureichender Informationen, schlechtem Material, plötzlichen Wetterumschwüngen etc. Maturanas/Varelas radikaler Konstruktivismus wendet sich gegen derartigen naiven Realismus, der Welt als Ansammlung beobachterunabhängiger Objekte auffasst, auf die wir per Handlungsprogramm Einfluss nehmen. Das Konzept der ‚Autopoiese’ betrachtet dagegen Welterzeugung als einen Prozess des Lebensvollzuges.

Begriffe und Konzepte von ‚Autopoiese’ werden auch in anderen Kontexten verwendet, etwa in der Soziologie (Niklas Luhmann), in der Literaturwissenschaft und im Journalismus.

Ergänzend sei angemerkt, dass energetische Prozesse biologischer Systeme mit Theorien der 'Thermodynamik' beschrieben werden können. Komplexität und Abstraktionsgrad der Beschreibung entziehen sich jedoch einem laienhaften Nachvollzug.

Je nach wissenschaftstheoretischer Position ergeben sich unterschiedliche Konsequenzen für Konzepte wie Determinismus vs. Indeterminismus, Wahrnehmung, Emotionen, Individuum, Willensfreiheit, Selbstkonzept etc.


Sprachanalytische Auflösung ontologischer Gegensätze als ‚Scheinprobleme’ und ‚Sprachspiele’


Mit Ludwig Wittgenstein (1889-1951) erfahren über Jahrtausende zementierte Positionen eine entscheidende Veränderung durch den Wechsel der Perspektive. Wittgenstein lenkt den Blick auf Funktion und Verwendung von Sprache und auf die Bedeutung ihrer Inhalte, um sinnvolle Sätze von unsinnigen oder sinnlosen Aussagen zu unterscheiden. Für Wittgenstein existieren keine philosophischen Probleme. Wissenschaftlich nicht lösbare Probleme erklärt Wittgenstein zu ‚Scheinproblemen’, die zwar für Menschen von Bedeutung sein können, aber keine Gegenstände von Wissenschaft bilden. In diesem Sinne prägt Wittgenstein in einem frühen Hauptwerk die Aussage: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“ (Tractatus logico-philosophicus 1918/1921). Im Vorwort des Werkes kehrt Wittgenstein die zuvor zitierte Aussage um und deklariert einen zugleich umwerfend schlichten wie äußerst ehrgeizigen Anspruch an Wissenschaft: „Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen.“

Die Art der Verwendung von Sprache innerhalb eines bestimmten Kontextes bezeichnet Wittgenstein als ‚Sprachspiel’. ‚Sprachspiele’ repräsentieren unterschiedliche Auffassungen und Deutungsmuster von Weltverständnis. Sie entstehen aus der praktischen Nutzung von Sprache innerhalb von Kontexten und markieren keine scharfen Grenzen ihres Gebrauchs, sondern zeigen im Vergleich neben Unterscheidungen auch Überschneidungen und Ähnlichkeiten.

Im Sinne dieser Denkweise sind Alltagssprache und Wissenschaftssprache kontextbezogene Zugänge zum Weltverständnis, die als gleichwertige Konzepte nicht gegeneinander ausgespielt werden können. Wissenschaftlichen Disziplinen wie Physik, Chemie, Biologie, Philosophie etc. haben sich als ‚Sprachspiele’ unterschiedlicher Kontexte entwickelt. Innerhalb wissenschaftlicher Disziplinen lassen sich konkurrierende Theorien oder Modelle ebenfalls als ‚Sprachspiele’ auffassen. Was wir als 'Wissenschaft' bezeichnen, sind mögliche Alternativen unter konkurrierenden Methoden und Konzepten der Weltbewältigung, mittels der wir spontan Unverständliches vermeintlich erkennen und beeinflussen. Modelle von Ordnung und Kausalität sind Konstrukte, die in komplexen Lebenswelten Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit ermöglichen. Als 'richtig' oder 'wahr' gelten Modelle, die sich temporär gegenüber konkurrierenden Modellen behaupten können. Die Durchsetzung von Modellen als 'richtig' oder 'wahr' resultiert aus vielschichtig-komplexen sozialen Mechanismen unter dem Einfluss aktueller Machtverhältnisse und Deutungshoheiten. Angenommene und behauptete Überlegenheit von Modellen gegenüber konkurrierenden Entwürfen ersetzt im Ergebnis den Beweis von Konstrukten, die bis zu ihrer Ablösung als 'wahr' gelten.

