Åsgårdsreien (Die Wlde Jagd), Peter Nicolai Arbo |
The Wild Hunt of Odin, Peter Nicolai Arbo |
Spinne am Morgen bringt Kummer und Sorgen.
Spinne am Mittag bringt Glück am dritten Tag.
Spinne am Nachmittag bringt Glück am andern Tag.
Spinne am Abend erquickend und labend.
Spinne am Mittag bringt Glück am dritten Tag.
Spinne am Nachmittag bringt Glück am andern Tag.
Spinne am Abend erquickend und labend.
Die eigentlich auf handwerkliches Spinnen bezogenen Aussagen (Wikipedia: Spinne am Morgen) deutete die Familie in Richtung Insekten um. Unabhängig von Handwerk oder Insekten sehen abergläubische Menschen Spinnen je nach Tageszeit als Glücks- oder Unglücksbringer. Zusammenhänge zwischen Spinnen und Glück oder Unglück kann oder muss niemand erklären, weil sich Esoterik und Aberglaube rationalen Erklärungen entziehen. Esoterik und Aberglaube sind in der eigenen Familie vor allem der weiblichen Mutterlinie nicht fremd, aber sie sind keine Erfindungen der eigenen Familie, sondern Adaptionen traditionellen magischen Denkens des Volksglaubens, das über die Feiertage des Jahreswechsels besondere Blüten treibt.
Aberglaube und übersinnliche Wahrnehmung in der Familie
In der Familie bedeuteten piepende Geräusche im rechten Ohr, dass jemand gerade Gutes über Betroffene spricht. Geräusche im linken Ohr warnten dagegen vor übler Nachrede. Ähnlich wurden den Weg kreuzende schwarze Katzen gedeutet. Wenn sie von der linken zur rechten Seite kreuzten, kündigten sie Glück an und in umgekehrter Richtung Unglück. Andere Phänomene verwiesen vermeintlich auf zu erwartenden Geldsegen oder auf demnächst eintreffenden überraschenden Besuch. Anlässlich der Bestattung eines 1957 bei einem Verkehrsunfall verstorbenen Onkels berichtete Großtante Auguste, Schwester der Großmutter, im nächtlichen Traum seien ihr beide Schneidezähne ausgefallen, daher habe sie bereits gewusst, dass ein naher Angehöriger verstorben sei. Ich war zutiefst beeindruckt. Erklären konnte Tante Auguste nicht, wie und durch wen diese Nachricht im Traum zu ihr gelangt ist. Erklärungsdefizite wurden in der Familie locker gehandhabt.
Familiäre Religiosität war von Pietismus geprägt. Prophetie (Weissagung und Wahrsagung) war aus der Bibel (Buch der Wahrheit und der Weisheit) vertraut. Wissenschaftsskepsis und Annahmen über Fähigkeiten außersinnlicher Wahrnehmung konnten sich auf die Bibel stützen. Unter Pietisten war die Annahme verbreitet, dass Menschen je nach Begabung über mehr oder weniger stark entwickelte parapsychologische Fähigkeiten außersinnlicher Wahrnehmung verfügen, wie etwa Fernübertragung von Gedanken (Telepathie) oder Fernwahrnehmung (Hellsehen und Präkognition) von Ereignissen. Bei biblischen Propheten waren diese Fähigkeiten besonders stark ausgeprägt. Da gegenüber Wissenschaften bzw. wissenschaftlichen Theorien ohnehin Skepsis bis hin zu Feindschaft bestand und je nach Thema Wissenschaften als unreligiöse elaborierte sprachliche Codes oder als Irrlehren (Evolution!) galten, waren wissenschaftliche Einwände unbedeutend. Praktisches Erfahrungswissen fand In der Familie selbstverständlich
Anerkennung, jedoch ohne prinzipielle Unterscheidung zwischen
wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Aussagen.
Raunächte sind ein spezielles Phänomen traditioneller europäischer Kultur
Generell haben Menschen Brauchtum der
Geistervertreibung hervorgebracht, um sich gegen nicht erklärbare empirische Phänomen zu schützen und zu wehren. Dieser Post fokussiert auf das Phänomen der Raunächte
(Rauhnächte) im Zeitraum um den Jahreswechsel, dem in ganz Europa traditionelle
Bedeutung besonderer Art beigemessen wird. Bezeichnungen, Zeitraum,
Brauchtum der Raunächte variieren, aber sie enthalten einen gemeinsamen Kern, um den es hier geht. Die Bezeichnung Raunächte ist in Deutschland am weitesten verbreitet. Regionale Synonyme werden Glöckelnächte, zwölf Nächte, Innernächte, Unternächte
genannt und variieren teilweise traditionelles Brauchtum. Alle Namen
beziehen sich auf einen Zeitraum, der meistens vom 25. Dezember bis zum
6. Januar reicht. Regional kann der Zeitraum aber auch mit der
Wintersonnenwende einsetzen und daher mehr als die üblichen 12 Tage
umfassen. Vier dieser Nächte gelten als besonders wichtig und für Menschen gefährlich. (National Geographic: Raunächte: 5 erstaunliche Rituale und ihre Geschichte)
Kulturwissenschaftlich wird die herausgehobene Bedeutung dieses Zeitraums mit unterschiedlichen Längen von Lunarkalender (Mondkalender) und Solarkalender
(Sonnenkalender) erklärt. Germanische Völker orientierten sich am
Lunarkalender (wie China bis zur Gegenwart). Römer führten aus
praktischen Gründen unter Julius Caesar den Solarkalender in einer
Version ein, die als Julianischer Kalender mit Veränderungen bis zum Hochmittelalter gültig war. Papst Gregor XIII. verordnete 1582 mit einer Kalenderreform den noch immer gültigen und global am weitesten verbreiteten Gregorgianischen Kalender. Zwischen Lunarkalender und Solarkalender liegt eine Zeitdifferenz von ca. 12 Tagen, der Zeitraum Zwischen den Jahren.
In Mythologien wird angenommen, dass Naturgesetze in diesem Zeitraum
suspendiert und Grenzen empirisch nicht wahrnehmbarer magischer Welten
vorübergehend aufgehoben sind. Nächte dieses Zeitraums eignen sich für
Geisteraustreibungen, Geisterbeschwörungen und Wahrsagen, z.B. in Form
von Bleigießen oder Zinngießen.
Für außersinnliche Wahrnehmungen affine Menschen galten und gelten noch
immer die Tage über den Jahreswechsel als besonders problemlastig. Um
kein Unglück zu provozieren, durften der Weihnachtbaum erst am 24.12.
aufgestellt werden und Weihnachtslieder erst ab Heiligabend gesungen
werden. In der Vorweihnachtszeit waren Adventslieder angesagt (z.B.: Der
Morgenstern ist aufgedrungen, Nun komm, der Heiden Heiland, Wachet auf,
ruft uns die Stimme, Es kommt, ein Schiff geladen, Macht hoch die Tür,
Wie soll ich dich empfangen usw.). Andere Regeln rankten sich um
Essvorschriften. Zwischen Weihnachten und Silvester gebot eine weitere
Regel, keine Wäsche zu waschen. Wenn wir als Kinder naiv nach Gründen
fragten, wussten Erwachsene lediglich, dass sich bei Regelverletzungen
Unglücke ereignen würden und darum diese Regeln zu befolgen seien.
Schützen können sich Menschen durch Fasten und Beten sowie
in Wohnräumen angebrachte Kreuze und Mistelzweige, Gefäße mit Weihwasser, Verbrennen von Weihrauch. Gemäß Volksglauben
zieht Unordnung ordnungsscheue Geister an. Hilfreich wirken Ordnung im Haus, Vermeiden von Haare und Fingernägel schneiden sowie kein Wäsche zu waschen. Frauenunterwäsche auf
Wäscheleinen lockt böse Geister an und provoziert Übergriffigkeit.
Geister können sich auch in Wäscheleinen verfangen, sodass man sie kaum
wieder los wird. Volksglaube nimmt an, dass Geister auf der Leine
hängende weiße Tücher stehlen, um sie als Leichentücher für Bewohner des
Hauses zu nutzen. Waschen von Wäsche ist aus diesen Gründen zwischen den Tagen
tabuisiert. Besondere Bedeutung wird Träumen in den Raunächten sowie pro Tag geäußerten Wünschen beigemessen. Mit Segen von Sternensingern am Dreikönigstag ist der Spuk
beendet und das Haus für den Rest des Jahres wieder geschützt.
Aberglaube und Esoterik sind universelle Kulturphänomene
Während Wissenschaftsskepsis und Wissenschaftsfeindlichkeit insbesondere in religiös fundamentalistischen Bewegungen verbreitet sind, zu denen Pietismus zählt, bilden Aberglaube,
Glaube an übersinnliche Wahrnehmung, Raunächte etc. keine
skurrilen Phänomene bildungsferner Menschen, sondern es handelt sich um im Volksglauben tief verwurzelte und in allen sozialen Schichten verbreitete Überzeugungen des Kollektivbewusstseins. Symbole, Mythen und Gegenstände variieren interkulturell Ausprägungen und Bezüge, aber als kulturelle Phänomene haben Aberglaube und Esoterik ubiquitären Charakter. Im Volksglaubens verbreitetes magisches Denken ist kulturhistorisch in
vorchristlicher archaisch-mythologischer Zeit entstanden und lebt mit Umdeutungen
in Elementen christlicher Symbolik, Ikonografie, Mythologie weiter. Magisches Denken hat über Zeit und Raum im Volksglauben eine unüberschaubare Menge mythischer Symbole und Erzählungen mit einer großen Vielfalt regionaler Ausprägungen
hervorgebracht, die Gegenstände ethnologische Forschung bilden, aber kein Post angemessen beschreiben könnte.
Vermutlich bewirkten in Europa an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wissenschaftliche Entdeckungen von Röntgenstrahlung und
radioaktiver Strahlung sowie über den sinnlichen Wahrnehmungsbereich
hinausreichende Erkenntnisse in mikro- und makroskopischen Bereichen neue Ansichten und wissenschaftliche Theorien, die in Potentialen von Energie wesentliche Treiber von Evolution und Kultur sahen. Diese Entwicklungen wirkten auf Volksglauben ein, der schon immer von einer außerhalb menschlicher Sinneswahrnehmung existierenden Welt überzeugt war. Okkultistische Umdeutungen verknüpften Entdeckungen physikalischer Phänome mit traditionellen Denkweisen und bewirkten die Zunahme von Überzeugungen außersinnlicher Wahrnehmung sowie die Entstehung sich nachhaltig ausbreitender anthroposophischer
Lehren unter Einfluss der Okkultistin Helena Petrovna Blavatsky.
Annahmen der Sozialpsychologie erklären Universalität
von Aberglauben mit evolutionär hervorgebrachten, weil für das Überleben der Art nützlichen biologisch-instinktiven menschlichen Grundbedürfnissen der Welterklärung
durch kausale Sinnkonstrukte. Dass aktuell in etlichen Segmenten
empirischer Realität esoterische Ansichten an Bedeutung zunehmen, bewirken vermutlich Säkularisierungsprozesse, durch die
religiöse Überzeugungen abnehmen und Leerräume sinnhafter Erklärungen entstehen. Alternative
esoterische Erklärungen, wie etwa sich auf anthroposophische Lehren stützende biodynamische Überzeugungen füllen diese Leerräume. Diese Entwicklungen öffnen zugleich ein
weites Feld für Optionen manipulativen Missbrauchs von Meinungen und Überzeugungen mit Hilfe von Medien durch Ökonomie (Werbung), durch Politik (mittels Intransparenz und
Programmatik rechtsradikaler und populistischer Bewegungen) und nicht
zuletzt im öffentlichen Diskurs über unverstandene
Phänomene empirischer Realität (z.B. Verschwörungstheorien).
Anmerkungen zum Zeitpunkt und zu Zeitpunktverschiebungen des Jahreswechsels
Der Zeitpunkt des Jahreswechsel beruht auf willkürlichen ethnozentrischen Festlegungen und korrespondiert auf der nördlichen Halbkugel der Erde nicht überall mit der Wintersonnenwende oder dem Frühjahrsbeginn. Im alten Ägypten war der Jahreswechsel am 29. August, in Byzanz am 1. September. 153 v. Chr. verlegten Römer den Jahresbeginn vom 1. März auf den 1. Januar und führten mit der Verlegung das Brauchtum von Jahresendfesten ein (Wikipedia: Silvester). Feuerriten zur Wintersonnenwende und zum Frühjahrsbeginn gehen auf germanisches Brauchtum zurück.
Im christlichen Julianischer Kalender endete das Jahr am 25. Dezember. Mit der von Papst Gregor XIII. 1582 verordneten Kalenderreform des Gregorgianischen Kalenders wurde der Jahresbeginn auf den 1. Januar verlegt und der 31. Dezember gemäß katholischem Heiligenkalender nach Papst Silvester I. benannt. Die meisten europäischen Länder führten die Kalenderreform erst nach und nach in Folgejahren ein, zuletzt die Schweiz, wo sich 1812 die letzten reformierten Gemeinden der Reform anschlossen. Als Widerstand gegen die katholische Kalenderreform wurde im Appenzeller Hinterland der 13. Januar als Jahresende festgelegt und wird auch noch in der Gegenwart folkloristisch als Alter Silvester gefeiert.
Während die Griechisch-orthodoxe Kirche den Gregorianischen Kalender übernommen hat, halten die Russisch-orthodoxe Kirche und die Serbisch-orthodoxe Kirche am Julianischen Kalender fest und feiern daher Weihnachten am 6./7. Januar nach einer 40-tägigen Fastenzeit sowie Neujahr am 14. Januar.
Der jüdische Kalender ist ein im Jahr 3761 v. Chr. beginnender Lunisolarkalender. Der Jahresbeginn Rosch ha-Schana feiert den Jahrestag der Weltschöpfung und gleichzeitig den Tag der Erschöpfung Adams. Der Zeitpunkt des Jahrestags wechselt mit komplizierten Berechnungen (Wikipedia: Zeitpunkt und Einbettung in den jüdischen Kalender)
Der chinesische Kulturkreis nutzt ebenfalls einen Lunisolarkalender. Das chinesiche Neujahrsfest findet zwischen dem 21. Januar und dem 21. Februar am zweiten (selten auch am dritten) Neumond nach der Wintersonnenwende statt. Das japanische Neujahrsfest folgt seit 1873 dem Gregorianischen Kalender.
Der Beginn der islamischen Zeitrechnung liegt auf dem 16. Juli 622, der Tag, an dem der Prophet Mohammed mit seinen Anhängern von Mekka nach Medina wanderte (Wikipedia: Islamische Zeitrechnung). Da der islamische Kalender ein Mondkalender ist und sich der Anfang eines Monats nach dem Neumond richtet und das islamische Jahr (Hirji-Jahr) 12 Mondphasen umfasst, ist das islamische Jahr 11 Tage kürzer als das Jahr des Gregorianischen Sonnenkalenders und wandert durch das Sonnenjahr.
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