Mittwoch, 6. Dezember 2023

Erzählungen kausaler Sinnkonstrukte - Denken 1.0 und Denken 2.0

Quelle: Carl Auer Verlag, Magazin Systemzeit:
Kontingenz - Raum in dem sich Möglichkeiten öffnen
Quelle: Gabler Wirtschaftslexikon:
Was ist "Kontingenz"?
Dieser Text ist ohne pädagogische oder missionarische Absichten formuliert, die Leser, Zuhörer, Schüler etc. von Standorten abholen wollen, um sie vermeintlich aufzuklären oder zu belehren. Der Autor sieht sich zu Redlichkeit verpflichtet, jedoch nicht zu pädagogischer Aufklärung. Für ungeübte Leser kann dieser Text zugegeben schwierig sein, weil er ohne Konzessionen an Vorkenntnisse von Lesern lediglich Standpunkte von Ansichten des Autors beschreibt. Leser möchte er zu eigenen Recherchen anregen.
 

Kontingenz, Komplexität und kausale Sinnkonstrukte
 
In evolutionären Prozessen eines hoch komplexen, sich ständig verändernden Universums ist Biologie entstanden. Biologie hat in einem kleinen Segment großer Vielfalt Tiere der Gattung Homo sapiens hervorgebracht und sie biologisch mit Grundbedürfnissen ausgestattet, die Lebensfähigkeit ermöglichen. Hierzu zählen Nahrungsaufnahme, Schlaf, Kooperation, Kommunikation, Sex etc.. Höhere Arten verfügen darüber hinaus als Kategorisierung und Kausalattribuierung bezeichnete universelle Deutungsmechanismen ihrer Wahrnehmung. Auf bisher unverstandene Art produzieren diese Mechanismen mentale Vorstellungen kausaler Sinnkonstrukte der Realität. Mentale Repräsentation kausaler Sinnkonstrukte scheint ein Grundbedürfnis höherer Arten zu sein. Sachverhalte universeller Mechanismen berechtigen zu der Annahme, dass dieser Mechanismus als evolutionäre Strategie der Reduzierung kontingenter Komplexität aufzufassen ist, mit der sich Lebenschancen höherer biologischer Arten unter Bedingungen von Konkurrenz probabilistisch erhöhen und damit evolutionäre Fitness höherer Arten verbessert. Evolutionäre Strategien von Leben erzeugen Potentiale, aber sie enthalten keine Beweise absoluter Wahrheit.
 
 
Erzählung, Narrativ, Fiktionalität
 
Im Prozess kultureller Evolution haben sich unterschiedliche Kategorien von Erzählungen ausdifferenziert: Mythen, Religionen, Novellen, Nachrichten etc. sowie Wissenschaften. Kategoriale Arten von Erzählungen sind für die Gattung Homo sapiens derart bedeutend, dass sie jeweils spezifische institutionalisierte Rahmen- und Regelwerke ausprägen konnten, die der Entwicklung, Tradierung und Anpassung an veränderte Lebensbedingungen und der Ausdifferenzierung von Unterarten in thematischer Breite und zeitlicher Tiefe dienen. 
 
Kommunikativ berichtende Interaktionen zwischen Sendern und Empfängern über Gewebe zusammenhängender Sachverhalte werden als Erzählungen im Sinne von Story aufgefasst (Wikipedia: Erzählung). Erzählungen enthalten zwischen Wahrheit und Erfindung zu verortende fiktional konnotierte Anmutungen. Der Wahrheitsgehalt von Erzählungen ist unsicher.  
 
Erfundene Storys von Märchen und Romanen 'spielen' mit Fiktionalität, ohne als 'Lügen' aufgefasst zu werden, wenn sie Erzählungen konstruieren, die potentielle Wahrheitsgehalte beanspruchen und sich so oder so ähnlich in der Realität begeben haben könnten. Bei anderen Arten von Erzählungen ist Fiktionalität weniger offensichtlich und besteht eher in einer Art von Zweifel über den Wahrheitsgehalt von Erzählungen. Stärken von Zweifeln beeinflussen die Glaubwürdigkeit des Berichtenden, die Plausibilität berichteter Zusammenhänge und Annahmen über die Wahrscheinlichkeit des Auftretens berichteter Sachverhalte.   
 
