Sonntag, 27. Februar 2022

Der Gang der Geschichte und ihre Anfänge - Anmerkungen zum Buch 'Anfänge' von David Graeber und David Wengrow

Kulturanthropologe David Graeber (1961-2020) und Prähistoriker David Wengrow (*1972) führen in ihrer Veröffentlichung Anfänge: Eine neue Geschichte der Menschheit zahlreiche Belege gegen religiöse Mythen und wissenschaftliche Narrative kultureller Evolution an, die geopolitische Konstellationen als Stadien linearer evolutionärer Prozesse einer Zivilisationsgeschichte beschreiben.(1,2) Diese narrativen Muster entstanden in der Neuzeit mit der Aufklärung als modellhafte Ideen einer Zivilisationsgeschichte, die Thomas Hobbes (1588-1679) als Fortschritt und John-Jacques Rousseau (1712-1778) als Rückschritt auffassten. Narrative linearer Evolution von Kultur sind noch immer populär. U.a. ist hier Yuval Noah Hararis (*1976) Weltbestseller Sapiens: Eine kurze Geschichte der Menschheit einzuordnen.(3) In Anbetracht neuerer empirischer Befunde archäologischer Forschungen beabsichtigen Graeber und Wengrow, Geschichtsschreibung als große Erzählung zu dekonstruieren und durch Geschichte von unten in Form kontingent verlaufender petites histoires zu ersetzen, die in kein Standardmodell passen.(4) 
 
Nachfolgende Anmerkungen beschränken sich nicht auf Aussagen zu Anfänge; sie beziehen eigene und fremde Gedanken ein.
 

Status Quo
 
Prähistorische Forschungen und Modelle kultureller Evolution stoßen an universelle Gewissheiten ausschließende Grenzen. Interpretationen von Artefakten und ihr Verständnis als Ausprägungen von Kulturmustern erfordern ergänzende Annahmen, die verbleibende Leerstellen füllen, Spektren von Möglichkeiten aufzeigen und Wertungen enthalten, die je nach Perspektive unterschiedlich ausfallen können und bei den Autoren anarchistisch grundiert sind.(5,6) Anfänge spricht ein interessiertes Publikum an, ohne Expertise vorauszusetzen. Inhaltliche Details des Buchs sind strittig, aber Leseerfahrungen sind selbst dann bereichernd, wenn Leser der Message oder Details nicht zustimmen.
 
Das Paradigma linearer Evolution ist wahrscheinlich geprägt durch eschatoligische Zeitvorstellungen abrahamitischer Religionen, die Zeit als eine lineare Abfolge postulieren, die von der Schöpfung der Welt bis zu einer Endzeit reicht und in einer zeitlosen Ewigkeit eingebettet ist. Jenseits traditionell monotheistischer Kulturräume sind alternative religiöse Zeitvorstellungen verbreitet. In der Antike wurde Zeit als Wiederholungssequenz gedacht. Hinduismus und Buddhismus fassen Zeit als zyklische Kreisläufe auf. Indigene kalte Kulturen verstehen Zeit als eine in Riten und Mythen lebendig werdende 'Allzeit', in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschmelzen oder zweidimensional, wenn sie Unterscheidungen treffen zwischen einer die Welt strukturierenden mythischen Traumzeit, in der die Welt erschaffen oder geformt wurde sowie einer zukunftsfreien gegenwärtigen Welt, die Menschen mit dem Auftrag ererbt haben, sie in ihren Grundstrukturen zu bewahren. Traumzeit ist keine Vergangenheit im Sinne von Historie. Traumzeit strukturiert die Welt und bleibt in Ritualen und Mythen stets gegenwärtig. Das in diesen Kulturen typische Zeitbewusstsein ist zyklischer Art und spiritualisiert mythisch und rituell den Rhythmus der Jahreszeiten.(7,8) Als physikalische Größe bildet Zeit ein bisher ungelöstes Rätsel. Vermutlich ist Zeit eng mit dem Phänomen des Bewusstseins verknüpft, das sich wie Zeit einer physikalischen Erklärung entzieht. Zeit und Bewusstsein zählen zu den großen Rätseln von Naturwissenschaft und Philosophie.(9,10)

