Dienstag, 26. November 2019

Pierre Bourdieu, Habitus und Doxa - Machteliten und Machtstrukturen (Update 06.10.2023)

Pierre Bourdieu 1969
Im Zeitraum des eigenen Studiums und in der Folgezeit entwickelte Pierre Bourdieu (1930 - 2002) Konzepte von Habitus und Doxa, deren Bedeutung kaum überschätzt werden kann, die sich aber gegen eingängige Definitionen sperren.(1,2) In der Wahrnehmung praxisorientierten Alltagsdenkens bleiben Habitus und Doxa unsichtbar, weil die Rezeption dieser abstrakten Konstrukte über Alltagsdenken hinausweisendes Abstraktionsvermögen erfordert.
Pierre Bourdieu lehnte die Trennung von Theorie und Praxis ab und verpflichtete sich politischer Verantwortung. Politische Haltungen und Äußerungen sind geprägt von Werten, zu denen sich Pierre Bourdieu öffentlich bekannte und die bis heute Widerspruch provozieren. Diskussionen über Verantwortung von Wissenschaftlern und deren Bekenntnisse haben nicht verhindert, dass Bourdieus Konzepte in Verhaltens- und Kulturwissenschaften längst integriert sind. Bourdieus Arbeiten inspirieren auch den Autor dieses Blogs, weil sie aufklären und zum Weiterdenken anregen.

 
1 Pierre Bourdieu

Bourdieu postuliert, dass Positionen von Personen im sozialen Raum differenzierter Sozialsysteme nicht allein durch verfügbares ökonomisches Kapital determiniert sind, sondern sich verfügbares Kapitalvolumen einer Person aus 3 Kapitalsorten zusammensetzt: soziales Kapital, ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital. Ihr persönlich verfügbares Kapitalvolumen nutzen Menschen zur Gewinnung von symbolischem Kapital, das sich im Habitus von Lebensstilen durch Merkmale sozialer Distinktion ausprägt.
 
Obwohl Bourdieu aus einfachen sozialen Verhältnissen stammt und in Frankreich ein nahezu geschlossenes, sich selbst reproduzierendes Elitensystem besteht, bekleidete er im französischen Universitätssystem höchste Positionen.(3) Staatspräsident François Mitterrand bat ihn um Vorschläge zur Reform des französischen Bildungswesens. Bourdieu fühlte sich jedoch nie der bourgeoisen Elite zugehörig, sondern stets als Außenseiter.(4) Im Zentrum der akademischen Macht Frankreichs blieb Bourdieu als politisch engagierter Intellektueller gegenüber Institutionen der politischen Elite kritisch distanziert und zeigte sich sozial benachteiligten Klassen und Minderheiten verbunden.
 
Vermutlich beeinflussten Bourdieus persönliche Erfahrungen die Entwicklung seiner Konzepte von Habitus und Doxa. Machtstrukturen bewirken asymmetrische Verteilungen von Ressourcen und von Chancen zugunsten Weniger sowie von Risiken zulasten Vieler. In Sozialsystemen westlicher Prägung sind Machtstrukturen regelmäßig hinter institutionalisierten Legitimierungsverfahren mit demokratischer Prägung verborgen. Bourdieus Konzepte von Habitus und Doxa beleuchten diese Strukturen und machen sie sichtbar. Nachfolgende Erläuterungen zu Habitus und Doxa stellen die Konzepte verkürzt und vereinfacht vor, ohne expiizit auf Entwicklungen einzugehen, die aufgrund der Dynamik sozialer Systeme Verschiebungen von Grenzen bewirken und neue Phänomene hervorbringen.(5)

 
1.1 Habitus
 
Der Begriff Habitus ist vom lateinischen Wort habere („haben“) abgeleitet. Norbert Elias und Pierre Bourdieu entwickelten in ihren Arbeiten Habitus zu einem soziologischen Fachbegriff.(6) Vorstellungen von Individuum und Gesellschaft als Dichotomie, gemäß der Gesellschaft gegenüber Individuen wie ein sozialer Akteur auftritt, betrachten beide Autoren als Denkfehler aufgrund verzerrter Wahrnehmung.
 