Mental erzeugte kausale Sinnkonstrukte der Gattung Homo sapiens basieren auf Erzählungen. In Abgrenzung von berichtender Erzählung wird der Begriff des Narrativs als eine auf sinnstiftende Muster abzielende Erzählung aufgefasst. Soziologie verengt die Definition des Narrativs auf sinnstiftende Erzählungen, die Werte und Emotionen mitteilen, Einfluss auf Wahrnehmungsdeutungen der Realität nehmen und mit Legitimität ausgestattet sind (Wikipedia: Narrativ Sozialwissenschaften). Narrative beabsichtigen Orientierung, indem sie Deutungsangebote vermitteln oder Deutungsmacht beanspruchen. Narrative erlangen Bedeutung nicht aufgrund von Wahrheitsgehalten, sondern durch Stärken geteilter Überzeugungen. Mythen und Religionen gelten als typische Narrative.
 
 
Denken 2.0
 
Fähigkeiten des analytischen und schlussfolgernden Denkens auf Basis mentaler Mechanismen der Kategorisierung und der Kausalattribuierung entwickelt Homo sapiens im Prozess kultureller Evolution zu Fähigkeiten der Theoriebildung im Sinne eines Denkens zweiter Ordnung, das Grundlagen seiner Darlegungen berücksichtigt, widersprüchliche Erfahrungen auf einer höheren Abstraktionsebene kritisch reflektiert und sich der Kritik von Außen stellt. Aus Fähigkeiten des Denkens 2.0 resultiert die Etablierung von rationalem Denken als sich ausdifferenzierende Wissenschaften.

Wissenschaftliches Denken 2.0 bildet Theorien im Sinne von Aussagen über kausale Zusammenhänge zwischen empirischen Phänomen, prüft Gültigkeit von Theorien gegen empirische Sachverhalte und kontrolliert bewusst Methoden der Theoriebildung sowie Methoden der Überprüfung von Resultaten. Ausdifferenzierungen von Wissenschaften zwischen Naturwissenschaften einerseits und Kultur- oder Geisteswissenschaften andererseits sowie deren Aufgliederungen in fachspezifische Wissenschaftssysteme sind nicht naturgegeben, sondern der Komplexität von Realität geschuldet. 
 
Eine Sonderstellung nimmt Mathematik ein, die als Meta-Konstrukt formaler Logik erst Aussagen über wissenschaftliche Erkenntnisse ermöglicht und Wahrheit im Sinn formaler Logik zu definieren vermag. Als Sprache eines formalen Meta-Konstrukts produziert Mathematik keine inhaltlichen Aussagen über empirische Phänomene.
 
Beispiele für Ausdifferenzierung von Wissenschaften sind etwa Philosophie, Soziologie, Ethnologie, Psychologie, Theologie, Ökonomie, Geschichte etc., die weitere Unterarten bilden, z. B. in der Breite als Wissenschaftsgeschichte, Politikgeschichte, Literaturgeschichte, Kunstgeschichte usw. sowie in der Tiefe z. B. mit Vorgeschichte, Frühgeschichte, Mittelalter, Neuzeit usw.. Mit anwachsendem Wissensvorrat differenzieren sich weitere Unterarten aus. Wissenschaftssystemen unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich der Gegenstandsbereiche ihrer Erklärungen, sondern bilden sich vom Alltagsdenken (Denken 1.0) jeweils absetzende spezifische Modelle, Methoden, Taxonomien, Fachsprachen, Begriffe heraus. 
 
Ausdifferenzierungen wissenschaftlicher Gegenstandsbereiche bewirken Professionalisierung von Expertenwissen und dienen der Legitimierung exklusiver Erklärungsansprüche von Experten. In wissenschaftlichen Kernen diskutieren die jeweiligen Spezialisten und konkurrieren um Deutungen, bis sie von nachfolgenden Spezialisten-Generationen verdrängt werden und selbst Geschichte sind. Inhalte ihrer Diskussionen sind bereits zwischen wissenschaftlichen Disziplinen schwer vermittelbar und erzeugen interdisziplinäre Verständigungsprobleme. Dem Alltagsdenken (Denken 1.0) bleiben auf Denken 2.0 beruhende Wissenschaften weitgehend unverständlich, weshalb Wissenschaftler häufig als lebenspraxisferne Fachidioten gelten.
 