Einen kühnen, bemerkenswerten Entwurf zu einer Theorie der Evolution menschlichen Bewusstseins entwickelte der kanadische Neuroanthropologe, kognitive Neurowissenschaftler und Vertreter der mimetischen Theorie der Sprachentstehung Merlin Donald (*1939). Donald versteht Bewusstsein systemisch als Hybridprodukt einer Symbiose von Gehirn (Organ eines Lebewesens) und Kultur (von Menschen erschaffene Netzwerke von Artefakten) und Kultur und ordnet den Entwicklungsprozess des Bewusstseins in vier kulturelle Phasen ein. Den von Donald entwickelten Entwurf skizziert der Post Evolution, kognitive Revolution und die Folgen in Kapitel 2.1.

In europäischer Kultur dominieren religiös grundierte Vorstellungen linearer Evolution, die vermeintlich in einer apokalyptische Katastrophe enden. Mit Prozessen globaler Expansion europäischer Kultur setzte im 15. Jahrhundert eine Gegenbewegung ein. Europäische Kultur entwickelte gegenüber historischen Kulturen sowie gegenüber als primitiv oder barbarisch verstandenen alternativen Kulturen der Gegenwart ein scheinbar universal gültiges Selbstverständnis der Überlegenheit utilitaristischer Ethik, die dystopische Ängste verdrängte und Imperialismus, Kolonialismus, Rassismus legitimierte. Politische Programme europäischer Kultur korrespondieren mit vermeintlich wissenschaftlich zu begründenden Überzeugungen, die Zivilisation als kontinuierlichen Fortschritt verstehen, an dem zwar nicht alle Menschen im gleichen Umfang partizipieren, von dem aber alle in Form zunehmenden Wohlstands und verbesserter Lebensqualität zu profitieren scheinen.

Kulturmuster europäischer Prägung sind über historisch lange Zeiträume aus zusammenhanglosen Einflüssen und Prozessen zu einem kaum zu entwirrenden Konglomerat zusammengewachsen, das gegenüber alternativen Kulturmustern Dominanz entfalten konnte. Prägenden Einfluss auf dieses Konglomerat hatten und haben
  • patriarchalische Herrschaft,
  • das Patriarchat legitimierende monotheistische Religion,
  • Herausbildung eines Rechtsverständnisses von Privateigentum, das unfreie Menschen, Tiere, Land und die gesamte Natur als Objekte betrachtet und Macht über diese Objekte legitimiert,
  • Ideen der Aufklärung, die einerseits Einflüsse von Religion zugunsten von Verwissenschaftlichung der Welt zurückdrängen und andererseits Vorstellungen von Fortschritt und Naturbeherrschung durch Kultur entstehen lassen,
  • revolutionäre technologische Entwicklungen,
  • Prozesse der Digitalisierung, die mit Hilfe intransparenter Algorithmen Kontrolle von Verhalten, Entscheidungen und Handlungen von menschlichen Interaktionen unabhängig machen. Digitalisierung ermöglicht neuartige Verfahren unsichtbarer Machtausübung, die sich menschlicher Kontrolle entziehen, indem sie Schaltstellen individueller Motivation besetzen.
Mit dem Erfolg europäischer Kulturen wuchs deren Macht. Wenn Kontrolle über politische Macht fehlt oder verloren geht, legitimiert politische Macht sich selbst und erzeugt Narrative ihrer Legitimation. Trotz und entgegen aller empirischer Erfahrung von Machtmissbrauch durch Imperialismus, Kolonialismus, Nationalismus, Rassismus, Religion und nicht zuletzt auch Technologie, gelang europäischer Kultur auf Feldern wie Erziehung, Bildung, Wissenschaft, Ökonomie, Konsum etc. im Denken von Menschen eine individuelle und kollektive Internalisierung von Narrativen, die Fortschritt und zivilisatorische Überlegenheit mit europäische Kultur gleichsetzt und europäischer Kultur den Spitzenplatz im Ranking einer von ihr selbst definierten Zivilisation verschaffte.
 
