Links: Duisburg um 1844 - Mitte: Einzimmerwohnung Anfang 20. Jh. - Rechts: Industriekulisse
Mit dem Altwerden ist es wie mit Auf-einen-Berg-Steigen: Je höher man steigt, desto mehr schwinden die Kräfte, aber umso weiter sieht man“. (Ingmar Bergman)
Eine Gruppe von im Ruhrgebiet (auch als Ruhrpott oder Pott bezeichnet) der 1950er/1960er Jahre sozialisierten und in den 1970er Jahren nach Köln migrierten Freunden hat anlässlich des 75. Geburtstages eines Mitglieds in der Region ihrer Kindheit und Jugendzeit eine heimatkundliche Exkursion unternommen. Dieser Post setzt sich mit komplexen, für das Ruhrgebiet typischen sozioökonomischen Zusammenhängen auseinander. Soziale und wirtschaftlichen Dynamiken des Ruhrgebiets motivieren zu weiteren Posts:
- Stationen der Exkursions beschreibt der Post Stationen heimatkundlicher Exkursion im Duisburger Norden.
- Entstehung und Bedeutung des Ruhrdeutschen betrachtet der Post Im Ruhrgebiet gesprochenes Ruhrdeutsch.
Migrationswellen im Ruhrgebiet
Dieser Post fokussiert auf nördliche Stadtteile Duisburgs, die als exemplarisch für Städte des Ruhrgebiets gelten können. Ähnliche oder unterschiedliche Migrationsdynamiken in anderen Regionen Deutschlands betrachtet dieser Post nicht.
Bis vor 200 Jahren war Duisburg eine Kleinstadt mit ca. 4.000 Einwohnern. Die Niederrhein-Region zwischen den Flüssen Ruhr und Lippe war vor der Industrialisierung eine von wenigen Klöstern und Burgen kontrollierte dünn besiedelte Landschaft, in der verstreut liegende Höfe Landwirtschaft betrieben und nur wenige größere Ortschaften bestanden. Dass nördlich der Ruhr große Steinkohlelager bestehen, war schon länger bekannt, aber erst die Erfindung der Dampfmaschine ermöglichte deren Erschließung und die Industrialisierung des Ruhrgebiets. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts setzte nördlich der Ruhr die fast explosionsartig wachsende Industrialisierung des Ruhrgebiets ein, die Arbeitskräfte benötigte und Migrationswellen auslöste. (Wikipedia: Geschichte des Ruhrgebiets, Geschichte der Stadt Duisburg)
Aussagen, dass es Migrationen immer gab und immer über mehrere Generationen bewältigt wurden, sind ähnlich wie die Aussage „Kinder wurden immer gezeugt“ oberflächlich korrekt, aber trivial und übersehen oder ignorieren sich deutlich unterscheidende Randbedingungen und deren Auswirkungen. Seit ca. 1850 sind vier Migrantenwellen identifizierbar, von denen nur die letzten drei segregierender Prozesse in der ansässigen Bevölkerung verursachten. Unabhängig davon unterscheiden sich die vier Migrantenwellen hinsichtlich ihrer Auslöser, Randbedingungen und Auswirkungen deutlich. Migrationen sind Migrationen, aber jede dieser Migrationen war anders, verlief anders und stellte jeweils eigene Herausforderungen, die jeweils eigene und nicht beliebig austauschbare Lösungsstrategien erforderten. Dieser Post befasst sich mit Unterschieden der Migrationen, ihren Auswirkungen und ihren Anforderungen an politisches Management.
Erste Migrationswelle: Dauerhafte Arbeitsmigration ab Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg
Mit einsetzender Industrialisierung des Ruhrgebiets wurden Arbeitskräfte aus allen Teilen Deutschlands und vielen Ländern Europas angeworben und zur dauerhaften Ansiedlung eingeladen. Im Ruhrgebiet eintreffende kulturelle Vielfalt teilte zunächst außer ihrer Religionszugehörigkeit nur wenig Gemeinsamkeiten, nicht einmal ihre Sprache. Anlaufprobleme waren unvermeidbar, aber beherrschbar. Sprachliche Verständigung ermöglichte ein um regionale bzw. kulturelle Besonderheiten angereichertes Standarddeutsch, das sich als Ruhrdeutsch ausprägte.
