Deutsch+Mathe im Ländervergleich 2018, BPB 24.04.2023 |
Im vom Protestantismus beeinflussten preußischen Staat entwickelten sich Vorstellungen eines Kulturstaats der Dichter und Denker, die eng verflochtene Interdependenzen zwischen innerer Staatsbildung und staatlich geförderten Leistungen von Bildung, Wissenschaft, Kunst, sozialer Fürsorge bildeten. Im 18. Jahrhundert dehnte der preußische Staat Vorstellungen eines Kulturstaats top down aus und setzte sie mit der Einführung einer von Volksschulen abzudeckenden allgemeinen Schulpflicht politisch verbindlich um. Die Etablierung einer Zwischenebene von Realschulen trug erweitertem Qualifikationsbedarf einer Dienstleistungs-Mittelschicht von Beamten und Angestellten Rechnung. Bottom up aufsteigende Entwicklungen waren prinzipiell nicht denkbar und konnten sich bestenfalls als Ausnahmen ausbreiten.
Das patriarchalische Familienmodell beschränkte höhere Bildung auf männlichen Nachwuchs. Die Ausstattung von Mädchen mit höherer Bildung galt als unnötig, nicht sachdienlich und religiös nicht zu rechtfertigen. Erst 1900 wurde in Deutschland das Züchtigungsrecht von Ehemännern
gegenüber ihren Frauen abgeschafft, in anderen europäischen Ländern noch
deutlich später. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Frauen ein Hochschulstudium nur mit Ausnahmegenehmigung möglich. Eine kaufmännische Ausbildung war für Mädchen nicht üblich. Beruf und Familie galten für Frauen als unvereinbar. NS-Politik verfestigte das noch nach dem 2. Weltkrieg geltende Dogma der Unvereinbarkeit von Beruf und Familie.
- BPB: Schulgeschichte bis 1945: Von Preußen bis zum Dritten Reich
CC BY-NC-ND 3.0 DE, Autoren: Benjamin Edelstein, Hermann Veith für bpb.de
Ab 1908 gestattete Preußen Frauen den Zugang zur Universität, aber nicht aus Gründen von Gendergerechtigkeit, sondern damit "der deutsche Mann nicht durch die geistige Kurzsichtigkeit und Engherzigkeit seiner Frau an dem häuslichen Herde gelangweilt" wird (Zitat: Spiegel 1.10.2007: Lehrerinnen um 1900: Nervöse Vorkämpferinnen). Weil die männliche Elite als Militär benötigt und verschlissen wurde, waren Pädagoginnen bereits im 19. Jahrhundert zugelassen, allerdings unter Bedingungen des Lehrerinnenzölibats. Wer heiratete, musste den Beruf aufgeben. Bei Pädagogenmangel konnten hilfsweise auch verheiratete Frauen eingesetzt werden, jedoch ohne Pensionsansprüche nach Heirat. Der Lehrerinnenzölibat wurde 1919 aufgehoben, aber während der Wirtschaftskrise der Weimarer Republik aus arbeitsmarktpolitischen Gründen 1923 wieder eingeführt, um Stellen für Männer zu sichern. Obwohl unverheiratete Lehrerinnen weniger verdienten als Männer, mussten sie ab 1923 einen zusätzlichen Lohnsteueraufschlag als Ledigensteuer hinnehmen.