 
Graebers und Wengrows Fragestellung und Alternative
 
Graeber und Wengrow erkennen Bedarf für eine "konzeptionelle Transformation" des vorherrschenden "großen Bildes" der Geschichte, das entstanden ist, um bestehende Verhältnisse zu rechtfertigen, aber den Fakten nicht standhält und in weiten Teilen falsch ist. In Anfänge setzen die Autoren Teile eines Puzzles zusammen "in dem vollen Bewusstsein, dass noch kein Mensch über ein auch nur annähernd vollständiges Set verfügt. Die Aufgabe ist gewaltig und die Themen sind so wichtig, dass es Jahre der Forschung und der Diskussion brauchen wird, um die Folgen des Bildes, das wir zu sehen beginnen, auch nur ansatzweise zu verstehen." (Anfänge, S. 17) Graeber und Wengrow suchen nach Antworten auf die Frage, "ob wir die Freiheiten wiederentdecken können, die uns überhaupt erst zu Menschen machen." (Anfänge, S. 21) 
 
Im 20. Jahrhundert begründen Entwicklungen der realen Welt zunehmende Zweifel am Narrativ zivilisatorischen Fortschritts. Disruptive Kräfte vermeintlich fortschrittlicher Prozesse offenbaren Irrtümer naiven Fortschrittsglaubens. Inzwischen ist bekannt und offensichtlich, dass Macht jeder Art zu deren Missbrauch verleitet und die Größe von Macht mit der Monstrosität von Missbrauch korreliert, während Kontrollmechanismen mit zunehmender Macht erodieren und versagen. Eine endlose Liste von Beispielen zeigt, dass in europäischer Kultur vergangener Jahrhunderte einiges gewaltig misslungen ist.(11) Über Ursachen und Zeitpunkte von Irrtümern kultureller Evolution sind kontroverse Diskussionen angelaufen. Ob Einigkeit über Irrtümer und deren Korrekturen erzielt werden kann, ist so wenig absehbar wie die Frage, ob Ursachen für disruptive Prozesse belastbar identifiziert und bewiesen werden können. 
 
Aus der Perspektive ihrer Wissenschaft entwickeln Ethnologen eine distanzierte Sicht kultureller Vergleiche. Claude Lévi-Strauss (1908-2009) diagnostizierte westlicher Kultur einen Zustand der Erschöpfung ihrer Reserven. Die Siegerkultur ihrer Ordnung zahlt westliche Kultur mit gesellschaftlicher Entropie und Orientierungslosigkeit, ohne dass eine Regenerierung aus eigener Kraft möglich wäre.(12,13) Der resignativen Haltung von Lévi-Strauss verweigern sich Graeber und Wengrow und machen mit etlichen Beispielen darauf aufmerksam, dass scheinbar rückständige oder primitive Kulturen diese Zusammenhänge kennen und mit verschiedenen Mechanismen Machtverhalten einzuhegen und Missbrauch zu verhindern wussten und wissen. Mit Anfänge unternehmen Graeber und Wengrow den Versuch, die Diskussion kultureller Disruption zu ordnen, Ursachen zu identifizieren, auf fehlerhafte Abzweigungen aufmerksam zu machen und fatalistische Alternativlosigkeit aufzuweichen. Graeber und Wengrow präsentieren keine Beweise, aber anhand von Erkenntnissen aus der archäologischen und ethnologischen Forschung zeigen sie gemäß eigenem Anspruch, dass
  • komplexes kollektives Handeln auch ohne hierarchische Strukturen möglich ist,
  • die Neolithische Revolution eine Erfindung von Archäologen ist,(14,15)
  • die Entstehung großer Städte nicht zwangsläufig in die Entwicklung von Staaten mündete,
  • komplexes kollektives Handeln keine Gesetzmäßigkeiten von Ungleichheit und Unfreiheit bzw. Asymmetrien von Besitztum und Macht begründet,
  • kulturelle Evolution weder unilinear noch teleologisch, sondern kontingent verläuft,
  • kulturelle Evolution überraschende Wendungen nehmen kann,
  • kulturelle Entwicklungen in einem als Schismogenese bezeichneten Prozess der Auseinanderentwicklung von Kulturmustern miteinander konkurrieren und beteiligte Parteien sich gegenseitig verstärken, aber auch in ihren jeweiligen Irrtümern bestärken und sich gegenseitig auslöschen können.(16)
Auf die Frage, warum europäische Kultur seit dem 15. Jahrhundert global expandierte und sich weitgehend durchsetzen konnte, sind keine einfachen Antworten zu finden, weil Kultur sich nicht zielorientiert, sondern kontingent entwickelt. Graeber und Wengrow vermeiden spekulative Antworten, aber sie nehmen an, dass die Bedeutung vermeintlich genialer kultureller Ideen, Erfindungen und Meilensteine wahrscheinlich deutlich überschätzt wird und aus naiven Erklärungsversuchen resultiert.(17) Als kulturelle Evolution materiellen und zivilisatorischen Fortschritts verstandene Geschichte entlarven Graeber und Wengrow vermeintlich als Narrative, die soziale Ungleichheit als Preis für Fortschritt erscheinen lassen und individuelle Freiheit als einen auf Naivität oder auf unkultivierter Lebensweise beruhenden Zustand unkalkulierbarer Gefahren. 
 