Nur in der ersten Welle zugezogene Migranten waren ausdrücklich eingeladen und willkommen. Um sie zum Bleiben zu motivieren, wurden neue Wohnviertel für den Bedarf von Migranten errichtet und erforderliche Infrastrukturen für Versorgung und Bildung eingerichtet. Infrastruktur und Arbeitsplatzsicherheit machten dauerhaftes Bleiben für Migranten attraktiv. Mit separaten Wohnsiedlungen entstanden im Ruhrgebiet als Kolonien bezeichnete Migranten-Ghettos, die körperlich arbeitende Bewohner von bürgerlichen Bewohnern segregierte, aber auch Migranten die Integration in der neuen Umgebung erleichterte. Erst die sich ausbreitende Industrie verdrängt schon länger sesshafte Bevölkerung von ihren traditionellen Wohnsitzen.
In der ersten Welle zugezogene Migranten sind bereits ab der zweiten Generationen als Bevölkerung des Ruhrgebiets integriert. Als Folge der Industrialisierung und der ersten großen Migrantenwelle entstanden das Ruhrgebiet als Metropolregion und Ruhrdeutsch als gemeinsame Sprache. Die Entwicklung des Ruhrdeutschen betrachtet der Post Im Ruhrgebiet gesprochenes Ruhrdeutsch. Vorfahren des Autors dieses Posts waren Migranten der ersten Welle.
Zweite Migrationswelle: Flüchtlinge, Vertriebene, Umsiedler ab 1945 bis ca. 1950
Als Folge nationalsozialistischer Gewaltverbrechen und von Deutschen ausgeübten Kriegsverbrechen waren zum Ende und nach dem Zweiten Weltkrieg 12 bis 14 Millionen Menschen von Flucht und Vertreibung betroffen (Wikipedia: Deutsche Flucht und Vertreibung Deutscher aus Mittel- und Osteuropa 1945–1950). Zusätzlich siedelten aus ehemaligen deutschen Enklaven Hunderttausende mehr oder weniger freiwillig um. Migranten verteilten sich zu 1/3 auf den von der Sowjetunion kontrollierten Teil Deutschlands (später DDR) sowie 2/3 auf den von westlichen Alliierten kontrollierten Teil (spätere Bundesrepublik). Flüchtlinge, Vertriebene, Umsiedler sind in Migrationsstatistiken nicht enthalten, sondern werden gesondert aufgeführt.
Deutsche Flüchtlingsmigranten wurden nicht mit offenen Armen empfangen. Sie waren weder eingeladen noch willkommen. Nach Kriegsende waren Wohnhäuser größerer Städte und große Teile von Industrien weitgehend zerstört. Migranten belasteten die ohnehin schwierige Wohn-, Ernährungs- und Einkünftesituation zusätzlich, aber sie waren deutsche Staatsangehörige und da keine Alternativen bestanden, teilten sie eine Schicksalsgemeinschaft und mussten aufgenommen werden. Überlebende des Kriegs rückten notgedrungen zusammen und arbeiteten daran, gemeinsam wieder auf die Füße kommen. Kulturelle Gemeinsamkeiten und Verwandtschaften erleichterten das Überstehen dieser Phase. Innerhalb weniger Jahre mutierten Displaced Persons zu Einheimischen. Die Generation der Geflüchteten träumte zwar teilweise noch von der Rückkehr in ihre Heimat, aber die Integration gelang im verbliebenen deutschen Kernland relativ nahtlos, weil Migranten als Arbeitskräfte für den Wiederaufbau benötigt wurden.
Da die Kriegsgeneration eine große Menge begangenen Unrechts zu vertuschen hatte, fügte sie sich in ihr Schicksal. Forderungen waren nicht opportun. Lediglich Familien, die größeren Grundbesitz verloren hatten, blieben ihrer verlassenen Heimat verbunden, aber dieser Kreis war überschaubar. Bereits die nachfolgende Generation fühlte sich in Westdeutschland zu Hause. Nachdem der Wiederaufbau Fahrt aufgenommen hatte, waren Flüchtlinge und Vertriebene integriert und individuelle Schicksale nur noch Stoff für Anekdoten. Eltern der Ehefrau des Autors dieses Posts waren Migranten der zweiten Welle.