Das deutsche Beamtengesetz von 1937 stellte Beamte in den Dienst von NS-Politik und sah für weibliche Beamte eine generelle Zölibatsklausel vor. 1950 wurde die Klausel von einer Muss- zu einer Kannbestimmung umgewandelt und 1957 aufgehoben, nachdem das Bundesarbeitsgericht die Klausel als verfassungswidrig und damit nichtig erklärt hat. Der Verein katholischer deutscher Lehrerinnen verteidigte noch in den 1950er Jahren die Zölibatsklausel mit religiösen Argumenten:
„Die Lehrerin – wie wir sie gewünscht und erzogen haben – soll sich mit ganzer Kraft ihrem Beruf widmen. Sie soll ausscheiden aus dem Beruf, wenn sie erkennt, daß sie in die Ehe eintreten und einen anderen hochwertigen Beruf ergreifen soll. Sie soll, solange sie in der Schule steht, ungeteilt sein. Und sie soll aus diesem Erleben heraus die Fähigkeit haben, den Lehrberuf auch als Lebensberuf zu sehen, sich ihm für immer zu weihen, und sie kann das um so mehr, wenn sie in der katholischen Kirche steht, die ihr in der Lehre von der gottgeweihten Jungfräulichkeit einen herrlichen Fingerzeig, ja eine Verklärung für diese Ganzheitsaufgabe des Berufes gibt. Es ist eine soziale Tat unseres Vereins, wenn er von seinen Mitgliedern erwartet, daß gerade sie, die Volkserzieherinnen, nicht Ehe und Schuldienst miteinander verbinden. Sie sollen vorleben, was sie als soziale Entwicklung erwarten: die Wiedergewinnung der Frau ungeteilt für Familie… Unser Ideal ist die Verbindung christlicher Jungfräulichkeit mit dem Lehrerinnenideal. Die ist in einer Zeit, wo ein heiliger Radikalismus dem Radikalismus der Gottlosen gegenübergestellt werden muß, so zeitgemäß wie je.“
(Zitat: Wikipedia: Lehrerinnenzölibat)
Nach der global politischen und sozialen Katastrophe von 2 Weltkriegen setzte internationale Diskussion über Ursachen des deutschen Nationalsozialismus ein. Als mitverantwortlich für weitgehende öffentliche Akzeptanz militaristischer totalitärer Herrschaft wurde das hierarchisch gegliederte preußische Schulsystem identifiziert. Alliierte Westmächte beabsichtigten daher nach dem 2. Weltkrieg die Einführung eines Einheitsschulsystems in Westdeutschland. Personen der ehemaligen Elite der Weimarer Zeit und NS-Zeit waren für den Wiederaufbau sowie für Aufgaben der Führung und als Lehrer an Schulen unverzichtbar. Mit hierarchischer Kategorisierung der Bevölkerung verwachsene Führungspersonen der alten Ordnung nutzten ihre Positionen im neu gegründeten föderalistischen politischen Staat und verwendeten die Zerstörung humanistischer Bildung durch den Nationalsozialismus als Argument, um ein in der Weimarer Republik etabliertes dreigliedriges Schulsystem neben Sonderschulen erneut durchzusetzen.
- BPB: Schulgeschichte nach 1945: Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart
CC BY-NC-ND 3.0 DE, Autoren: Benjamin Edelstein, Hermann Veith für bpb.de
Patriarchalische Normen und Werte der Vorkriegszeit überlebten den 2. Weltkrieg nicht nur im Schulsystem der Bundesrepublik, sondern auch in der Justiz, im Beamtentum sowie generell in der Politik und damit auch in der Familienpolitik:
- Bis 1958 waren Ehemänner berechtigt, Anstellungsverträge ihrer Frauen nach eigenem Ermessen und ohne deren Zustimmung fristlos zu kündigen.
- Bis 1977 waren Frauen nur bei Vereinbarkeit mit ihren Pflichten in Ehe und Familie zur Erwerbstätigkeit berechtigt.
- Prügelstrafen wurde erst 1973 an allen Schulen der Bundesrepublik verboten.
- 2000 beschloss der Bundestag endlich das Recht von Kindern auf eine gewaltfreie Erziehung.
Eigene Schulerfahrungen der Volksschulzeit (1956 – 1964) und den zum Abitur führenden Besuch eines Aufbaugymnasiums (1964 – 1970) prägten historisch überlieferte bildungspolitische Verkrustungen des deutschen Schulsystems. Mit reformpädagogischen Bemühungen der 1960er Jahre setzte eine halbherzige Auflösung von Verkrustungen des deutschen Schulsystems ein, die benachteiligten Bevölkerungsschichten bessere Bildungschancen und höhere soziale Mobilität ermöglichen sollte und die Realisierung einer größeren sozialen Gerechtigkeit beabsichtigte.