Selbstverständlich wird nicht jeder Leser des Buchs oder jeder Kulturwissenschaftler und erst Recht nicht jeder Politiker der Argumentation von Graeber und Wengrow folgen wollen, aber sie müssen sich an der Qualität der von Graeber und Wengrow präsentierten Argumente messen lassen, was das Niveau der Diskussion deutlich erhöhen und Problemlösungen möglicherweise beschleunigen könnte. Wer annimmt, dass kulturelle Evolution als Fortschritt in Richtung qualitativer Höherentwicklung und Reife aufzufassen ist, wird sich mit Anfänge kaum anfreunden, sondern das Buch eher als Provokation verirrter Köpfe wahrnehmen. 
 
 
Wie groß sind Handlungsspielräume?
 
Sachlich gut begründete Kritik an Anfänge formuliert der an der Universität Basel lehrende Soziologe Axel T. Paul in einem Essay, in dem er sich gründlich und nachvollziehbar mit in Anfänge publizierte Thesen und Behauptungen auseinandersetzt und mit dem Plädoyer schließt, evolutionäre Konzepte nicht leichtfertig über Bord zu werfen.(18) Evolution impliziert nicht zwangsläufig, dass Entwicklungen geradlinig und zielorientiert verlaufen, sondern besagt, dass Entwicklungsprozesse und Entwicklungsmuster identifizierbar sind.

Bemerkenswert ist aus eigener Sicht, dass Graeber und Wengrow anscheinend Robert Bellahs bedeutendes Werk Der Ursprung der Religion nicht zur Kenntnis genommen haben.(19) Bellah nimmt an, dass mit dem Übergang von in Verwandtschaftsbeziehungen organisierten segementären Stammeskulturen, deren Face-to-Face-Grupppen bis zu 200 Mitglieder umfassten, zu komplexeren archaischen Kulturen, die deutliche größere Mengen von Menschen kulturell einbinden, eine Transformation stattfindet, durch die horizontale patriarchalische Strukturen in vertikale, sozial stratifizierte Strukturen eines hierarchischen Patrimonialismus übertragen werden, die wir als Staaten identifizieren.(20) Mit der Transformation von Stammeskulturen zu archaischen Kulturen wandelt sich nicht nur fluider, instabiler Egalitarismus zur institutionell verankerten Ordnung, sondern auch Religion, die schon als Stammesreligion Überzeugungen einer kosmischen Ordnung symbolisierte, in die Stammeskulturen eingebunden sind.
 
Die Durchsetzung und Absicherung patrimonialer Strukturen gelingt mit der Entstehung politischer Institutionen, die einen gemeinsamen Rahmen herstellen, dessen normative Verbindlichkeit symbolische rituelle Handlungen verstetigen. An der Spitze dieser Institution monopolisiert eine einzelne Person die Verbindung zur kosmischen Ordnung als Herrscher und legitimiert damit nicht nur ihre Herrschaft, sondern gleichzeitig eine hierarchische Ordnung als immanente kosmische Ordnung. Bellah versteht den göttlichen oder halbgöttlichen König als den entscheidenden Hebel, der die soziale Ordnung von Stammeskulturen in archaische Kulturen transformierte.(21) Bellahs Verständnis dieser Zusammenhänge fügt sich nicht in das Konzept von Graeber und Wengrow und wird darum vermutlich von ihnen ausgeblendet.
 
