Pierre Bourdieu 1969 |
Pierre Bourdieu lehnte die Trennung von Theorie und Praxis ab und verpflichtete sich politischer Verantwortung. Politische Haltungen und Äußerungen sind geprägt von Werten, zu denen sich Pierre Bourdieu öffentlich bekannte und die bis heute Widerspruch provozieren. Diskussionen über Verantwortung von Wissenschaftlern und deren Bekenntnisse haben nicht verhindert, dass Bourdieus Konzepte in Verhaltens- und Kulturwissenschaften längst integriert sind. Bourdieus Arbeiten inspirieren auch den Autor dieses Blogs, weil sie aufklären und zum Weiterdenken anregen.
- Elementare Lebensbedingungen der sozialen Lage von Individuen prägen mittels Lern- und Anpassungsprozessen grundlegende Einstellungen und das Repertoire von Verhaltensweisen einer Person im sozialen Raum. Als Opus operatum (Werk, Handlung) ist Habitus „geronnene Lebensgeschichte“ und „inkorporierte Kultur“, aus denen sich Wahrnehmungs-, Denk-, Wert- und Verhaltensmuster ableiten.
- Indem diese Wahrnehmungs-, Denk-, Wert- und Verhaltensmuster steuernd und realisierend auf konkrete soziale Aktionsfelder einwirken, bildet Habitus gleichzeitig ein generatives Prinzip der Erzeugung praktischer Handlungsweisen. Als Modus Operandi (Handlungsweise, Art des Handelns) hat Habitus gestaltende Wirkung.
Bourdieu zeigt, dass geschmackliche Distinktion sich nicht zufällig oder beliebig ausbreitet. Soziale Strukturen generieren soziale Unterschiede. Soziale Unterschiede etablieren Geschmacksklassen, deren Spitze ein von Eliten definierter legitimer Geschmack ('Hochkultur') besetzt. Etablierte Geschmacksklassen manifestieren und stabilisieren soziale Unterschiede (soziale Strukturierung) und verhelfen asymmetrischer Verteilung von Macht und Ressourcen zur Selbstreproduktion. Sozialisationsspezifische Verhaltensweisen (Denk-, Sprach- und Handlungsmuster) und Geschmacksrichtungen (Wohnmilieu und Wohnungseinrichtung, Essen und Trinken, Kunst und Musik, Kleidungsstil, Reisen etc.) weist Bourdieu für den gesamten Lebensstil von Menschen innerhalb einer gemeinsamen Kultur nach.
1.2 Doxa
In altgriechischer Philosophie bezeichnet der Begriff Doxa 'Meinungen' i.S. von 'Hypothesen'.(12) Pierre Bourdieu fasst Verständnisse von 'Welt' als soziale Konstruktionen auf und versteht Doxa als das nicht infrage gestellte 'Offensichtliche' oder 'Selbstverständliche', das er vom 'Umstrittenen' (Heterodoxie) und der 'Mehrheitsmeinung' (Orthodoxie) abgrenzt.(13) Im Unterschied zum Habitus-Konzept hat Bourdieu Doxa nie systematisch als Konzept ausgearbeitet. Konnotationen von Doxa müssen aus Kontexten erschlossen werden.
Gemäß Bourdieu sind doxische Überzeugungen Menschen nicht bewusst. Sie werden als selbstverständliche, nicht diskutierbare natürliche Gegebenheiten wahrgenommen. Verteilungen von Macht und Formen von Herrschaft versteht Bourdieu als willkürliche Setzungen. Machteliten stabilisieren ihre Position, indem sie sich Legitimität mittels doxischer Überzeugungen verschaffen. Doxische Überzeugungen machen Herrschaftsstrukturen unsichtbar, sodass Beherrschte diese Strukturen als natürlich, selbstverständlich, legitim, notwendig wahrnehmen.(14,15) Machteliten profitieren von Doxa und beteiligen sich darum an deren Gestaltung.
1.3 Machteliten
Vorstellungen von 'Leistungs- und Funktionseliten' sind allgemein verbreitet. Schwieriger wird es bei 'Machteliten'. Prinzipiell ist der Begriff Elite unscharf und in viele Richtungen dehnbar. Mischformen sind möglich. Eine Sortierung der Begrifflichkeit ist hilfreich.
