Kamloops-Panaroma, originally posted to Flickr by Murray Foubiste licensed under the Creative Commons Attribution-Share Alike 2.0 Generic |
Auf einer Reise von den kanadischen Rocky Mountains an die Westküste British Kolumbiens haben wir 2010 Kamloops
durchquert, eine größere Kleinstadt am Zusammenfluss von North und
South Thompson River. Unsere einzige Erinnerung ist eine bei einem
Zwischenstop empfundene bedrückende Atmosphäre (Post: 30. Juli 2010: Kanada 2010: Ein langer Ritt von den Rocky Mountains nach Whistler). Diese Erinnerung weckt erst die aktuelle Berichterstattung zahlreicher Medien über eine Bußreise, die Papst Franziskus nach Kanada und u.a. nach Kamloops führt. Wenn Papst Franziskus im Alter von 85 Jahren und trotz seiner gesundheitlichen Handicaps eine Bußreise nach Kanada unternimmt, um sich bei der indigenen Bevölkerung zu entschuldigen (was er 2018 noch ablehnte), rechtfertigt dieser Sachverhalt einen Blick auf die Umstände.
Medienberichte Juli - August 2022: Papst bittet Ureinwohner um Vergebung
- NZZ: Papst Franziskus bittet die kanadischen Inidigenen um Vergebung
- Süddeutsche Zeitung: Wenn Buße nicht genügt
- Tagesschau: Franziskus auf Entschuldigungstour
- Tagesschau: Franziskus bittet Indigene um Vergebung
- ZEIT: Papst entschuldigt sich bei Inigenen für "kulturelle Zerstörung"
- FAZ: Papst bittet Ureinwohner um Entschuldigung für erlittenes Unrecht
- FAZ: Die Kirche kniet nieder vor Gott und bittet um Vergebung
- FAZ: "Das Wort Genozid ist mir nicht in den Sinn gekommen"
- taz: Mehr Worte als Taten
- ZDF: Kanadas historische Schande : Wie die Kirche Ureinwohner-Kinder folterte
- Sehr zurückhaltend textet katholisch.de das Ereignis: Papst in Kanada eingetroffen - Begegnung mit Indigenen
- Ausführlicher und offener für kritische Äußerungen berichtet das Kölner Domradio:
Neuere Medienberichte:
- FAZ, 26.01.2023: Noch mehr Beweise für „den Horror und das Leiden“ indigener Kinder
Was ist vorgefallen?
Die Kamloops Indian Residential School
war von 1890 bis 1969 als katholisches Internat eine von insgesamt ca.
3000 Internaten verschiedener religiöser Institutionen, die im
Residential School-System Kanadas für Kinder indigener Abstammung
bestanden. 2/3 der Einrichtungen befanden sich lt. SZ in katholischer Hand (SZ: Der Mann, der den Papst nach Kanada brachte). Im Frühjahr 2021 fanden auf dem Gelände der Kamloops Indian
Residential School Bodenuntersuchungen statt, bei der 215 verscharrte
Kinderleichen gefunden wurden. Internationale Medien machten den Fund
als „Massengrab“ publik (FAZ, 29.05.2021: Überreste von 215 Kindern kanadischer Ureinwohner entdeckt). Namen Verstorbener konnten nur unvollständig dokumentiert werden. Gräber blieben anonym. Aufgrund
gezielter Suche wurden kurz darauf mehr als 1000 weitere Gräber
indigener Kinder in der Nähe ehemaliger Internate entdeckt: FAZ,
14.07.2021: 160 weitere Kindergräber in Kanada entdeckt.
Insgesamt werden 3200 - 6000 Todesfälle vermutet. Immerhin stellt sich
Kanada diesem dunklen Kapitel seiner Vergangenheit durch Aufarbeitung
und Entschädigungen: FAZ, 15.12.2021: Kanada stellt Milliarden für indigene Heimkinder bereitet.
Zur
Erinnerung an die Kinder wurden Kreuze mit Kinderbekleidung
aufgestellt. Ein 2021 in der New York Times veröffentlichtes Foto eines
dieser Kreuze der kanadischen Fotografin Amber Bracken ist als Pressefoto des Jahres 2022
ausgezeichnet. Im Zeitalter digitaler Medien ist die Verbreitung
solcher Nachrichten nicht zu verhindern. Die Kirche muss reagieren.