Als Standardmodell kultureller Evolution hat sich eine Sicht durchgesetzt, gemäß der zunehmende Komplexität von Sozialstrukturen zwangsläufig in Hierarchien asymmetrischer Machtverteilung münden. Befindet sich die Menschheit in einer Falle, die sie sich selbst gestellt hat und aus der es kein Entkommen gibt? Der ersten Frage stimmen David Graeber und David Wengrow zu. Sie nehmen an, dass westliche Kultur unbewusst die Menschheit in eine Falle manövriert hat. Für Graeber und Wengrow ist diese Falle jedoch nicht ausweglos. Sie verstehen Menschen als "Projekte kollektiver Selbsterschaffung". Unter dieser Prämisse beschreiben die Autoren unterschiedliche Spielarten von Kultur in der Geschichte und stellen fest, dass die Menschheit sich Fesseln angelegt hat, von denen sie sich befreien muss, um als Spezies zu überleben.
 
Graeber und Wengrow argumentieren, dass akephale (herrschaftsfreie) Ordnungen ohne Zentralinstanzen nicht nur in Jäger-und-Sammler-Kulturen möglich sind, sondern auch in komplexen Kulturen des Zweistromlandes und des amerikanischen Kontinentes über lange Zeiträume existierten. Einvernehmlich geteilte soziale Mechanismen der Konsensbildung verhinderten Machtübernahme durch einzelne Personen oder Institutionen. Trotz Herrschaftsfreiheit war es möglich, komplexe Architekturen zu realisieren und das Zusammenleben einer großen Anzahl Menschen zu organisieren. Teilweise sind auch hybride Kulturen zu erkennen, die jahreszeitlich oder je nach Kriegs- und Friedenszeiten ihre kulturelle Ordnung wechselten und aufgabenspezfisch zeitlich begrenzte Führungsrollen an besonders geeignete Persönlichkeiten vergeben. In einigen Kulturen waren durchaus Machtstrukturen etabliert, die Ausprägungen bis zu despotischem und absolut willkürlichem Herrschaftsgebaren annehmen konnten, deren Herrschaft beschränkte sich aber auf sichtbare Nahbereiche und blieb außerhalb dieser Bereiche ohne normative Kraft.
 
In komplexen sozialen Ordnungen haben sich zwei unterschiedliche und nicht miteinander vereinbare politische Modelle in unterschiedlichen Spielarten und Schattierungen durchgesetzt, die die Begriffe Demokratie und Autokratie umschreiben. (In Übergangsphasen können sich auch hybride Modelle ausprägen, die jedoch relativ instabil sind und sich daher in eine der beiden Richtungen bewegen.) Warum etwas so geworden ist, wie es ist, blenden Graeber und Wengrow jedoch aus. Sie möchten in ihren Analysen kulturhistorischer Entwicklungen zeigen, dass die dominierenden politischen Modelle sich nicht zwangsläufig einstellen, sondern Kulturen unterschiedliche Wege gegangen sind, die eine herrschaftsfreie Organisation komplexer Ordnungen nicht ausschließen. Für Graeber und Wengrow muss zunehmende Komplexität von Sozialstrukturen nicht zwangsläufig in Hierarchien asymmetrischer Machtverteilung münden. Soziale Stratifizierung betrachten sie als eine mögliche, aber nicht die einzige Option der Beherrschung von Komplexität. In der Geschichte menschlicher Kulturen wurden offenbar verschiedene Spielarten der Komplexitätsbewältigung erprobt. Einige dieser alternativen Modelle konnten über lange Zeiträume erfolgreich bestehen. Lt. Robert Bellah gilt jedoch unzweifelhaft, dass wachsende wirtschaftliche Gewinne mit der Zunahme von Hierarchie und Herrschaft korrelieren, diese Zunahme jedoch nicht die Art von Hierarchie und Herrschaft bestimmt.(22) 