Analytisch betrachtet können ‚Sprachspiele’ keinen Anspruch auf Wahrheit reklamieren, weder in der Wissenschaft noch im Alltagsleben. Paul Feyerabend (1924-1994) radikalisiert diesen Gedanken. Er zeigt an zahlreichen Beispielen, dass Wissenschaftler häufig gerade darum zum Erfolg kommen, weil sie sich nicht an feste Regeln halten, sondern selbst die Kriterien einer bestimmten Wissenschaft festlegen und bei Bedarf Theorien, methodologische Prinzipien und Regeln abändern oder auswechseln. Als Konsequenz lehnt Paul Feyerabend wissenschaftlichen Dogmatismus als nicht zu rechtfertigen ab und plädiert für Theorienpluralismus und Methodenanarchismus.

Paul Feyerabend entwickelt seine Position zu einem relativistischen Angriff auf dominante Methodologien, aber er begeht entscheidende Fehler: Er unterschätzt die Macht sozialer Netzwerke und die Humorlosigkeit der wissenschaftlichen Gemeinde. Stilisiert als Pirat stürzt sich Paul Feyerabend mit dem Schlachtruf „anything goes“ in die wissenschaftliche Diskussion und erklärt Regentänze und Wetterprognosen als gleichwertige Methoden. Die aufrichtige Intention kehrt sich gegen Paul Feyerabend. Die Angegriffenen weichen aus und erklären Paul Feyerabend zum anarchischen Nestbeschmutzer und Hofnarren von Wissenschaft. Da die brüchigen Fundamente von Wissenschaft im Treibsand ruhen und dementsprechend labil sind, versucht der Wissenschaftsbetrieb zu vermeiden, dass ihre wissenschaftlichen Kartenhäuser von Brisen bedroht werden. Paul Feyerabend übersieht vermutlich, dass Wissenschaft auch als Vehikel für individuelle Karrieren und Machtpositionen fungiert, die es gegen Konkurrenz zu verteidigen gilt, und dass daher individuelle Nutzenerwägungen die Verteidigung von Inhalten beeinflussen. Enttäuscht und ernüchtert von seinen Kollegen in Philosophie und Wissenschaft gelangt Paul Feyerabend gegen Ende des Tages zu der Einsicht: "Was zählt, sind einige Freunde da und dort - das ist alles."

In der Nachfolge Wittgensteins verweisen zeitgenössische Ideen eines ‚relativistischen Pluralismus’ (Nelson Goodman, 1906-1998) oder eines ‚pragmatischen Pluralismus’ (Hilary Whitehall Putnam, geb. 1926) auf Auswege aus philosophischen Dilemmas. Wenn verschiedene Weltperspektiven miteinander konkurrieren, ohne dass eine von ihnen eine gültige Beschreibung der Welt reklamieren kann, basiert jeder Anspruch auf Deutungshoheit für Weltverständnis auf Irrtümern. Gegenüber multiplen Entwürfen von Weltverständnissen ist Toleranz geboten, die uns Demut abverlangt. Beides fällt uns nicht leicht.

Nach dem derzeitigen Stand der Erkenntnis müssen wir die faszinierende Idee eines einheitlichen Weltverständnisses aufgeben. Unter diesen Vorzeichen sind neuerdings in der analytischen Philosophie auch wieder ontologische Fragen zugelassen.

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