Der Prozess der Ausdifferenzierung von Wissenschaften vernebelt Sachverhalte von Erzählungen über Deutungen der Welt. Allerdings haben sich Einsichten durchgesetzt:
  • Wissenschaft beruht nicht auf dem Wahrheitsgehalt von Erkenntnissen und deckt keine Wahrheiten im Sinne absoluter Erkenntnisse auf, sondern ist als Forschungswerkstatt zu verstehen ist, die Erkenntnisse über neuartiges Wissen produziert. Forschungen und Forschungsergebnisse beanspruchen Wissenschaftlichkeit, wenn sie von der Forschergemeinde festgelegte methodische Kriterien erfüllen und der Wert von Erkenntnissen auf Prüfständen der Vergleichbarkeit vermessen ist. Erkenntnisse sind relativer Art und können Irrtümer beinhalten.
  • Wissenschaftliche Erzählungen enthalten narrative Strukturen und poetische Elemente. Der US-amerikanische Historiker Hayden White demontiert Historiker-Ansprüche auf objektive Geschichtsschreibung als sinnstiftende Poesie, die zu Unrecht Übereinstimmung mit der Vergangenheit beansprucht.
  • Wesentliche Unterschiede zwischen Narrativen und Wissenschaften resultieren nicht aus Inhalten sondern aus methodischen Vorgehensweisen.

Perspektiven von Geschichte
 
Geschichte mit Anspruch auf Wissenschaftlichkeit berichtet gewöhnlich aus Perspektiven von Eliten oder aus Perspektiven von Strukturen und Dynamiken größerer kollektiver Verbände. Methodisch basiert wissenschaftliche Historie auf Quellenanalysen und konstruiert hermeneutisch aus Material ihrer Quellen Architekturen von Deutungen, die Ausschnitte eines in der Vergangenheit liegenden dynamischen Geschehens der Realität mit Zweckorientierung, Sinnhaftigkeit und Zwangsläufigkeit ausstattet. Diese Methodik ist nicht unehrenhaft, aber sie ist unvollständig und tendiert zur Unredlichkeit, wenn sie von zahlreichen Parametern beeinflusste vielfach verzerrte Perspektiven erzeugt, die als vermeintliche historische Realität ausgegeben werden, obwohl es sich um erzählerische Konstrukte handelt.

Texte eigener persönlicher Erinnerungen berichten als Geschichte von unten aus gewöhnlich selten sichtbaren Maschinenräumen historischer Entwicklungen und Ereignisse und sind sich der subjektiv eingeschränkten Gültigkeit ihrer Aussagen bewusst. Inhaltliche Sachverhalte persönlicher Berichte beruhen überwiegend nicht auf empirischen Fakten, sondern auf subjektiv geprägten individuellen Konstrukten, die sich aus mehr oder weniger rudimentären persönlichen Erinnerungen zu Ereignissen in Umgebungen komplexer Realität zusammensetzen. Die Fülle externer Deutungsmuster verhindert jeden Anspruch auf vollständiger Rezeption, aber sie ermöglicht Abgleiche mit externen Deutungsmustern unterschiedlicher Art und Inhalte. Die subjektive Auswahl vermeintlich relevanter externer Deutungsmuster steht unter Einflüssen weitgehend unbewusster, kulturell geprägter individueller Präferenzen. Eigene Aussagen sind unvermeidbar subjektiv und beanspruchen keine Objektivität, aber sie sind nach bestem Wissen und Gewissen und Geboten von Fairness abgefasst. Zu Lebzeiten bilden Inhalte eigener persönlicher Texte keine in Stein gemeißelten Monumente. Erinnerungen und Erkenntnisse ändern sich mit Lebenserfahrungen.