Robert Bellah nimmt Dominanz und Fürsorge als zwei biologisch vererbte und miteinander verknüpfte Veranlagungen an, deren soziale Domestizierung auf unterschiedliche Art und Weise gelingen kann, sodass unterschiedliche Prozesse unterschiedliche Kulturmuster erzeugen.(23) Ohne sich auf Bellah zu beziehen, operieren Graeber und Wengrow mit einer weiteren, modellierend auf Kulturmuster einwirkenden Veranlagung, wenn sie vermuten, dass starke Motive der Selbstbestimmung (Autonomie) kulturelle Konsensmodelle hervorbringen und fremdbestimmte Herrschaft verhindern oder eingrenzen.(24) Die Motivation zur Selbstbestimmung stimmt Graeber und Wengrow optimistisch. Sie halten für möglich, dass diese Motivation die Menschheit aus der Falle des westlichen Kulturmusters befreien kann. Graeber und Wengrow gehen jedoch nicht darauf ein, dass Herrschaftsfreiheit keineswegs grenzenlose Freiheit individuellen Verhaltens impliziert. Im Gegenteil ist in egalitären Kulturen soziales Verhalten stark reglementiert durch soziale Normen, mit denen soziale Kontrolle, Konformitätszwänge und Sanktionen einhergehen, sowie durch kulturelle Identität stiftende ritualisierte Verhaltensmuster, denen sich niemand entziehen kann.
 