Die Verbreitung von Habitus als soziologischer Terminus geht vor allem auf Pierre Bourdieu zurück, der als einer der bedeutendsten Soziologen und Sozialphilosophen des 20. Jahrhunderts gilt. Bourdieus Habitus-Begriff bezeichnet das sozial vererbte Repertoire von Verhaltensdispositionen einer Person im sozialen Raum. Habitus bezieht sich nicht auf isolierte Handlungssequenzen, sondern umfasst das Auftreten einer Person, das in sozialen Interaktionen mittels Sprache und Körpersprache, Kleidung und Schmuck, Lebensstil, Vorlieben, Abneigungen, Gewohnheiten etc. internalisierte Wahrnehmungs-, Denk-, Wertungs- und Verhaltensmuster nach außen repräsentiert.(7,8)
 
Habitus bildet gemäß Bourdieu ein stabiles und nur schwer änderbares System von Dispositionen, das nicht auf biologischen Voraussetzungen beruht, sondern das sozial vermittelt und individuell angeeignet wird. Bourdieu versteht Habitus als eine Vermittlungsinstanz zwischen Sozialstrukturen der Makroebene und individueller Lebenspraxis auf der Mikroebene. Habitus vermittelt zwischen sozialen Strukturen von Lebenswelten sozialer Akteure und deren individueller Lebenspraxis in zweifacher Funktion, die Bourdieu als Opus operatum sowie als Modus Operandi bezeichnet:
  • Elementare Lebensbedingungen der sozialen Lage von Individuen prägen mittels Lern- und Anpassungsprozessen grundlegende Einstellungen und das Repertoire von Verhaltensweisen einer Person im sozialen Raum. Als Opus operatum (Werk, Handlung) ist Habitus „geronnene Lebensgeschichte“ und „inkorporierte Kultur“, aus denen sich Wahrnehmungs-, Denk-, Wert- und Verhaltensmuster ableiten. 
  • Indem diese Wahrnehmungs-, Denk-, Wert- und Verhaltensmuster steuernd und realisierend auf konkrete soziale Aktionsfelder einwirken, bildet Habitus gleichzeitig ein generatives Prinzip der Erzeugung praktischer Handlungsweisen. Als Modus Operandi (Handlungsweise, Art des Handelns) hat Habitus gestaltende Wirkung.
In seinem Hauptwerk Die feinen Unterschiede weist Bourdieu die soziale Relevanz seiner theoretischen Annahmen nach und belegt zahlreiche Detailbeobachtungen mit empirischen Daten.(9) Als Ausgangspunkt wählt Bourdieu eine Analyse des Kunstgeschmacks und zeigt auf der Basis von Erhebungen, „dass Geschmack nichts Individuelles darstellt, sondern dass dieser immer etwas von der Gesellschaft Geprägtes ist. Geschmack sei also keine Eigenheit des Menschen, die von Natur aus jeder hat, sondern rühre immer von der Art her, wie jemand sozialisiert wurde und wie und in welchem sozialen Umfeld er sich bewegt. Daher sei die soziale Herkunft, zu der immer ein bestimmter Habitus gehöre, das Maßgebliche. (…) Das Kulturelle ist demzufolge nichts Autonomes oder Spontanes, sondern immer Ergebnis der jeweiligen Sozialisation.“(10)

Bourdieu zeigt, dass geschmackliche Distinktion sich nicht zufällig oder beliebig ausbreitet. Soziale Strukturen generieren soziale Unterschiede. Soziale Unterschiede etablieren Geschmacksklassen, deren Spitze ein von Eliten definierter legitimer Geschmack ('Hochkultur') besetzt. Etablierte Geschmacksklassen manifestieren und stabilisieren soziale Unterschiede (soziale Strukturierung) und verhelfen asymmetrischer Verteilung von Macht und Ressourcen zur Selbstreproduktion. Sozialisationsspezifische Verhaltensweisen (Denk-, Sprach- und Handlungsmuster) und Geschmacksrichtungen (Wohnmilieu und Wohnungseinrichtung, Essen und Trinken, Kunst und Musik, Kleidungsstil, Reisen etc.) weist Bourdieu für den gesamten Lebensstil von Menschen innerhalb einer gemeinsamen Kultur nach.