Empirie, Epik, Wahrnehmung, Realität
 
Wahrheitsgehalte empirischer Fakten sind gewöhnlich prüfbar. Fehler können erkannt, analysiert und korrigiert werden. Im Unterschied zu empirischen Fakten sind Wahrnehmungen, Erinnerungen und ihre Deutung von vielen Bedingungen abhängig, die hier nicht vollständig aufgeführt werden können. Biologisch funktionieren Wahrnehmungs- und Denkprozesse von Menschen weitgehend identisch, abgesehen von Erkrankungen. Genetische Unterschiede üben zwar Einflüsse aus (z.B. hinsichtlich Sehschärfe, Hörvermögen, Farbwahrnehmung etc.), aber diese Einflüsse sind nicht fundamental bedeutend. Alltagswissen (Denken 1.0) neigt dazu, inividuelle Wahrnehmung als Realität aufzufassen. Wissenschaftlich gilt dagegen als sicher, dass menschliche Wahrnehmungen und Prozesse ihrer Deutung
  • von biologischen Mechanismen eingeschränkt und verzerrt werden,
  • von jeweiligen kulturellen Umgebungen, individueller Sozialisation und vorausgegangenen individuellen Erfahrungen subjektiver und kollektiver Art beeinflusst sind,
  • und dass Erinnerungen zu ehemaligen Wahrnehmungen und Wahrnehmungsdeutungen äußerst fehleranfällig und mehr oder weniger lückenhaft sind, weshalb Erinnerungen unzuverlässig und Risiken von Irrtümern hoch sind.
Aufgrund dieser Erkenntnisse ist zu akzeptieren, dass individuelle Wahrnehmung keine objektive Realität erfasst, sondern die Welt subjektiv deutet. In Texten dargestellte Sachverhalte beschreiben individuelle Sichten der Welt, die keinen Anspruch auf objektive Wahrheit erheben können, sondern lediglich Annäherungen darstellen, die mit mehr oder weniger großer Wahrscheinlichkeit zutreffen können, sich aber auch als Irrtümer herausstellen können. Gemäß allgemeiner Überzeugungen entstehen unter ähnlichen Bedingungen ähnliche Wahrnehmungen. Allerdings ist die Frage, welche Parameter Ähnlichkeit in welcher Stärke beeinflussen, selten vollständig und exakt zu beantworten. In Laborstudien können unter isolierbaren Bedingungen Fragestellungen kontrolliert, untersucht, bewertet werden. Die Realität des Lebens ist kein Labor. Über Ähnlichkeiten können nur Vermutungen geäußert werden. Daher ist es keineswegs ungewöhnlich oder überraschend wenn Menschen unterschiedliche, abweichende oder keine Erinnerungen zu beschriebenen Sachverhalten haben. Im Gegenteil ist das erwartbar.


Kollektive Wahrnehmungsmuster
 
Neben individueller Wahrnehmung bestehen in sozialen Kontexten überwiegend unbewusste kollektive Wahrnehmungsmuster, durch die Kommunikation und Kooperation möglich werden, die Zugehörigkeit zu Kollektiven ermöglichen sowie Abgrenzungen zwischen inside und outside, Gut und Böse, Rechte und Pflichten, Freund und Feind etc. definieren. In sozialen Kontexte geteilte Weltsichten bewirken Gleichschaltungen von Wahrnehmungen, Werten, Deutungen und erzeugen bei beteiligten Menschen aufgrund biologischer Mechanismen Illusionen, die Wahrnehmung von Welt als objektiv und richtig deutet.
 
Kollektive Wahrnehmungsmuster können tolerant, empathisch, gutmütig geprägt sein. Oftmals sind sie jedoch dogmatisch geprägt und agieren nach innen und außen aggressiv auf fehlendes Commitment. Dogmatische Weltanschauungen teilen die Menschheit in 2 Lager, das Lager der von Wahrheit erleuchteten und das Lager der Irrenden. Wahrheitsanspruch von Dogmen verlangt Akzeptanz von Werten und Einhaltung von Denknormen. Zu diesem Zwecke üben Dogmen offene und/oder verborgene politische und/oder soziale Kontrolle aus. Aus Kontrolle folgt nicht zwangsläufig Missbrauch kontrollierender Macht, aber Risiken sind groß. Berühmte Beispiele für Machtmissbrauch zeigen Nationalsozialismus, politische Diktaturen, Populismus, Religionskriege der Vergangenheit und Gegenwart. Konventionen der Menschenrechte bilden selbstverständlich ebenfalls ein politisches Programm, wenn sie Meinungsfreiheit und freie Entfaltung von Persönlichkeitsrechten fordern, aber es handelt sich um ein Risiken von Dogmatismus begegnendes Gegenprogramm.


Appell
 
Über subjektiv unterschiedliche Erinnerungen und Sichten kann man kommunizieren. Man kann sie auch abgleichen und gelangt dabei möglicherweise zu neuen persönlichen Erkenntnissen. Aber wir sollten vermeiden, sie gegeneinander mit Anspruch auf Wahrheit auszuspielen. Das wäre mit Konventionen von Menschenrechten und wissenschaftlicher Erkenntnis nicht vereinbar.

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