Papst Franziskus übernimmt als Pontifex Maximus der katholischen Kirche
persönlich die Aufgabe einer kaum Erfolg versprechenden
Schadensbegrenzung durch eine Entschuldigung. Um welche Schäden geht es? Schäden der Opfer oder Schäden der Kirche?
Schuldeingeständnis, Bußreise und Entschuldigung des Papstes sind Symbolik ohne juristische oder materielle Konsequenzen. Welchen Wert hat diese Symbolik, solange die Kirche aufgrund vermeintlicher Heiligkeit nicht irren kann und 'Bodenpersonal' nur unter erdrückender Beweislast Fehler eingesteht? Einblick in Archive hat der Vatikan zu dieser Thematik bisher nicht zugestanden. Papst Alexander VI. (1431-1506), dessen fragwürdiger Lebenswandel bereits zu dessen Lebzeiten anrüchig war, hat aus politischen Erwägungen Aufteilungen der Neuen Welt vorgenommen und Missionsaufträge ausgesprochen. Aus diesen Dekreten leiteten Kolonialmächte das Recht ab, indigene Einwohner zu entrechten und zu verdrängen. Die Gültigkeit dieser Dekrete hat die Kirche bis heute nicht aufgehoben.
Wie sind die Vorfälle einzuordnen?
Religion ist ein ubiquitäres Phänomen in mannigfaltigen Ausprägungen, das prinzipiell keiner Institutionen (Kirchen) bedarf, um als universeller sozialer Tatbestand individuellen und kollektiven Nutzen zu spenden. Der Soziologe Robert Bellah vermittelt in seinem phänomenalen Hauptwerk „Der Ursprung der Religion.Vom Paläolithikum bis zur Achsenzeit" (Freiburg
2021), dass die Monopolisierung von Religion durch religiöse
Institutionen auf Interessen politischer Machtstrukturen zurückgeht und
religiöse Institutionen im eigenen Interesse mit politischer Macht
kollaborieren. (Bezüglich Deutungen der Entstehung von Religion und religiösen Institutionen sei auf Kapitel 3 des Posts Evolution, kognitive Revolution und die Folgen verwiesen.)
Richtig und zugleich falsch ist von Papst Franziskus vorgetragener Einwand, für die Vorfälle trage nicht alleine die Kirche Schuld, sondern auch damalige Regierungsbehörden (Spiegel: Papst weist alleinige Schuld der Kirche zurück). Richtig ist der implizite Verweis auf Kollaboration zwischen politischen Institutionen und der Kirche. Falsch ist die Bereitschaft der Kirche, sich politisch nützlich zu machen. Aus dieser Falle gibt es kein Entkommen.
In den USA, Australien und Kanada, ehemalige Kolonien des britischen Empire, zeigen Strategien der Assimilierung und 'Zivilisierung' indigener Bevölkerung einheitliche Muster ‚legalisierter Gesetzlosigkeit‘ auf Basis von Kollaborationen zwischen staatlichen und kirchlichen Institutionen. Ähnliche Muster nutzten auch andere Kolonialmächten in ihren Kolonien, jedoch weniger strategisch konsequent. Kernaspekte der Strategie:
- Indigene Bevölkerung wird in Reservate umgesiedelt und zur Sesshaftigkeit gezwungen.
- Kulturelle Identität der indigenen Bevölkerung wird durch Trennung von Eltern und Kindern sowie Umerziehung der Kinder in Internaten zu englisch oder französisch sprechenden „zivilisierten Christen“ zerstört (je nach Träger der Einrichtung mit katholischer, anglikanischer, presbyterianischer, methodistischer etc. Ausrichtung).
- Traditionelles Brauchtum und native Sprachen sind verboten und werden in Umerziehungs-Internaten brutal bestraft.
Versuche, Verantwortliche und Mitläufer von Schuld zu befreien, argumentieren, dass die immigrierte weiße Bevölkerung es nicht besser wusste und im guten Glauben gehandelt habe, während ihr Verhalten erst im Rückblick als Fehler erkannt wird. Einer solchen Sicht stehen jedoch ‚legalisierte Gesetzlosigkeit‘, kruder Rassismus und mit christlicher Ethik nicht vereinbares Verhalten im Wege. Menschen nicht assimilierter nativer indigener Bevölkerung wurden als 'Wilde' bzw. 'Barbaren' betrachtet, die nur durch Umerziehung in repressiven Einrichtungen zu vollwertigen Menschen aufsteigen können.