Graebers und Wengrows Optimismus lässt die Frage unbeantwortet, warum das europäische Kulturmuster dominant werden konnte, ohne dass sich alternative Modelle durchsetzen oder parallele Alternativmuster behaupten konnten.(25) Möglicherweise übersehen Graeber und Wengrow, dass
  • evolutionäre Prozesse zwar kontingent verlaufen, aber sich kontingent einstellende Bedingungskonstellation zwangsläufig bestimmte Muster hervorbringen (was nicht nur für stoffliche Gegenstände gilt, z.B. Änderungen von Aggregatzuständen, sondern auch für nicht-stoffliche Gegenstände, wie z.B. Leben, Bewusstsein, Kultur),
  • Prozesse zunehmend komplexerer Kulturmuster zwar enden können, ihre Umkehrbarkeit jedoch strittig ist,(26)  
  • mit zunehmender Komplexität deren Beherrschbarkeit abnimmt und damit Verfahren der Kontrolle legitimer Macht erodieren,
  • Prozesse der Digitalisierung auf völlig neuartigem und historisch nie existierendem Niveau Kontrolle individuellen Verhaltens potentiell verbergen sowie Kontrolle von Machtausübung potentiell verhindern und Optionen erzeugen, die Ansprüche auf individuelle Selbstbestimmung konterkarieren und mit fremdbestimmten Motiven kontaminieren. 
Im globalen Kontext hat Komplexität der Gegenwart Dimensionen erreicht, die menschliche Entscheidungs- und Handlungsspielräume an Grenzen führt, die mit keinem historischen Modell vergleichbar sind und für Optimismus nur wenig Raum lassen. Der bedeutende Religionssoziologe Robert Bellah betrachtet in seinem großen Alterswerks Der Ursprung der Religion die Beschleunigung des kulturellen Wandels mit Skepsis:(27) 
  • In Verbindung mit der moralischen Blindheit, was wir den Gesellschaften der Welt und der Biosphäre antun, ist der hochtourige technische Fortschritt ein Rezept für rasches Aussterben [der Menschheit; eigene Ergänzung]. Die Beweislast liegt bei allen, die behaupten, dies sei nicht der Fall. Wir können darauf hoffen und daran arbeiten, dass unser Kurs eine andere Richtung nimmt, aber selbstzufrieden dürfen wir nicht sein.
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Fußnoten
  1. David Graeber, David Wengrow, Anfänge: Eine neue Geschichte der Menschheit, Stuttgart 2022 (Original: The Dawn of Everything. A New History of Humanity, London, New York 2021)
  2. NZZ: Mussten die Menschen zwangsläufig unfrei werden, als sie sesshaft wurden und Städte gründeten? Nein, sagen zwei Anarchisten und erzählen eine hoffnungsvollere Geschichte
  3. Yuval Noah Harari, Sapiens: Eine kurze Geschichte der Menschheit, München 2015 (Original: Sapiens: A Brief History of Humankind, London, 2014)
  4. Diese Absicht erklärt David Wengrow in einem im NZZ Magaizin veröffentlichten Interview: «Unsere Standardversion der Geschichte ist falsch», sagt der Archäologe David Wengrow
  5. Innerhalb der anarchistischen Bewegung sind zahlreiche unterschiedliche Strömungen identifizierbar, über die ein Artikel in Wikipedia informiert: Anarchismus
  6. Der renommierte Ethnologe und Religionswissenschaftler Karl-Heinz Kohl äußert in einer Buchbesprechung (FAZ: Anfänge der Zivilisation: Seht her, der Staat muss gar nicht sein!) Kritik an vermeintlichen argumentativen Schwachstellen von Deutungsmustern:
    • Kohl bezweifelt, dass Ideen der Aufklärung als eine Abwehrreaktionen auf Kritik indigener Völker Nordamerikas an europäischer Kultur entstanden seien.
    • Lt. Kohl skizzieren die Autoren mit ihrer scharfen Kritik ein nicht zutreffendes Bild von Rousseau und zeichnen selbst romantisch geprägte Bilder.
    • Kohl wirft den Autoren vor, dass sie in von ihnen kritisierte Denkschemata zurückfallen, wenn einzelne Argumente in ihr Konzept passen.
    Über Kohls kritische Anmerkungen soll hier nicht gerichtet werden. Grundsätzlich gilt jedoch:
    • Kohls Anmerkungen betreffen keine Kernaussagen und beschädigen nicht den Wert von Anfänge oder das Verdienst von Graeber und Wengrow. Ein unterschwelliger Vorwurf einer manipulativen Selektion von Daten zugunsten eines Verständnismusters wäre unangemessen. Wie jede Analyse, müssen auch Graeber und Wengrow in ihrer Analyse vereinfachen, Daten selektieren und sie neu zusammensetzen, um Aussagen ableiten zu können. Dieser Prozess ist unvermeidbar, aber er sollte transparent bleiben und diskutierbar sein
    • Wissenschaftliche Auseinandersetzungen sind nicht per se unredlich, sondern notwendig und unvermeidbar. Sie sind jedoch oftmals von individuellen Nutzenerwägungen hinsichtlich persönlicher Reputation, wissenschaftlicher Karrieren und ökonomischer Interessen beeinflusst und werden daher nicht immer fair geführt. Wissenschaft sucht nach Wahrheiten, aber sie verkündet keine ewigen Wahrheiten. Wissenschaftliche Daten sprechen nicht zu uns. Sie bedürfen der Interpretation und Bewertung. Wissenschaftliche Erkenntnis entsteht in der Diskussion über unterschiedliche Interpretationen von Daten und in der Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Modellen von Bewertungen. Diskussionen und Auseinandersetzungen finden oftmals in wissenschaftlichen Grabenkämpfen statt, die umso leidenschaftlicher geraten, je weicher Daten sind, mit denen Wissenschaften umgehen. Je weiter der historische Horizont zurückreicht, desto weicher werden Daten und ihre Interpretationen.