Dritte Migrantenwelle: Temporäre Arbeitsmigration (‚Gastarbeiter‘) in den 1950er und 1960er Jahren
In der nach dem Zweiten Weltkrieg prosperierenden deutschen Industrie fehlten Arbeitskräfte. Um den Mangel zu beheben, wurden in den 1950er und 1960er Jahren bis zum Anwerbestopp im Jahr 1973 gezielt bilaterale Vereinbarungen mit Mittelmeerstaaten sowie mit Portugal und Südkorea getroffen, um Arbeitsmigranten als ‚Gastarbeiter‘ für begrenzte Zeiträume anzuwerben. Da eine dauerhafte Umsiedlung nicht vorgesehen war und Familien, soweit es sie gab, in Heimatländern zurückblieben, musste lediglich die Unterbringung in Wohnheimen organisiert werden. Darüber hinaus waren von deutscher Seite für den privaten und sozialen Bereich keine Infrastruktur- oder Integrationsmaßnahmen zu leisten. Der Begriff ‚Gastarbeiter‘ war ein Euphemismus. Für die deutsche Bevölkerung waren diese Arbeitsmigranten keine willkommenen und großzügig zu bewirtenden ‚Gäste‘, sondern temporäre Aushilfen, die zwar Menschen waren, aber wie Werkzeuge benutzt und als zweitklassig behandelt wurden. In NS-Zeit eingeübte Denkmuster befanden sich noch in den Köpfen und erwiesen sich als nützlich.
Im Zeitraum von 1950 bis 1973 kamen zeitlich versetzt insgesamt ca. 14 Millionen Arbeitsmigranten nach Deutschland, von denen 11 Millionen in ihre Heimatländer zurückkehrten (BPB: Gastarbeiter). Ca. 3 Millionen Arbeitsmigranten blieben jedoch dauerhaft in Deutschland. Sie holten ihre Familien nach oder gründeten Familien in Deutschland. Da dauerhafter Aufenthalt nicht vorgesehen war, setzten typische Probleme unerwarteter und nicht willkommener Migrantenströme ein: Fehlende Wohnungen, fehlende Schulkapazität, fehlende und/oder unzureichend vorbereitete Infrastrukturen für fremdsprachige Einwohner, Vorurteile und Unverständnis gegenüber kulturellen Unterschieden, Misstrauen, Ablehnung, fehlender Respekt, Segregationsprozesse. Für Probleme des Zusammenlebens wurden Migranten verantwortlich gemacht. Tatsächlich handelte es sich in sozialer Realität um Akzeptanzprobleme der deutschen Bevölkerung.
In industrienahen Ortsteilen des Duisburger Nordens ließen sich vor allem aus der Türkei stammende Migranten nieder und entwickelten für ihren Bedarf eigene Infrastrukturen. In Zeiten von Industriewachstum und Vollbeschäftigung aufblühender Wohlstand ermöglichte zuvor dort ansässiger Bevölkerung, an den Rand des Duisburger Nordens, nach Walsum oder an den ländlichen Niederrhein auszuweichen und dort die eigene Wohnsituation aufzuwerten. In der Gründungsphase des Ruhrgebiets entstandene Wohnhäuser waren inzwischen marode und genügten zeitgemäßen Ansprüchen nicht mehr. Daher wurde die Überlassung von Ortsteilen mit Altbeständen der Wohnbebauung an Migranten der dritten Welle nicht als Verlust empfunden. Trotzdem kritisierte die fortgezogene deutsche Bevölkerung in ehemaligen Wohngebieten entstehende Infrastrukturen als Migranten-Ghettos. Diese potentiell konfliktträchtige Situation ist eine Folge von politischem Missmanagement, das Ressourcen ohne Rücksicht und Weitsicht auf Konsequenzen vermeintlich im Interesse des Gemeinwohls, aber tatsächlich im Interesse der Wirtschaft und des eigenen Machterhalts beschafft hat.
