Dienstag, 1. Oktober 2019

Mythen, Mythologien, Religionen

Heilige Drei Könige © Raimond Spekking / CC BY-SA 4.0
Nicht nur in der Antike, sondern generell ermöglichen mythische Narrative das Navigieren in komplexen, sinnlich nur unvollständig erfahrbaren Lebenswelten. An Schnittstellen zwischen Götterwelt und Menschenwelt andockende Mythen machen rätselhafte Pänomene erklärbar, regeln das Miteinander sozialer Gemeinschaften, legitimieren Machtansprüche, demarkieren Binnen- und Außenstrukturen, markieren Freunde und Feinde, Gutes und Böses, Richtiges und Falsches. Mythen stiften Sinn und spenden Entscheidungs- bzw. Handlungssicherheit.





Was unterscheidet Mythen von Religion? Die Antwort ist einfach: Substanziell nichts! Beide vermitteln unvierselle Erfahrungsmuster, die Sinn stiften, Orientierung ermöglichen, Herrschaft legitimieren sowie sozialen Zusammenhalt durch Identifikation und Abgrenzung stärken. Den Unterschied zwischen Mythos und Religion erzeugt die Perpektive. Mythos ist „die Religion anderer Leute“, erklärt der amerikanische Literaturwissenschaftler Joseph Campbell (1904 - 1987) und weist darauf hin, dass Religion „missverstandene Mythologie“ sei, weil in Religion „mythische Metaphern als Hinweise auf unumstößliche Tatsachen interpretiert werden“. (Wikipedia: Mythologie). Die Antwort ist jedoch weit weniger trivial, wenn man Argumenten des US-amerikanischen Religionssoziologen Robert Bellah (1927-2013) folgt, auf die ein anderer Post näher eingeht: Evolution, kognitive Revolution und die Folgen

Menschliches Denken ist beeinflusst von Mechanismen, die sich unserer bewussten Kontrolle entziehen und die unsere Wahrnehmung verzerren. Eine dieser kognitiven Verzerrungen beruht auf der impliziten Erwartung von Kausalität zwischen beobachteten Phänomenen. Wenn unmittelbare Kausalität nicht zu erkennen ist, konstruieren wir sie und spekulieren über mögliche Ursache-Wirkungs-Beziehungen. Dieser Mechanismus ist keine Fehlschaltung, sondern lebenswichtig. In gefährlichen, höchst unübersichtlichen Situationen müssen wir auch unter Unsicherheit schnelle Entscheidungen treffen, die ein Überleben ermöglichen. Dies gelingt nur (und längst nicht immer), indem wir Annahmen über Kausalitäten treffen. Die Entwicklung von Mythen beruht vermutlich auf dieser Art von kognitiver Verzerrung. Mythen erklären, was sich aus der empirischen Beobachtung nicht erklären lässt: Die Entstehung der Welt, der Berge, der Meere, der biologischen Arten, der gesetzmäßigen Kreisläufe der Natur, das Eintreten außerordentlicher Katastrophen der Natur sowie nicht zuletzt Klima, Wetter, Jahreszeiten und Vieles mehr. 

Religionen beanspruchen für sich 'Wahrheit'. 'Heiden' sind die jeweils anderen, nicht zur Gemeinschaft gehörenden Menschen. Dass diese Wertung wechselseitig gilt, verweist auf die Absurdität solcher Behauptungen, verhindert aber nicht deren fortgesetzte Verwendung. Normative Verhaltensregeln gelten nur innerhalb einer Religion, jedoch nicht für Ungläubige. Diese dürfen betrogen, bestraft, verfolgt, versklavt und getötet werden. Schutz genießen sie erst dann, wenn sie ihr Heidentum bereuen und ablegen, d.h. die Religion verlassen, in der sie sozialisiert wurden und die dominante Religion annehmen. Nicht nur, aber auch Lessing hat in der Ringparabel Nathan der Weise die Fragwürdigkeit dieses Denkens thematisiert.  

Ein feiner und nicht unerheblicher Unterschied besteht durchaus zwischen Mythen und insbesondere monotheistischen, abrahamitischen Religionen. Während Mythen lokal gelten, Menschen einer Mythen-Kultur die räumliche Begrenztheit ihrer Mythologie bewusst ist und Mythen Gemeinschaft und Kultur stiften, beanspruchen abrahamitische Religionen universelle räumliche und zeitliche Geltung, weil 'Wahrheit' absolut ist. So betrachtet sind Mythen deutlich sympathischer als Religionen. Wer religiöse Fesseln ablegt, gewinnt Bewegungsfreiheit. Ob und wie diese genutzt wird und ob sie persönliche Gewinne ermöglicht, haben Akteure (abgesehen von Ausnahmen) selbst in der Hand. Allerdings ist diese Freiheit nicht kostenlos zu haben. Sie hat einen doppelten Preis. Wir verlieren Gewissheiten und zahlen mit Eigenverantwortung.

Neutestamentarischer Ethos vermag sich jedoch in der Breite nicht durchzusetzen. Offensichtlich ist er für die meisten Menschen zu unattraktiv. Daher verwundert nicht, wenn Religion in der europäischen Kultur einen Bedeutungsverlust und gleichzeitig einen Bedeutungswandel von einer öffentlichen zu einer privaten Institution erfährt. Da Menschen jedoch ungerne sinnstiftende Gewissheiten aufgeben, die von Eigenverantwortung entlasten, fällt es ihnen schwer, das von Religion freigeräumte Gelände als Freiraum für Selbstentfaltung zu nutzen. Die Konsumgüterindustrie hat diesen Sachverhalt verstanden und weiß das 'Religions-Vakuum' zum Nutzen ihrer Protagonisten zu füllen. Den Platz von Religion nimmt in der Gegenwart Konsum ein. Konsum löst nicht nur Religion ab, sondern ebenso humanistische Ideale der Vorgänger-Generationen. Konsum ist die neue Religion. Dieser Machtwechsel ist längst vollzogen.

Individuelle Wünsche und Bedürfnisse nach Glückserlebnissen, Entscheidungssicherheit und sozialem Ansehen nutzen Marketing und Werbung. Sie verpacken modische Produkte emotional und vermitteln Befriedigung elementarer individueller Bedürfnisse. Konsumenten verleiht die Orientierung an Mode Handlungssicherheit. Modischer Stil des individuellen Auftritts signalisiert Fremdwahrnehmungen die Botschaft einer zeitgemäß-modernen und stilsicheren Persönlichkeit mit finanzieller Potenz. Positive Fremdwahrnehmung stärkt die eigene Selbstwahrnehmung. Allgemeine Angebotsbreite und Shopping-Optionen sowie individuelle Konsumkraft und modische Stilsicherheit vermitteln Gefühle eigener Freiheit und Authentizität. Nie war Glück mit so wenig eigener Anstrengung zu erleben. Man kann es einfach kaufen. Allerdings gibt es auch einen Haken. Freiheit des Konsums erfordert Geld, das bei dieser Transaktion umverteit wird. Konsumeffekte sind kurzlebig. Daher wird immer wieder neues Geld benötigt, um es für Konsum einzusetzen. Wer über nur wenig Geld verfügt, ist im Konsum eingeschränkt und erfährt nur kleines sowie seltenes Glück. Viel Geld erlaubt großes Glück mittels Luxuskonsum. Wer über kein Geld verfügt, ist zum Unglück verurteilt.

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