Mittwoch, 14. Oktober 2020

Der verlorene Patient – Dr. Umeswaran Arunagirinathan berichtet aus dem Maschinenraum des Medizinbetriebs (Update: 5.03.2023)

Dr. Umeswaran Arunagirinathan, den fast jeder (Dr.) Umes nennt, ist in der Gegenwart Funktionsoberarzt für Herzchirurgie am ‎Klinikum Bremen. Aktuell rollt Rowohlt das 3. Buch des Autors aus.(1) Der Titel des Buchs Der verlorene Patient - Wie uns das Geschäft mit der Gesundheit krank macht kündigt konstruktive Kritik an Fehlentwicklungen des deutschen Gesundheitssystems an. Das Buch richtet sich nicht nur an Mediziner und Politiker, sondern ebenso an das medizinische Klientel, also an uns als Patienten. Umes ist kein Kandidat für den Literaturnobelpreis und Der verlorene Patient ist kein wissenschaftliches Werk, aber das Buch verdient viele Leser, weshalb es hier in Kurzform vorgestellt ist.(2)

Vorab ist Umes außergewöhnliche, wenn nicht gar sensationelle Biographie eine Abschweifung wert. Umes ist 1978 als Tamile auf Sri Lanka geboren, wo Bürgerkrieg herrschte. Um den Jungen in Sicherheit zu bringen, schickten ihn die Eltern als 12-jährigen unbegleitet mit bezahlten Schleppern nach Europa. Seiner Mutter musste er versprechen, nie Alkohol zu trinken, niemals zu spielen und Arzt zu werden. Kosten der Ausreise konnten die Eltern nur anzahlen. Den Rest beglich Umes über viele Jahre und vergaß seine Familie nicht.(3) Die Reise endete zunächst in Afrika. Über 8 Monate schlug sich Umes auf eigene Faust nach Hamburg durch, wo ihn ein Onkel aufnahm. Bei der Ankunft sprach Umes kein Deutsch und nur schlechtes Englisch, aber Umes war schulhungrig, sah Chancen, ergriff sie und lernte schnell.

In Hamburg wurde Umes nach 2 Jahren zum Klassensprecher gewählt, ein Jahr später zum Schulsprecher und bald darauf in das Landesschülerparlament, dessen Sprecher er wurde. Obwohl Umes ständig von Abschiebung bedroht war, erreichte er ein 1er-Abitur und konnte ein Medizinstudium aufnehmen. Weil die Eltern nicht in Deutschland lebten und darum kein Anspruch auf Bafög bestand, musste Umes sein Studium mit Hilfe zahlreicher Jobs selbst finanzieren. Nach dem medizinischen Examen trat Umes 2008 eine Anstellung am Universitätsklinikum Hamburg als Assistenzarzt an. Im gleichen Jahre wurde er nach 18 Jahren Aufenthalt in Deutschland eingebürgert. In Hamburg wurde Umes zum Marathonläufer mit der Bestzeit 3:36 Std., was ihn für den Autor dieses Posts besonders sympathisch macht.(4)

Das Buch Der verlorene Patient ist eingängig geschrieben und auch ohne medizinische Fachkenntnisse leicht verständlich zu lesen. Der Inhalt des Buchs ist jedoch keine leicht verdauliche Kost. Aus Sicht öffentlicher und freigemeinnütziger Krankenhausträger berichtet der Autor ohne Scheu gegenüber der eigenen Zunft und ihrem Klientel aus dem Maschinenraum des Klinikbetriebs in Deutschland, in dem zwischen starren Hierarchien, Abhängigkeiten, Fragmentierung, wirtschaftlichen Zwängen und Eigennutz ein ganzheitlicher Blick auf den Patienten verloren geht. Umes benennt konkrete Mängel des deutschen Gesundheitssystems, Fehler deutscher Gesundheitspolitik und nicht zuletzt Ungerechtigkeiten und Absurditäten der in Deutschland durch die Aufspaltung in gesetzlicher und privater Krankenversicherung installierten Zwei-Klassen-Medizin.