Unfolgsame Kinder wurden mit schweren Prügelstrafen und durch sexuellen
Missbrauch übel misshandelt, so dass Kindersterblichkeit und Suizide in
Internaten mehrfach höher waren als in der weißen Bevölkerung. Dieser
Sachverhalt war nie ein Geheimnis. Fehlverhalten und Perversionen dominanter weißer Pädagogen waren vielleicht nicht gebilligt, sie wurden aber auch nicht sanktioniert, sondern verschwiegen. Aus Sicht des weißen Suprematismus sind unappetitliche Begleiterscheinungen in Übergangsphasen als unvermeidbare Risiken und Nebenwirkungen hinzunehmen.
Die Historikerin Caroline Elkins dekonstruiert die britische Selbsttäuschung eines vermeintlich liberalen, aufgeklärten, gutartigen Imperialismus des britischen Empire und belegt in ihren Untersuchungen (zuletzt in Legacy of Violence. A History of the British Empire, New York 2022) am Beispiel von Zentralafrika "liberalen Imperialismus" als Ideologie mit rassistischem Überlegenheitsanspruch, der Eroberung, Repression, eklatante Gewalt und Gesetzlosigkeit vermeintlich rechtfertigt. Die New York Times rezensiert Legacy of Violence als Dunkle Wahrheiten über Großbritanniens imperiale Vergangenheit (Dark Truths about Britain's Imperial Past). The Guardian fasst die Rezension zu Legacy of Violence als brutale Wahrheit über die Vergangenheit Großbritanniens zusammen (Legacy of Violence: A History of the British Empire by Caroline Elkins review – the brutal truth about Britain’s past).
Die Saat dieser Ideologie ist in ehemaligen Kolonien des britischen Empire aufgegangen. Das 'christliche Abendland' hat sich gegenüber der außer-europäischen Welt zutiefst versündigt und Keile zwischen die Menschheit getrieben, die sich nur schwer wieder entfernen lassen, wenn überhaupt. Unsere Reisen durch grandiose Landschaften Nordamerikas, Australiens und
Afrikas sind von derartigen Erfahrungen überschattet. Kanada und Australien betreiben immerhin aktive Aufarbeitung dieser
unrühmlichen Geschichte, was jedoch nicht immer allen Nachfolgern europäischer Immigranten gefällt, wie wir aus eigener Erfahrung wissen. Im Gegenteil bestehen aufgrund des europäischen kulturellen Erbes nicht nur in den USA, sondern auch in Australien massive Rassismusprobleme gegenüber indigenen Einwohnern und nicht-europäischen Zuwanderern. In den USA, Erben des britischen Imperialismus, hat die Aufarbeitung der Problematik nicht einmal begonnen. Großbritannien, Mutterland des Empire, vernichtete belastende Akten und tut Elkins Untersuchungen als Übertreibungen ab. Über Donald Trump mag man den Kopf schütteln und ihn für einen Idioten halten, aber auch 60 % der Briten stimmten bei einer Umfrage im Jahr 2014 der Aussage zu, das britische Empire sei im Allgemeinen „etwas, auf das man stolz sein kann“ (Zitat aus der Rezension in The Guardian, s.o.)
Rassistische Denkweise und Hass gegenüber fremden Ethnien bildeten den Nährboden für den Holocaust. Deutschlands
hinreichend bekannte unrühmliche Geschichte bedarf keiner besonderen
Erwähnung, weil sich Deutschland zu seiner Schuld bekennt. Als bedrückend empfinden wir jedoch, dass historische Lektionen
selbst in Deutschland am rechten politischen Rand auf Ignoranz stoßen
und Fakten abgestritten werden. Über Deutschland hinaus sind rassistische Denkmuster weltweit in Köpfen vieler Menschen verbreitet und besonders ausgeprägt in Ländern, die unter dem Einfluss des ehemaligen britischen Empire und seines verlogenen „liberalen Imperialismus“ standen und teilweise noch immer stehen.
Quellen
Zum aktuellen Post regen Artikel des von uns wertgeschätzten Nordamerika-Korrespondenten der FAZ und weitere Artikel der FAZ an, die jedoch hinter einer Bezahlschranke liegen:
- 24.07.2022, Majid Sattar: Der Papst und die vermissten Kinder
- 23.07.2022, Matthias Rüb: Der Papst muß Buße tun
- 19.04.2022, Matthias Rüb: Der kulturelle Genozid an Kanadas Indigenen
- 15.06.2021, Frauke Steffens: „Den Indianer im Kind töten"
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