  7. Religionswissenschaftler Peter Antes, Leibniz Universität Hannover: Zeitvorstellungen in Mythen und Religionen
  8. Um stark wertende Bezeichnungen für indigene Kulturen zu vermeiden, schlug Claude Lévi-Strauss in seinem Werk Das wilde Denken vor, Kulturen nach ihrer Einstellung zum Kulturwandel in kalte und heiße Kulturen zu unterscheiden. Je kälter eine Kultur ist, desto stärker ist ihr Bestreben, mittels komplexer Verhaltenssysteme ihre traditionellen Kulturmuster zu bewahren und Veränderungen zu vermeiden. Eine Kultur gilt als umso heißer, je stärker und je schneller sie zu umfassenden Modernisierungen bestrebt ist. - Wikipedia: Kalte und heiße Kulturen oder Optionen
  9. Quellen zur Problematik von Zeit:
  10. Quellen zur Problematik von Bewusstsein:
  11. Der Autor George Orwell (1903-1950) bezog seine Fabel Farm der Tiere auf die russische Revolution und Entwicklungen des Stalinismus, aber die Entwicklung europäischer Kultur findet sich in der Fabel ebenfalls wieder. - Wikipedia: Farm der Tiere
  12. FAZ: Der Westen ist erschöpft
  13. WELT: Warum ist unsere Gesellschaft so erschöpft? 
  14. Vor ca. 10.000 Jahren begann im Alten Orient ein als Neolithische Revolution oder Neolithisierung bezeichneter Übergang von nomadisierender Lebensweise zu produzierender Landwirtschaft, Viehwirtschaft, Vorratshaltung, Sesshaftigkeit, Arbeitsteiligkeit. Vom Fruchtbaren Halbmond breitete sich die landwirtschaftliche Produktions- und Lebensweise auf mehreren Routen in alle Richtungen aus. Mit der Sesshaftigkeit begannen Menschen komplexere Sozialordnungen des Zusammenlebens zu etablieren. 
  15. Graeber, Wengrow (s.o., Kapitel 7: Die Adonisgärten) und andere Autoren kritisieren den in Anlehnung an die Industrielle Revolution von Gordon Child (1892-1957) entwickelten und von Yuval Noah Harari beschriebenen Prozess der Neolithischen Revolution als verfehlt, weil 'Revolution' einen abrupten Wandel der Produktions-, Wirtschafts- und Lebensweise suggeriert, der so nicht stattfand. Stattdessen vollzog sich der Wandel in unterschiedlichen Regionen auf oftmals unterschiedlicher Art und Weise über mehrere Tausend Jahre. In diesen langen Zeiträumen bestanden unterschiedliche und oft auch gegensätzliche Kulturmuster nebeneinander oder sie wechselten in jahreszeitlicher Abhängigkeit und betrieben z.T wechselseitigen Tauschhandel.  
  16. Der Konflikt zwischen Athen und Sparta in der Antike bietet mit der Geschichte des Peloponnesischen Kriegs ein ebenso berühmtes wie anschauliches Beispiel. Eine lesenswerte Darstellung dieses Konfliktes bietet der Althistoriker Wolfgang Will mit seinem Buch: Athen oder Sparta. Die Geschichte des Peloponnesischen Krieges. C.H. Beck, München 2019
  17. Hierzu zählen u.a. landwirtschaftliche Produktionsweisen und Metallverarbeitung sowie Erfindungen wie Schrift, Buchdruck, Rad, Webstuhl, Dampfmaschine, Elektrizität etc.. 
  18. Axel T. Paul in Soziopolis, 04.04.2022: Neue Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. Literaturessay zu „Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit“ von David Graeber und David Wengrow
  19. Robert Bellah: Der Ursprung der Religion. Vom Paläolithikum bis zur Achsenzeit. Freiburg 2021, S. 263ff. (Originalausgabe: Robert N. Bellah: Religion in Human Evolution. From the Paleolithic to the Axial Age. Cambridge Mass. 2011)  
  20. Als archaische Kulturen bezeichnet Bellah das altes Mesopotamien, Ägypten, China und die Indus-Kultur, die später Indien, das alte Griechenland und das alte Israel beeinflussen. Der Ursprung der Religion, S.303ff..
  21. Siehe Bellah, Der Ursprung der Religion, S. 372ff..
  22. Siehe Bellah, Der Ursprung der Religion.
  23. Siehe Bellah, Der Ursprung der Religion.
  24. Hier stellt sich die Frage ist, ob Dominanz und Autonomie nicht lediglich unterschiedliche Ausprägungen der gleichen Verhaltensdisposition darstellen. 
  25. Im 15. Jahrhundert setzte der in mehreren Phasen verlaufende Prozess der europäischen Expansion ein. Die Neuaufteilung der Welt unter europäischer Dominanz ist nicht als linearer kultur-evolutionärer Prozess erklärbar, sondern eine Folge der Konzentration kontingenter Bedingungskonstellationen, die mehr oder weniger zufällig europäischer Kultur auf Kosten nicht-europäischer Kultur zur Dominanz verhelfen.
  26. Eine Entwicklung von kalten zu heißen Kulturen (siehe Anmerkung 8) betrachtete Claude Lévi-Straus nicht als zwingendes evolutionäres Muster. Er nahm aber an, dass Kulturwandel immer zur "Erhitzung" führt und diese nicht umkehrbar sei. Jan Assmann nimmt dagegen an, dass Kulturwandel auch zurück in Richtung "Kälte" gehen kann. Politische Bewegungen des radikalen Islamismus scheinen Jan Assmann Recht zu geben, was jedoch im kurzen Zeithorizont von wenigen Jahrzehnten noch nicht entscheidbar ist.  
  27. Siehe Bellah, Der Ursprung der Religion, Seite 23.

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