Im Kern konserviert deutsche Schulpolitik jedoch bis zur Gegenwart hierarchische Ordnungsprinzipien des 19. Jahrhunderts und versucht auf geheimnisvolle Art und Weise, allerdings vergeblich, Mangel in Kreativität und Leistung zu verwandeln. Indem dieser Kern utilitaristisch-hedonistische Prinzipien individueller Glücksmaximierung bewahrt, konserviert er soziale Ungerechtigkeit, vernachlässigt er kollektive Güter, provoziert zunehmende Polarisierungen des öffentlichen Lebens und bewirkt nicht zuletzt im Alltagsdenken aufgrund steigender Notenspiegel ein schwer nachvollziehbares blamables Ranking des deutschen Schulsystems in internationalen Vergleichen.
- Tagesschau, 5.12.2023: Deutsche Schüler schneiden so schlecht ab wie nie
- FAZ, 5.12.2023: Das neue PISA-Debakel
- OECD PISA 2022: Ländernotiz Deutschland (PDF)
Opfer des Schulsystems sind primär Schüler, aber nicht zuletzt auch Lehrer, die im Schulsystem ihre pädagogische Leidenschaft nachhaltig verlieren, weshalb die Krankheitsquote von Lehrern im Schulbetrieb mit aktuell ca. 13,5 Tagen pro Jahr ungefähr doppelt so hoch ist wie in der Wirtschaft und ein hoher Anteil der Lehrer resigniert, erkrankt, scheitert.
Bildungs- und Schulpolitik im kulturellen Kontext
Das deutsche Schul- bzw. Bildungssystem hat offensichtlich nicht nur größere Probleme, sondern steckt in einer Krise, die auch Geld nicht heilen könnte, wenn es zur Verfügung stände. Die Krise des Bildungssystems beruht nicht auf isolierbaren Krankheitssymptomen, sondern resultiert in westlicher Kultur aus einer tiefen Krise, die über Jahrhunderte auf dem Boden kapitalistischer Denkweise gewachsen ist und einen Verbund von Krisen verursacht. Krisen breiten sich nämlich auch im Gesundheitssystem, im Rentensystem, bei kollektiven Gütern (Klima, Umwelt, Mobilität, öffentliche Sicherheit etc.) aus und wecken bei einem wachsenden Anteil der Bevölkerung Zweifel an der Seriosität und Glaubwürdigkeit von Politik. Weil immer weniger Menschen den Fähigkeiten und dem Willen von Politik westlicher Demokratien zur Lösung großer Krisen und zur Realisierung sozialer Gerechtigkeit vertrauen, nehmen Hass, Rechtsextremismus, Populismus als politische Haltung zu und stärken autoritäre Strukturen rechts-konservativer, regressiver Parteien wie AFD, die demokratische Strukturen nahezu aller westlicher Kulturen zusätzlich in Defensiven drängen.
Mit Hilfe individualistischer Weltanschauungen prägten westliche Kulturen religiöse Institutionen, Hedonismus, Utilitarismus, Fortschrittsideologien einer kapitalistischen Kultur aus, in der demokratisch legitimierte Strukturen sozial zutiefst ungerechte, toxische ökonomische Strukturen erzeugen, in denen Reichtum und Wohlstand weniger Menschen auf Ausbeutung und Versklavung vieler Menschen beruht und Makroprozesse nur beschränkt beherrschbare Komplexität erzeugen. Damit eine Majorität das nicht bemerkt, muss die Wirtschaft wachsen und breit gestreute Optionen des Konsums verteilen. Nicht zu verbergende dynamische Unwuchten dieser Kultur begegnet Politik mit Hoffnung auf technologischen Fortschritt. Jetzt hilft nur noch wünschen und beten.
Die Ausbreitung von Ausbeutungskultur westlicher Demokratien vernichtet kollektive Werte und somit Gemeinsinn von Menschen bzw. ihre Fähigkeiten und ihren Willen zur Kooperation. Die globale Vernetzung von Strukturen westlicher Ausbeutungskultur minimiert Chancen einer kulturellen Krisenlösung und maximiert Ohnmacht.
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