In den 1950er Jahren war Duisburg aufgrund der Konzentration von Bergbau und Stahlindustrie die reichste Stadt Deutschlands. Arbeitslosigkeit war unbekannt. Großzügige öffentliche Infrastrukturen gestalten Leben in Duisburg trotz der Industrieumgebung angenehm. Mit dem in den 1970er Jahren einsetzenden industriellen Strukturwandel entwickelte sich Duisburg zu einer der ärmsten Städte Deutschlands. Lt. Daten des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung aus dem Jahr 2019 (WSI-Verteilungsmonitor: Einkommen im regionalen Vergleich) liegt Duisburg mit dem nominal pro Kopf und Jahr verfügbaren Einkommen unter 401 deutschen Kreisen mit 17.741 € auf dem vorletzten Rang vor der Stadt Gelsenkirchen mit 17.015 €, deren Schicksal ähnlich verlief. In wohlhabenden Kreisen reicht das durchschnittliche Einkommen bis 42.275 € (Heilbronn). Hinsichtlich der Armutsgefährdungsquote der 15 größten Städte Deutschlands im Jahr 2022 führt Duisburg deutlich mit 30,3 %. Am niedrigsten ist die Quote in München mit 10,5 %.
In den 1970er Jahren beginnender Strukturwandel erzeugte Arbeitslosigkeit oder Druck zur Annahme schlecht bezahlter Tätigkeiten insbesondere unter gering qualifizierten Arbeitskräften. Obwohl auch viele Migranten aufgrund von Sprach- oder Bildungsdefiziten von dieser Entwicklung betroffen waren, machten deutsche Arbeitslose sie für die eigene Arbeitslosigkeit verantwortlich und schürten Feindseligkeit, aus der sich eine undifferenzierte Ablehnung von Migranten als prinzipielle Haltung entwickelte. Diese mit vernünftigen Argumenten nicht zu rechtfertigende Stimmung greifen rechtsradikale und rechtspopulistische Bewegungen auf, um ihren rassistischen Ideologien zunehmende Geltung zu verschaffen. Die Arbeitsmarktlage hat sich zwar inzwischen entspannt, aber rassistische Ideologien trafen offenbar auf fruchtbaren Boden und nahmen an Bedeutung zu.
Vierte Migrationswelle ab ca. der Jahrtausendwende: Armuts- und politische Migration
Im Zeitraum vor dem Zweiten Weltkrieg resultierten Wachstum und Wohlstand wohlhabender Länder in signifikanten Größenordnungen aus Kolonialpolitik und der Ausbeutung strukturarmer Entwicklungsländer. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzten Prozesse der Dekolonialisierung, des globalen Handels und der Öffnung Europas mittels Abbau nationalstaatlicher Schwellen mit dem Ziel ein, globalen Wohlstand aller Menschen mittels Wachstum und offenem Handel auf Warenmärkten zu ermöglichen. Arbeitnehmerfreizügigkeit und Abbau von Handelsschwellen nutzen vor allem der Wirtschaft. Vereinfachter Warenverkehr erzeugte zusätzlichen Profit und beschleunigte das Wirtschaftswachstum. Politik lieferte und ignorierte potentielle Risiken von Prozessen der Globalisierung und des Wirtschaftswachstums, die prompt eingetreten sind.
Absichten waren zwar positiv, aber Umwälzungen von Waren- und Arbeitsmärkten bewirkten umfassenden Strukturwandel, der in zahlreichen Ländern destabilisierende Krisen verursachte. Erwartungen eines sich einpendelnden neuen Gleichgewichts auf höherem Niveau erwiesen sich als naiv und zerfielen ab den 1970er Jahren mit Erkenntnissen über Grenzen des sich selbst zerstörenden dominierenden Wachstumsmodells. Aussichten auf eine Bewältigung dieser Krise sind bisher nicht zu erkennen. Chancen der Bewältigung nehmen mit fortschreitender Zeit ab. Hauptverursacher der globalen Krise sind ausbeuterische wohlhabende Länder. Hauptopfer dieser Krise sind ohnehin schon arme und durch Ausbeutung weiter verarmte Länder.
Armutsmigration und politische Migration aus armen in reiche Länder nahmen zwangsläufig zu. Die Öffnung europäischer Länder durch Arbeitnehmerfreizügigkeit bei gleichzeitiger Zunahme von Mobilität begünstigt die Migration von Menschen aus besonders stark von Krisen betroffenen Ländern in vergleichsweise reichere Länder. Allerdings sind auch wohlhabende Länder von dieser Krise betroffen, jedoch gesamtwirtschaftlich in geringerem Maß und individuell gegensätzlich. Statistisch betrachtet gilt:
- Untere Einkommens- und Vermögensklassen sind umso stärker betroffen, je geringer Einkommen und Vermögen sind.
- Umgekehrt haben im gleichen Zeitraum Einkommen und Vermögen der oberen Klassen umso stärker zugenommen, je höher Einkommen und Vermögen sind.