Patienten bleiben von Kritik nicht verschont. Unabhängig von der Art ihrer Versicherung beklagt der Autor eine unter Patienten verbreitete Mentalität des Anspruchsdenkens an Vollkasko-Versorgung und er vermisst oftmals Bereitschaft zur Eigenverantwortung. Die Spitze der Unvernunft markieren Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Ein hoher Anteil Betroffener schluckt trotz Nebenwirkungen von Medikamenten lieber Tabletten oder spritzt Insulin, als dass sie ihre Ernährung und ihren Lebensstil umstellen, obwohl individuelle Lebensqualität von einer solchen Umstellung vielfach profitieren würden. Darüber hinaus beklagt der Autor einen wissentlichen Missbrauch von Notfallambulanzen der Krankenhäuser durch Patienten auf Kosten tatsächlicher Notfälle und des gesamten Versorgungssystems. Unbeachtet bleibt, dass dieser Missbrauch vermutlich ein Effekt der Zwei-Klassen-Medizin ist. Für gesetzlich Krankenversicherte ist es oftmals schwierig oder kaum möglich, im Wohnumfeld niedergelassene Ärzte zu finden und/oder zeitnah Termine zu erhalten.

Die Qualität von Leistungen des deutschen Gesundheitssystems liegt zwar im internationalen Vergleich in der Spitzengruppe, aber das deutsche Gesundheitssystem zählt auch zu den weltweit teuersten und zeigt im Verhältnis zu seinen Kosten einen Mangel an Effizienz.(5) Als gemeinsame Hauptursache bzw. ‚Ursünde‘ des Medizinbetriebs identifiziert Umes ein an marktwirtschaftlichen Prinzipien ausgerichtetes ökonomisches Paradigma, dessen Dominanz mit einem Verlust an Patientenorientierung bzw. Patientenwohl einhergeht.

Umes möchte eine schon lange überfällige Diskussion über Irrtümer und Irrwege des deutschen Gesundheitssystems anstoßen. Dabei verharrt der Autor nicht bei der Anklage von Missständen. Er benennt konkrete Ansätze für Veränderungen. Besonders am Herzen liegt dem Autor eine Veränderung des Bewusstseins zurück zu ethischen Prinzipien, wie sie Hippokrates von Kos bereits im 5. Jh. v. Chr. formulierte und deren Grundsätze als Eid des Hippokrates mit Anpassungen auch noch in der Gegenwart als ethische Richtlinie medizinischen Handelns gelten. In der Realität wird diese ethische Richtlinie jedoch oftmals vernachlässigt, vergessen oder ignoriert. Der Blick in den Maschinenraum des Medizinbetriebs offenbart dringenden Handlungsbedarf. 

16 €, Preis der Printausgabe, bzw. 14,99 € für das E-Book sind für den instruktiven Blick über die medizinische Versorgungslandschaft in Deutschland gut angelegt.
 

Anmerkungen 

  1. Das erste Buch, Allein auf der Flucht, erschien 2006 und schildert die fast 9 Monate dauernde abenteuerliche Reise des 12-jährigen von Sri Lanka nach Deutschland.
    Das zweite Buch, Der fremde Deutsche, erschien 2017 und beschreibt die Geschichte einer gelungenen Integration trotz alltäglicher rassistischer Erfahrungen. 
  2. Online-Artikel zu Dr. Umeswaran Arunagirinathan:
  3. Spiegel-Fotostrecke 2018: Die Geschichte von Dr. Umes
  4. Hamburger Morgenpost 1999: Hamburg ist mein Zuhause
  5. Deutsches Ärzteblatt 2019: Deutsches Gesundheitssystem: Hohe Kosten, durchschnittliche Ergebnisse

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