Lehrvideo der Uni Rostok zu Bourdieus Habitus-Konzept (4:12)

1.2 Doxa

In altgriechischer Philosophie bezeichnet der Begriff Doxa 'Meinungen' i.S. von 'Hypothesen'.(11) Pierre Bourdieu fasst Verständnisse von 'Welt' als soziale Konstruktionen auf und versteht Doxa als das nicht infrage gestellte 'Offensichtliche' oder 'Selbstverständliche', das er vom 'Umstrittenen' (Heterodoxie) und der 'Mehrheitsmeinung' (Orthodoxie) abgrenzt.(12) Im Unterschied zum Habitus-Konzept hat Bourdieu Doxa nie systematisch als Konzept ausgearbeitet. Konnotationen von Doxa müssen aus Kontexten erschlossen werden.

Gemäß Bourdieu sind doxische Überzeugungen Menschen nicht bewusst. Sie werden als selbstverständliche, nicht diskutierbare natürliche Gegebenheiten wahrgenommen. Verteilungen von Macht und Formen von Herrschaft versteht Bourdieu als willkürliche Setzungen. Machteliten stabilisieren ihre Position, indem sie sich Legitimität mittels doxischer Überzeugungen verschaffen. Doxische Überzeugungen machen Herrschaftsstrukturen unsichtbar, sodass Beherrschte diese Strukturen als natürlich, selbstverständlich, legitim, notwendig wahrnehmen.(13,14) Machteliten profitieren von Doxa und beteiligen sich darum an deren Gestaltung.


1.3 Machteliten

Vorstellungen von 'Leistungs- und Funktionseliten' sind allgemein verbreitet. Schwieriger wird es bei 'Machteliten'. Prinzipiell ist der Begriff Elite unscharf und in viele Richtungen dehnbar. Mischformen sind möglich. Eine Sortierung der Begrifflichkeit ist hilfreich.
  • Funktionseliten sind innerhalb von Einrichtungen und Institutionen der Berufs-, Arbeits- und Bildungswelt, der Politik sowie im Militär angesiedelt. Als ‚Elite‘ gilt ein kleiner Personenkreis von ‚Top-Performern‘ oder Spezialisten. Abgrenzungskriterien sind oft unscharf oder strittig.
  • Leistungseliten werden in nicht oder nur schwach institutionalisierten sozialen Feldern identifiziert, wie Kunst, Literatur, Sport etc.. Als Elite gelten Spitzen gedachter und mitunter vager Konstrukte von Leistungspyramiden. Aufgrund der Zersplitterung und hierarchischen Fragmentierung von Kultur sind Eliten der Kunst und Literatur häufig umstritten oder nur in kulturellen Segmenten anerkannt.
  • Darüber hinaus bestehen Vorstellungen von geistigen Eliten, die mit Leistungskriterien wissenschaftlicher Art oder Innovationen verknüpft sind. Als Elite gelten Personen, die sich durch bahnbrechende Erkenntnissen oder Neuerungen einen international anerkannten Namen erworben haben.
Dieser Artikel blendet zuvor benannte ‚Eliten‘ aus und fokussiert auf Machteliten. Um ihre Macht zu festigen und auszubauen, bedienen sich Machteliten der Funktions- und Leistungseliten sowie geistiger Eliten. Machteliten bilden den kleinen, harten Kern der Herrschaft weniger über viele. In kapitalistisch organisierten Sozialsystemen konstituieren sich Machteliten qua Reichtum bzw. Vermögen. Gold makes the rules! Machtelite ist eine kleine Kaste von Multimillionären und Milliardären, die mittels nahezu unbeschränkter Finanzmittel und volkswirtschaftlich bedeutender Wirtschaftskraft Einfluss auf Gestaltung von Politik, auf politische Entscheidungen, auf Gesetzgebung, auf Ausrichtungen von Wissenschafts- und Bildungssystemen nimmt, um auf diesem Wege Politik zum eigenen Nutzen bzw. zum Nutzen weniger auf Kosten der Allgemeinheit zu instrumentalisieren.