Migrationsdynamik in Duisburg-Marxloh
Deutschland ist ein Hauptzielland von Armuts- und politischer Migration. Migranten aus dem Balkan, dem vorderen Orient und Afrika zieht es in Regionen, in denen Hoffnung auf Arbeit, damit auf Einkünfte und ein besseres Leben besteht. Insbesondere Industriereviere, landwirtschaftliche Produktionsbetriebe und Gästebetriebe ziehen Migranten an, letztere vor allem saisonal.
Im Stadtteil Marxloh des Duisburger Nordens siedeln sich vor allem aus Syrien, Rumänien, Bulgarien stammende Migranten an und verdrängen überwiegend aus der Türkei stammende Migranten der ersten Generation oder deren Nachfahren in Richtung Walsum. Die ‚Türkisierung‘ von Walsum verdrängt sich als Ureinwohner verstehende Alt-Walsumer weiter nach Norden in Richtung Dinslaken und Wesel oder an den linksrheinischen Niederrhein.
Nach dem Anwerbestopp von Arbeitsmigranten im Jahr 1973 sank die Einwohnerzahl im Duisburger Stadtteil Marxloh bis 2005 um 22 %. von 2009 bis 2019 wuchs die Bevölkerung durch Zuzug von Migranten um 20 %. Gleichzeitig sank die Anzahl deutscher Bewohner unter 50 %. 2019 haben 76 % der Einwohner von Marxloh einen Migrationshintergrund. Neuzuwanderer aus Rumänien und Bulgarien stellen 26 % der Bevölkerung. Der Anteil von Kindern aus diesen Ländern beträgt 40 %. (Zahlen lt. Soziale Stadt NRW im Jahr 2019: Duisburg Marxloh)
„Zunehmend überlagern sich in Marxloh eine demografische, eine ethnische und eine soziale Segregation: Der Stadtteil ist jung, der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund steigt und der Anteil von Menschen in hoch prekären Lebenslagen nimmt zu. Die Arbeitslosendichte in Marxloh beläuft sich auf 14%, die Langzeitarbeitslosigkeit auf 42% und die SGB-II-Quote auf 36% (2019). Ein besonderer Beleg ist das hohe Maß an Kinderarmut. Insgesamt sind die Lebenslagen von etwa 71 % aller Kinder in Marxloh von Armut geprägt. Mehr als die Hälfte aller Kinder leben in Haushalten mit SGB II-Bezug. Schätzungen gehen davon aus, dass 18-21 % der unter 15-Jährigen in extremer Armut leben, ohne Anspruch auf Transferleistungen des SGB II.“ (Soziale Stadt NRW: Duisburg Marxloh)
Auswirkungen der Verteilung von Armut und Reichtum in Deutschland auf Krisenbewältigung
Messungen der Verteilung von Armut und Reichtum sind keineswegs trivial und veröffentlichte Daten daher oft strittig. Schwierigkeiten der Messung betrachten Artikel eines Dossiers der Bundeszentrale für politische Bildung: Verteilung von Armut + Reichtum. Eine gebräuchliche Metrik für Messungen von Ungleichheit ist der GINI-Index. Das seriöse Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut der Hans-Böckler-Stiftung kommt in einer aktuellen Untersuchung zu folgenden Ergebnissen (Soziale Ungleichheit in Deutschland):
- Einkommensverteilung:
„Die Einkommen in Deutschland sind heute sehr ungleich verteilt, wenn man die Entwicklung seit Ende der 1990er Jahre betrachtet.“ (Anstieg des GINI-Index von 0,26 im Jahr 1999 auf 0,29) - Armutsverteilung:
„Einkommensarmut hat in den vergangenen Jahren laut unserem aktuellen WSI-Verteilungsbericht eindeutig zugenommen. Als arm gilt, wessen bedarfsgewichtetes Haushaltsnettoeinkommen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens in Deutschland beträgt. Sehr arm (Fachbegriff: „strenge Armut“) sind Personen, die nicht einmal 50 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung haben. […] Im Jahr 2022 lebten 16,7 Prozent der Menschen in Deutschland in Armut, 10,1 Prozent sogar in strenger Armut. 2010 lagen die beiden Quoten noch bei 14,5 bzw. 7,7 Prozent.“ - Vermögensverteilung:
"Bereits vor der Coronakrise waren in fast keinem anderen Land in Europa Vermögen so ungleich verteilt wie in Deutschland. In den meisten Statistiken wird das wahre Ausmaß noch unterschätzt."