- Funktionseliten sind innerhalb von Einrichtungen und Institutionen der Berufs-, Arbeits- und Bildungswelt, der Politik sowie im Militär angesiedelt. Als ‚Elite‘ gilt ein kleiner Personenkreis von ‚Top-Performern‘ oder Spezialisten. Abgrenzungskriterien sind oft unscharf oder strittig.
- Leistungseliten werden in nicht oder nur schwach institutionalisierten sozialen Feldern identifiziert, wie Kunst, Literatur, Sport etc.. Als Elite gelten Spitzen gedachter und mitunter vager Konstrukte von Leistungspyramiden. Aufgrund der Zersplitterung und hierarchischen Fragmentierung von Kultur sind Eliten der Kunst und Literatur häufig umstritten oder nur in kulturellen Segmenten anerkannt.
- Darüber hinaus bestehen Vorstellungen von geistigen Eliten, die mit Leistungskriterien wissenschaftlicher Art oder Innovationen verknüpft sind. Als Elite gelten Personen, die sich durch bahnbrechende Erkenntnissen oder Neuerungen einen international anerkannten Namen erworben haben.
Machteliten leben verschwiegen in öffentlich kaum sichtbaren Parallelwelten. Einflussnahmen von Machteliten auf Politik und Recht geschehen i.d.R. nicht öffentlich, sondern verdeckt über zwischengeschaltete Mittelsmänner, Organisationen und Institutionen, sodass Geldflüsse, Drohungen und Machtstrukturen öffentlich unsichtbar bleiben und politische Entscheidungen in der öffentlichen Wahrnehmung vermeintlich gemäß Regeln von Rechtsstaatlichkeit unter Abwägung allgemeingültiger rationaler Wertorientierungen zustandekommen.
Einflussnahmen von Machteliten nutzen verschiedene Kanäle. Welche Instrumente dieses Arsenals in welchem Umfang und auf welchen Kanälen genutzt werden, varriiert von Land zu Land sowie einzelfallspezifisch:
- Legale und illegale Zuwendungen von Geld- und Sachmitteln,
- massive Unterstützung und Bestechung von Entscheidungsträgern,
- Besetzung politischer Gremien mit Vertrauensleuten,
- Bestechung von Sachverständigen, Gutachtern, Wissenschaftlern und deren Institutionen,
- Etablierung von Lobbyverbänden und gezieltes Ansetzen von Lobbyisten auf politische Entscheidungsträger (lt. H.J. Krysmanski 'betreuen' in Washington 40.000 Lobbyisten 537 Abgeordnete) (16),
- Ausübung von politischem Druck (z.B. Androhung des Abbaus von Arbeitsplätzen oder der Verlegung von Betriebs- und/oder Steuersitzen in das Ausland),
- Manipulation demokratischer Wahlen,
- Medienberherrschung und/oder bewusste Desinformation oder Falschinformation der Öffentlichkeit via Medien.
In der Soziologie war es insbesondere der amerikanische Soziologe Charles Wright Mills (1916 - 1962), der die Thematik der Herrschafts- und Elitensoziologie aufgriff und u.a. Alvin W. Gouldner inspirierte. Obwohl Mills Werke als soziologische Klassiker gelten, sind sie in Deutschland kaum rezipiert.(17) Eine Ausnahme bildet im deutschsprachigen Raum der Soziologe Hans Jürgen Krysmanski (1935-2016), der sich als Vertreter der Power Structure Research mit Machteliten befasste, zuletzt mit der Veröffentlichung: 0,1% - Das Imperium der Milliardäre.(18,19)
- In einer Umfrage wurden deutsche Soziologen gebeten, die zehn besten
soziologischen Texte auszuwählen, die sie in einem Lektüreseminar
»Top Ten Soziologie« im Fach Soziologie diskutieren würden. Die
meisten Nennungen erhält das Buch Die feinen Unterschiede von Pierre Bourdieu. - Jürgen Gerhards: Zeitschrift Soziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, 43. Jg., Heft 3, 2014: Top Ten Soziologie (PDF)
- Gender Glossar, Daniela Heitzmann: Pierre Bourdieu
Nachrufe auf Pierre Bourdieus Tod am 23. Januar 2002:
- literaturkritik.de, Michael Ansel: Gott ist tot
- NZZ, Marc Zitzmann: Arbeit an der Leidenschaft
- Spiegel: Pierre Bourdieu
- TELEPOLIS, Nathalie Roller: Der Tod eines Soziologen
- Zeit, Elisabeth von Thadden: Wie ein Buch handeln kann
- Universität Duisburg-Essen, Prof. Dr. Renate Nestvogel: Pierre Bourdieu. Die verborgenen Mechanismen der Macht (PDF, 6 Seiten)
- Französisches System der Elitenbildung:
- Bundeszentrale für politische Bildung: Und morgen bist du Präsident! Bildung und Struktur der politischen Elite in Frankreich
- ZEIT: Die Eliten-Maschine
- WELT: So drillt Frankreich die Führungselite von morgen
- Deutschlandfunk: ENA: Zu Besuch in Frankreichs Elteschule
- Wikipedia: Machteliten
- Dass Prozesse der Globalisierung und der Digitalisierung in der
Gegenwart zu Haupttreibern der Dynamik sozialer Systeme zählen, ist trivial. Michael Reitz
konfrontiert in einem Beitrag des Deutschlandfunks vom 26.11.2017 die
Dynamik dieser Veränderungsprozesse mit dem von Pierre Bourdieu
entwickelten Modell der
Wechselbeziehungen zwischen strukturell angelegten ökonomisch-sozialen
Lebensbedingungen einerseits und Lebensstilen von Menschen andererseits , um auf
blinde Flecken in Bourdieus Analyse aufmerksam zu machen.
Bourdieu habe zur Ideengeschichte sozialer Gesetzmäßigkeiten eine brillante Theorie beigesteuert, sein Modell beschreibe jedoch Wechselbeziehungen zwischen Lebensbedingungen und Lebensstilen als relativ statische Zustände im Übergang vom 21. und zum 22. Jahrhundert und vernachlässige die durch Dynamik von Veränderungsprozessen bewirkte Volatilität von Wechselbeziehungen zwischen Lebensbedingungen und Lebensstilen. Diese Volatilität begrenze Bourdieus Analyse und erfordere eine permanente Nachjustierung des von Bourdieu entwickelten Modells.
Manuskript zur Sendung vom 26.11.2017: Das Denken Pierre Bourdieus im 21. Jahrhundert. Noch feinere Unterschiede? - Den Begriff Habitus verwenden die beiden Autoren nicht
identisch. Vorliegender Post geht auf Unterschiede und
Gemeinsamkeiten der Begriffsbildung bei Elias und Bourdieu nicht ein.
Diese Thematik untersucht Inken Hasselbusch in ihrer 2014 veröffentlichten Dissertation: Norbert Elias und Pierre Bourdieu im Vergleich. Eine Untersuchung zu Theorieentwicklung, Begrifflichkeit und Rezeption.
(Der Link verweist auf eine Webseite der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe, auf der Inken Hasselbuschs Dissertation als Volltext im PDF-Format zum Download bereitsteht.) - Christian
Schilcher: Der Beitrag von Pierre Bourdieu zur Sozialstrukturanalyse der gegenwärtigen Gesellschaften
(Der Link verweist auf eine Webseite des AMS-Forschungsnetzwerk, auf der Christian Schilchers Abhandlung als Volltext im PDF-Format zum Download bereitsteht.) - Ein ähnliches (nicht identisches) Konzept entwickelte Erich Fromm schon früher als Bourdieu mit dem Sozialcharakter als einer zwischen Individuum und Gesellschaft vermittelnden Instanz.
- Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft (französisch: La distinction. Critique sociale du jugement. Paris 1979). Frankfurt am Main 1982.
- Wikipedia: Die feinen Unterschiede
- Wikipedia: Meinung: Griechische Philosophie
- Wikipedia: Sozialkonstruktivismus
- Pierre Bourdieu erweitert Émile Durkheims Konzept sozialer Tatbestände und des 'kollektiven Zwangs' bzw. des 'Kollektivbewusstseins' um Aspekte von Machtstrukturen.
- Theresa Fibich und Rudolf Richter: Institution bei Durkheim: "Soziale Tatsachen"
- Hans Jürgen Krysmanski: 0,1% - Das Imperium der Milliardäre, Frankfurt am Main 2015, S. 57
- Marcus Klöckner in TELEPOLIS: Machteliten: Von der großen Illusion des pluralistischen Liberalismus
- Medienberichte zu H.J. Krysmanski 0,1% - Das Imperium der Milliardäre:
- Buchbesprechung des Soziologen, Politikwissenschaftlers, Wirtschaftskriminologen Hans See: 0,1 Prozent - Das Imperium der Milliardäre
- Buchbesprechung von Wolfgang Hetzer (von 2002 bis 2011 Abteilungsleiter im Europäischen Amt für Betrugsbekämpfung, OLAF) in NachDenkSeiten: Hans Jürgen Krymanski, 0,1% Das Imperium der Milliardäre
- Interview mit H.J. Krysmanski in TELEPOLIS: Die Geldelite verselbständigt sich
- Gespräch mit dem Soziologen H.J. Krysmanski über globale und nationale Macht- und Funktionseliten in TELEPOLIS:
- Teil 1: Wer die Fäden zieht
- Interview mit Anne Zetsche in den NachDenkSeiten: Nicht-legitimierte Privatpersonen nehmen Einfluss auf die Politik Deutschlands und den USA
(Die interviewte Anne Zetsche ist nicht zu verwechseln mit der französischen Ehepartnerin Anne des Ex-Daimler-Vorstands Dieter Zetsche.)
- die Bank of Credit and Commerce International (BCCI) "bereits mit der Zielsetzung gegründet worden war, gezielt zentralisierte behördliche Überprüfungen zu vermeiden"
- "dass das Geldinstitut in Geldwäsche, Bestechung, Waffenhandel und den Verkauf von Nukleartechnologie verwickelt war, den Terrorismus unterstützte, Steuerhinterziehung initiierte und förderte sowie mit Schmuggel, illegaler Einwanderung, dem illegalen Kauf von Immobilien und Banken sowie der Förderung von Prostitution in Verbindung stand" und u.a. genutzt wurde, um Drogengeld des Medellín-Kartells zu waschen.(2)
Das Gründungskapital der Bank stammte aus Abu Dhabi sowie zu 25% von der Bank of America. Mehrere Autoren nehmen an, dass die CIA sich bei der Gründung der Bank in relevanter Größenordnung finanziell engagierte. Zu prominenten Kunden der Bank zählten Führer von Guerillagruppen, Waffenhändler, Drogenkartelle. Eine als 'Sandstorm-Bericht' bezeichnete Prüfung kam 1991 zum Ergebnis, dass die BCCI weitreichend in Betrügereien und Manipulationen verwickelt war. Der Bericht informiert u.a. darüber, dass terroristische Organisationen der PLO die BCCI als Geschäftsverbindung für Waffengeschäfte mit mehreren Staaten nutzten (u.a. mit der DDR) sowie dass britische Nachrichtendienste und die CIA Transaktionen der BCCI überwachten, ohne sie zu unterbinden. Den Bericht halten britische Behörden bis heute größtenteils unter Verschluss. BCCI wurde als Geldwäscheeinrichtung der CIA bezeichnet und bekannte sich schuldig. Teile des Berichts sind geleakt.(3)
Ein weiterer Bericht kam 1992 zu dem Ergebnis, dass der ehemalige US-Verteidigungsminister Clark Clifford und sein Geschäftspartner Robert A. Altman im Zeitraum von 1978 bis 1991 regelmäßig in engen Beziehungen zu BCCI standen. Den Kontakt hatte Jimmy Carters Berater Thomas Bertram Lance hergestellt.
- Übersichten zu öffentlich bekannt gewordenen Wirtschafts- und Finanzskandalen:
- Deutsche Welle: Kleine Geschichte der größten Finanzskandale
- FAZ: Finanzskandale
- NTV: Finanzskandale
- Welt: Köpfe der berüchtigsten Finanzskandale
- Wikipedia: Bank of Credit and Commerce International (BCCI)
- Teile des Berichts sind seit 2009 mit Auslassungen und Schwärzungen unter WikiLeaks veröffentlicht und können von der Seite heruntergeladen werden: BBCI Sandstorm Report, 1991
- Whitney Museum of American Art: Mark Lombardi
- Kunstmagazin DARE: Der Lombardi Code
- Zeit: Die Saud-Connection
- dOCUMENTA (13): Mark Lombardi
- AISTHESIS: Die Tonspur zu 9/11
- TELEPOLIS, Thomas Barth: Ästhetik der Konspiration
- Museum of Modern Art: Mareike Wegener's Mark Lombardi: Death-Defying Acts of Art and Conspiracy
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