Elite sind diejenigen, deren Soziologie keiner zu schreiben wagt.“ (Carl Schmitt, 1888-1985)

Machteliten leben verschwiegen in öffentlich kaum sichtbaren Parallelwelten. Einflussnahmen von Machteliten auf Politik und Recht geschehen i.d.R. nicht öffentlich, sondern verdeckt über zwischengeschaltete Mittelsmänner, Organisationen und Institutionen, sodass Geldflüsse, Drohungen und Machtstrukturen öffentlich unsichtbar bleiben und politische Entscheidungen in der öffentlichen Wahrnehmung vermeintlich gemäß Regeln von Rechtsstaatlichkeit unter Abwägung allgemeingültiger rationaler Wertorientierungen zustandekommen.

Einflussnahmen von Machteliten nutzen verschiedene Kanäle. Welche Instrumente dieses Arsenals in welchem Umfang und auf welchen Kanälen genutzt werden, varriiert von Land zu Land sowie einzelfallspezifisch:
  • Legale und illegale Zuwendungen von Geld- und Sachmitteln,
  • massive Unterstützung und Bestechung von Entscheidungsträgern,
  • Besetzung politischer Gremien mit Vertrauensleuten, 
  • Bestechung von Sachverständigen, Gutachtern, Wissenschaftlern und deren Institutionen, 
  • Etablierung von Lobbyverbänden und gezieltes Ansetzen von Lobbyisten auf politische Entscheidungsträger (lt. H.J. Krysmanski 'betreuen' in Washington 40.000 Lobbyisten 537 Abgeordnete) (15),
  • Ausübung von politischem Druck (z.B. Androhung des Abbaus von Arbeitsplätzen oder der Verlegung von Betriebs- und/oder Steuersitzen in das Ausland),
  • Manipulation demokratischer Wahlen,  
  • Medienberherrschung und/oder bewusste Desinformation oder Falschinformation der Öffentlichkeit via Medien.


In der Soziologie war es insbesondere der amerikanische Soziologe Charles Wright Mills (1916 - 1962), der die Thematik der Herrschafts- und Elitensoziologie aufgriff und u.a. Alvin W. Gouldner inspirierte. Obwohl Mills Werke als soziologische Klassiker gelten, sind sie in Deutschland kaum rezipiert.(16) Eine Ausnahme bildet im deutschsprachigen Raum der Soziologe Hans Jürgen Krysmanski (1935-2016), der sich als Vertreter der Power Structure Research mit Machteliten befasste, zuletzt mit der Veröffentlichung: 0,1% - Das Imperium der Milliardäre.(17,18)

Allerdings bleibt das Imperium der Milliardäre ein undurchsichtiges Schattenreich. Krysmanski merkt an, dass zwar die Mittelschicht die Unterschicht im Auftrag der Oberschicht beobachtet und bestenfalls noch verschiedene Mittelschichtfraktionen einander beobachten, aber niemand die Oberschicht beobachtet. Außerdem reiche der soziologische Werkzeugkasten für Untersuchungen der Oberschicht nicht aus, weil Superreiche sich nicht befragen ließen und diese auch nicht antworten, wenn sie befragt würden. Macht und Herrschaft seien Regionen des Schweigens.
 
Ein exemplarisches Muster der Verschwiegenheit von Macht-Eliten bietet das politikberatende exklusive transatlantische Eliten-Netzwerk Atlantik-Brücke, dessen Aktivitäten in der Öffentlichkeit nahezu unbekannt sind. Die US-amerikanische Historikerin Anne Zetsche hat das Netzwerk mit wissenschaftlichen Methoden untersucht und Ergebnisse in ihrer Dissertation verarbeitet. Anne Zetsche merkt an, dass das transatlantische Elite-Netzwerk 'deep lobbying' betreibt und unter Ausschluss der Öffentlichkeit Einfluss auf Politik Deutschlands und der USA nimmt.(19) Als irritierend empfindet Anne Zetsche, wenn Kritiker der Intransparenz des Netzwerks als Verschwörungstheoretiker diskreditiert werden. 

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  1. In einer Umfrage wurden deutsche Soziologen gebeten, die zehn besten soziologischen Texte auszuwählen, die sie in einem Lektüreseminar »Top Ten Soziologie« im Fach Soziologie diskutieren würden. Die meisten Nennungen erhält das Buch Die feinen Unterschiede von Pierre Bourdieu. - Jürgen Gerhards: Zeitschrift Soziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, 43. Jg., Heft 3, 2014: Top Ten Soziologie (PDF)
  2. Gender Glossar, Daniela Heitzmann: Pierre Bourdieu 
    Nachrufe auf Pierre Bourdieus Tod am 23. Januar 2002:
  3. Französisches System der Elitenbildung:
  4. Wikipedia: Machteliten
  5. Dass Prozesse der Globalisierung und der Digitalisierung in der Gegenwart zu Haupttreibern der Dynamik sozialer Systeme zählen, ist trivial. Michael Reitz konfrontiert in einem Beitrag des Deutschlandfunks vom 26.11.2017 die Dynamik dieser Veränderungsprozesse mit dem von Pierre Bourdieu entwickelten Modell der Wechselbeziehungen zwischen strukturell angelegten ökonomisch-sozialen Lebensbedingungen einerseits und Lebensstilen von Menschen andererseits , um auf blinde Flecken in Bourdieus Analyse aufmerksam zu machen.
    Bourdieu habe zur Ideengeschichte sozialer Gesetzmäßigkeiten eine brillante Theorie beigesteuert, sein Modell beschreibe jedoch Wechselbeziehungen zwischen Lebensbedingungen und Lebensstilen als relativ statische Zustände im Übergang vom 21. und zum 22. Jahrhundert und vernachlässige die durch Dynamik von Veränderungsprozessen bewirkte Volatilität von Wechselbeziehungen zwischen Lebensbedingungen und Lebensstilen. Diese Volatilität begrenze Bourdieus Analyse und erfordere eine permanente Nachjustierung des von Bourdieu entwickelten Modells.
    Manuskript zur Sendung vom 26.11.2017: Das Denken Pierre Bourdieus im 21. Jahrhundert. Noch feinere Unterschiede?
  6. Den Begriff Habitus verwenden die beiden Autoren nicht identisch. Vorliegender Post geht auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Begriffsbildung bei Elias und Bourdieu nicht ein.
    Diese Thematik untersucht Inken Hasselbusch in ihrer 2014 veröffentlichten Dissertation: Norbert Elias und Pierre Bourdieu im Vergleich. Eine Untersuchung zu Theorieentwicklung, Begrifflichkeit und Rezeption.
    (Der Link verweist auf eine Webseite der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe, auf der Inken Hasselbuschs Dissertation als Volltext im PDF-Format zum Download bereitsteht.) 
  7. Christian Schilcher: Der Beitrag von Pierre Bourdieu zur Sozialstrukturanalyse der gegenwärtigen Gesellschaften
    (Der Link verweist auf eine Webseite des AMS-Forschungsnetzwerk, auf der Christian Schilchers Abhandlung als Volltext im PDF-Format zum Download bereitsteht.)
  8. Ein ähnliches (nicht identisches) Konzept entwickelte Erich Fromm schon früher als Bourdieu mit dem Sozialcharakter als einer zwischen Individuum und Gesellschaft vermittelnden Instanz.
  9. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft (französisch: La distinction. Critique sociale du jugement. Paris 1979). Frankfurt am Main 1982.
  10. Wikipedia: Die feinen Unterschiede
  11. Wikipedia: Meinung: Griechische Philosophie
  12. Wikipedia: Sozialkonstruktivismus
  13. Pierre Bourdieu erweitert Émile Durkheims Konzept sozialer Tatbestände und des 'kollektiven Zwangs' bzw. des 'Kollektivbewusstseins' um Aspekte von Machtstrukturen.
  14. Theresa Fibich und Rudolf Richter: Institution bei Durkheim: "Soziale Tatsachen"
  15. Hans Jürgen Krysmanski: 0,1% - Das Imperium der Milliardäre, Frankfurt am Main 2015, S. 57 
  16. Marcus Klöckner in TELEPOLIS: Machteliten: Von der großen Illusion des pluralistischen Liberalismus 
  17. Medienberichte zu H.J. Krysmanski 0,1% - Das Imperium der Milliardäre:
  18. Gespräch mit dem Soziologen H.J. Krysmanski über globale und nationale Macht- und Funktionseliten in TELEPOLIS:
  19. Interview mit Anne Zetsche in den NachDenkSeiten: Nicht-legitimierte Privatpersonen nehmen Einfluss auf die Politik Deutschlands und den USA   
    (Die interviewte Anne Zetsche ist nicht zu verwechseln mit der französischen Ehepartnerin Anne des Ex-Daimler-Vorstands Dieter Zetsche.)

 
2 Machtstrukturen real life und als Kunstobjekte

2.1 Mark Lombardis narrative Strukturen
 
Der US-amerikanische Künstler Mark Lombardi war von der Existenz politisch-ökonomischer Verschwörungen überzeugt. Er sammelte Informationen zu Aktivitäten von Personen und Organisationen und übertrug diese Informationen auf ca. 14.000 Karteikarten. Aus Gründen der Glaubwürdigkeit und zur eigenen Sicherheit bezog Lombardi seine Information ausschließlich aus öffentlich zugänglichen Medien. Gesammelte Informationen verknüpfte Lombardi in Zeichnungen zu komplexen Soziogrammen, die Verbindungen zwischen politischen Machtstrukturen, mafiösen Netzwerken und Terrornetzwerken in Form von Geldflüssen, Einflüssen, Kontrollen, Kooperationen aufzeigten und so bedeutende politische Skandale und Finanzskandale transparent machten.
 
Lombardi war kein politischer Aktivist. Er übersetzte seine Erkenntnisse in ästhetische Objekte, die er als narrative Strukturen bezeichnete und als moderne Abwandlung von Historienmalerei verstand. In der Öffentlichkeit stießen Lombardis Arbeiten zunächst auf wenig Interesse. Stärker interessierten sich Geheimdienste und das FBI für Lombardi und überwachten ihn.

2.2 BCCI-Finanzskandal - ein Lehrstück über Machtstrukturen
 
1991 flog der BCCI-Finanzskandal auf, der bis dahin größte internationale Finanzskandal und zudem ein besonders dreister und zutief krimineller. Selbstverständlich handelt es sich um keinen Einzelfall. Die Kette der Vorgänger und Nachfolger reißt nicht ab. Geldwäsche der Danske Bank, Panama Papers, Cum-Ex, Korruptions-Sumpf auf Malta, Dieselgate lauten Schlagworte aktueller Groß-Skandale, die sich in eine lange Tradition einreihen, vermutlich nur die sichtbare Spitze eines Eisberges darstellen und hoher Wahrscheinlichkeit von noch aktuelleren Groß-Skandalen bald eingeholt werden.(1) Im Kontext BCCI stellen Ermittlungsbehörden im Verlauf ihrer Untersuchungen fest, dass
sowie
  • "dass das Geldinstitut in Geldwäsche, Bestechung, Waffenhandel und den Verkauf von Nukleartechnologie verwickelt war, den Terrorismus unterstützte, Steuerhinterziehung initiierte und förderte sowie mit Schmuggel, illegaler Einwanderung, dem illegalen Kauf von Immobilien und Banken sowie der Förderung von Prostitution in Verbindung stand" und u.a. genutzt wurde, um Drogengeld des Medellín-Kartells zu waschen.(2)

Das Gründungskapital der Bank stammte aus Abu Dhabi sowie zu 25% von der Bank of America. Mehrere Autoren nehmen an, dass die CIA sich bei der Gründung der Bank in relevanter Größenordnung finanziell engagierte. Zu prominenten Kunden der Bank zählten Führer von Guerillagruppen, Waffenhändler, Drogenkartelle. Eine als 'Sandstorm-Bericht' bezeichnete Prüfung kam 1991 zum Ergebnis, dass die BCCI weitreichend in Betrügereien und Manipulationen verwickelt war. Der Bericht informiert u.a. darüber, dass terroristische Organisationen der PLO die BCCI als Geschäftsverbindung für Waffengeschäfte mit mehreren Staaten nutzten (u.a. mit der DDR) sowie dass britische Nachrichtendienste und die CIA Transaktionen der BCCI überwachten, ohne sie zu unterbinden. Den Bericht halten britische Behörden bis heute größtenteils unter Verschluss. BCCI wurde als Geldwäscheeinrichtung der CIA bezeichnet und bekannte sich schuldig. Teile des Berichts sind geleakt.(3)

Ein weiterer Bericht kam 1992 zu dem Ergebnis, dass der ehemalige US-Verteidigungsminister Clark Clifford und sein Geschäftspartner Robert A. Altman im Zeitraum von 1978 bis 1991 regelmäßig in engen Beziehungen zu BCCI standen. Den Kontakt hatte Jimmy Carters Berater Thomas Bertram Lance hergestellt.  

 
2.3 Mark Lombardi - Kunst und Konspiration
 
Im Jahr 2000 bereitete Lombardi eine Ausstellung im New Yorker Museum MoMa PS 1 vor. Als Opus Magnum der Ausstellung war Lombardis Bild mit dem Titel BCCI-ICIC & FAB, 1972-91 vorgesehen, in dem er Verflechtungen der Bank im BCCI-Finanzskandal offenlegte. Entsprechend dem jeweiligen Informationsstand erstellte Lombardi aktuelle Versionen seiner Werke. 10 Tage vor der Ausstellung wurde die aktuelleste Version seines Bildes durch die Sprinkler-Anlage in Lombardis Atelier zerstört. Die Umstände wurden nie geklärt. Lombardi arbeitete eine Woche Tag und Nacht an der Rekonstruktion des Bildes, das schließlich doch noch auf der Ausstellung gezeigt werden konnte.(20) Lombardis Bild 'BCCI-ICIC & FAB, 1972-91' landete schließlich im Whitney Museum of American Art in New York.(4)
 
3 Wochen nach dem Vorfall mit der Sprinkler-Anlage wurde Lombardi in seinem Atelier erhängt aufgefunden. Trotz Ungereimtheiten erklärten Gerichtsmedizin und Polizei Lombardis Tod als Suizid. Später wurde bekannt, dass Lombardi vom FBI überwacht wurde und Drohanrufe erhielt. Zweifel am Suizid bestehen bis heute ebenso wie Misstrauen gegenüber Ergebnissen von Ermittlungen.
 
Der Name Gorge W. Bushs (43. Präsident der USA von 2001 bis 2009) und dessen dubiose Verwicklungen in Erdölgeschäften tauchen in mehreren Arbeiten Lombardis auf. 2 Wochen nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 rufen Mitarbeiter des FBI im Whitney Museum of American Art an; sie wollten Lombardis BCCI-ICIC & FAB, 1972-91 prüfen. Offen bleibt, ob es dabei um Aufklärung oder Vertuschung ging.(5,6)
 
Auf der dOCUMENTA (13) ist 2012 Lombardis Arbeit BCCI-ICIC & FAB, 1972-91 ausgestellt.(7) Bei unserem Besuch der documente 13 betrachten wir Lombardis Bild BCCI, verstehen aber weder dessen Bedeutung noch die ungeheuerliche Hintergründe und deren Konsequenzen. Die persönliche Aufarbeitung ist hier nachgeholt.
 
Die deutsche Filmemacherin Mareike Wegener veröffentlichte 2012 ihren Dokumentarfilm Kunst und Konspiration (53:15) über Lombardis Arbeit BCCI-ICIC & FAB, 1972-91.(8,9) Der Dokumentarfilm wurde auf Festivals sowie 2012 über eine Woche täglich im Museum of Modern Art in New York gezeigt.(10) 2012 lief der Film im Vertrieb des Real Fiction Filmverleih in deutschen Programmkinos. Im deutschen Fernsehen wurde der Fim am 23.02.2017 um 3:00 Uhr auf Arte gesendet. Ständig verfügbar ist der Film in der Arte-Version auf Youtube: Kunst und Konspiration



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  1. Übersichten zu öffentlich bekannt gewordenen Wirtschafts- und Finanzskandalen:
  2. Wikipedia: Bank of Credit and Commerce International (BCCI) 
  3. Teile des Berichts sind seit 2009 mit Auslassungen und Schwärzungen unter WikiLeaks veröffentlicht und können von der Seite heruntergeladen werden: BBCI Sandstorm Report, 1991
  4. Whitney Museum of American Art: Mark Lombardi
  5. Kunstmagazin DARE: Der Lombardi Code
  6. Zeit: Die Saud-Connection
  7. dOCUMENTA (13): Mark Lombardi
  8. AISTHESIS: Die Tonspur zu 9/11
  9. TELEPOLIS, Thomas Barth: Ästhetik der Konspiration 
  10. Museum of Modern Art: Mareike Wegener's Mark Lombardi: Death-Defying Acts of Art and Conspiracy 

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