"Das reichste Hundertstel der deutschen Haushalte verfügt nach den üblichen Statistiken über etwa zwei Billionen Euro. Tatsächlich könnten es dreieinhalb Mal so viel sein. Doch es gibt Schwierigkeiten bei der Erfassung des Reichtums."
"Die Vermögen superreicher Haushalte in Deutschland dürften weitaus größer sein als in Forschung, Medien und Öffentlichkeit angenommen. Allein die mehr als 200 Milliardenvermögen im Land könnten zusammengerechnet statt rund 900 Milliarden Euro mindestens 1400 Milliarden Euro umfassen, möglicherweise sogar noch deutlich mehr."
(Zahlen berücksichtigen noch nicht Auswirkungen der jüngsten Inflation, die ärmere Haushalte deutlich stärker belastet)
Fazit
Aus Sicht vereinfachender und von populistischen Bewegungen geschürten Denkweisen sind Migranten Verursacher der aktuellen Krisen, die es als vermeintliches Mittel der Krisenbewältigung abzuwehren und zu vertreiben gilt. Diese Denkweise ist nicht neu, sondern sie zeigte sich auch in der großen Strukturkrise der 1970er Jahre und beruht vermutlich auf traditionellen Denkmustern, die weit vor die NS-Zeit zurückreichen und in der Zeit der Weimarer Republik dem Nationalsozialismus zur Machtübernahme verhalfen. In der NS-Zeit waren vermeintlich Juden die Verursacher der Krisen. Diese Denkmuster verweisen auf bedrückende, über Duisburg hinausweisende deutschlandweite Muster von Sachverhalten:
- Verständnisse komplexer Sachverhalte überfordern viele Menschen. Sie suchen nach vermeintlich identifizierbaren Schuldigen als kausale Verursacher unerwünschter Zustände. Sozial zerstörerische populistische und politisch radikale Bewegungen spielen diese Melodie und gewinnen in Krisenzeiten Zuwächse von Anhängern.
- In defizitären und prekären Verhältnissen lebende Menschen sind nicht bereit, eigene Fehler einzugestehen. Sie machen prinzipiell fremdes Verschulden für die eigene Lage verantwortlich und erklären sich selbst als unschuldig.
- Politiker sind nicht bereit, Verantwortung für Fehlentscheidungen und von Ihnen verursachte Missstände zu übernehmen. Sie verweisen auf Handlungszwänge, ungünstige Umstände, Informationsdefizite.
- Klassenunabhängig zählt für viele Menschen nur eigener Nutzen. Gegenüber Gemeinnutzen und kollektiver Verantwortung verhalten sie sich gleichgültig.
- Krisenbewältigung scheitert am Widerstand vermögender Kreise, die ihren Wohlstand und ihre Privilegien schützen wollen.
- Krisen machen deutlich, dass wohlhabende Länder nicht bereit sind, ethische Verantwortung für die von ihnen verursachte Krisen zu übernehmen.
- Krisensituationen machen offensichtlich, dass das Modell repräsentativer parlamentarischer Demokratie asymmetrische Machtverhältnisse konserviert. Es begünstigt in Wohlstand lebende Menschen und vermag defizitäre Lebensverhältnisse nicht abzubauen. Davon profitieren populistische und politisch radikale Bewegungen.
- Das auf Wirtschaftskapitalismus beruhende Wachstumsmodell repräsentativer parlamentarischer Demokratie verfügt über keine erfolgversprechende Strategie der Krisenbewältigung und befindet sich daher auf einem Kurs des Scheiterns. Politische Alternativen betreiben Wiederbelebung doktrinärer autoritärer Richtungen und finden verstärkt Anhänger. Pluralistisch, freiheitlich, demokratisch und ethisch verantwortlich denkende Menschen geraten zunehmend in die Defensive.
Anhang
Daten zum Migrationshintergrund in Duisburg im Vergleich zu NRW
Datenerhebungen des Mikrozensus 2022 gestatten konkrete Aussagen zur Bevölkerung mit Migrationshintergrund in Duisburg im Vergleich zu NRW. ‚Migrationshintergrund‘ bedeutet lt. Mikrozensus (Statistisches Bundesamt):
„Eine Person hat einen Migrationshintergrund, wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren wurde. Im Einzelnen umfasst diese Definition zugewanderte und nicht zugewanderte Ausländerinnen und Ausländer, zugewanderte und nicht zugewanderte Eingebürgerte, (Spät-) Aussiedlerinnen und (Spät-) Aussiedler sowie die als Deutsche geborenen Nachkommen dieser Gruppen.
Die Vertriebenen des Zweiten Weltkrieges haben (gemäß Bundesvertriebenengesetz) einen gesonderten Status; sie und ihre Nachkommen zählen daher nicht zur Bevölkerung mit Migrationshintergrund.“
2022 hatten in Deutschland 23,8 Millionen Menschen Migrationshintergrund (28,7 %).
- 51,2 % von ihnen sind deutsche Staatsangehörige.
- 63,8 % von ihnen sind selbst zugewandert,
- 36,2 % wurden in Deutschland geboren.
Status Migrationshintergrund NRW lt. Mikrozensus 2022
Quelle: Landtag NRW: 11. Kommentierte Einwanderungs- und Integrationsstatistik Nordrhein-Westfalen
- 5,6 Millionen (31,1 %) Menschen in NRW hatten einen Migrationshintergrund. 29,3 % davon sprechen zu Hause ausschließlich deutsch (Pressemeldung 25.09.2023). 64,2 % der 15- bis unter 65-Jährigen Migranten war erwerbstätig (Land NRW: Neues NRW-Datenportal zu Einwanderung und Integration: Bildungsstatus und Erwerbsquote steigen)
- 34,5 % von ihnen sind jünger als 25 Jahre vs. 20,7 % der deutschen Bevölkerung
- 31,8 % der Kinder in Kindertageseinrichtungen im Alter von 3 bis unter 6 Jahren hatten einen Migrationshintergrund, davon 28,9 % aus nicht deutsch sprechenden Familien.
- 22,1 % der Schüler an Gymnasien hatten keine deutsche Staatsangehörigkeit vs. 41,2 % der Schüler mit deutscher Staatsangehörigkeit
- 15 % der Schüler ohne deutsche Staatsangehörigkeit besuchten die Hauptschule vs. 3,8 % der Schüler mit deutscher Staatsangehörigkeit
- 31,2 % der Menschen mit Migrationshintergrund besaßen Hochschulreife aber nur 15,7 % der Schüler ohne deutsche Staatsangehörigkeit erwarb 2022 die Hochschulreife.
Daten zum Status Migrationshintergrund in Duisburg
Quelle: Land NRW, Daten aus 2022: Integrationsprofil Duisburg. Daten zu Zuwanderung und Integration. Ausgabe 2023
- Anteil der Bevölkerung DU mit Migrationshintergrund: 42,3 % vs. 31,1 % NRW, 40,4 % Köln
- Erwerbstätigenquoten 2022:
- Nichtdeutsche: 53,9 % Duisburg vs. 64,2 % NRW
- Deutsche: 75,5 % Duisburg vs. 79,2 % NRW
- Arbeitslosenquote 2022:
- Insgesamt: 11,5 % Duisburg vs. 6,6 % NRW
- Deutsche: 8,2 % Duisburg vs. 4,9 % NRW
- Nichtdeutsche: 29,6 % Duisburg vs. 24,7 % NRW
- Anteil Kinder von 3 bis unter 6 Jahren in KITAs aus nicht deutsch sprechenden Familien:
- 46,9 % Duisburg vs. 28,9 % NRW
- Anteil nichtdeutscher Kinder an Grundschulen zu Beginn des Schuljahres 2022/23:
- 28,6 % Duisburg vs. 17,6 % NRW
- Anteil nichtdeutscher/deutscher Kinder an weiterführenden Schulen zu Beginn des Schuljahres 2022/23 in Duisburg und in NRW:
Duisburg NRW - Hauptschule: 0,8 % vs. 0,1 % 8,5 % vs. 2,2 %
- Realschule: 6,1 % vs. 10,5 % 22,7 % vs. 19,0 %
- Gesamtschule: 75,6 % vs. 46,4 % 45,4 % vs. 31,9 %
- Gymnasium: 15,2 % vs. 42,3 % 21,9 % vs. 46,2 %
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen