Freitag, 28. Juni 2024

Heimatkundliche kulturelle Exkursion: Im Ruhrgebiet gesprochenes Ruhrdeutsch

„Mit dem Altwerden ist es wie mit Auf-einen-Berg-Steigen: Je höher man steigt, desto mehr schwinden die Kräfte, aber umso weiter sieht man“. (Ingmar Bergman)


Links:    Wikipedia: Rheinischer Fächer, Version 26.11.2021, MicBy67, ohne Änderung - 1: Nordniederfränkisch, 2: Südniederfränkisch,
             3: Ripuarisch, 4: nördliches Moselfränkisch, 5: südliches Moselfränkisch, 6: Rheinfränkisch
Mitte:    Der Rheinische Fächer | © LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte, CC BY 4.0
Rechts: Wikipedia: Einheitsplural, Version 16.01.2021, Grwen, CC BY 4.0
 
Eine Gruppe von im Ruhrgebiet (auch als Ruhrpott oder Pott bezeichnet) der 1950er/1960er Jahre sozialisierten und in den 1970er Jahren nach Köln migrierten Freunden hat anlässlich des 75. Geburtstages eines Mitglieds in der Region ihrer Kindheit und Jugendzeit eine heimatkundliche Exkursion unternommen. Über diese Exkursion berichtet der Post Stationen im Ruhrgebiet (coming soon). Sprache unserer Kindheit war Ruhrdeutsch, das eine Einleitung in dieser Sprache überspitzt:
 
Tach, hömma, nix für ungut, abba auf 75 kannze schon ein bisken stolz sein, dat musse ersma hinkriegen. Von nix kommt nix, oder wat meinze? Hasse bestimmt lange simmeliert, wie dat hinhaut.
 
Mit nicht ganz so krasser, aber ähnlicher Sprache und ihrem kulturellem Umfeld sind wir sozialisiert. Heute schmunzeln wir über ungeschliffene sprachliche Verkürzungen, Verzerrungen, Kontraktionen und wissen, dass Sprache nicht nur Struktur ist, sondern von Lebensart geformt wird. Wie das zu verstehen ist, wie Ruhrdeutsch entstanden ist und wie es sprachwissenschaftlich eingeordnet wird, sind Fragen, auf die dieser Post nach Antworten sucht.
 
 
Rheinische Mundarten vs. Ruhrdeutsch
 
Historisch haben sich entlang des Rheins regional 6 strukturell unterscheidbare Mundarten herausgebildet, die sich entlang gedachter Linien von Osten nach Westen auffächern und daher als Rheinischer Fächer bezeichnet werden (Wikipedia: Rheinischer Fächer - LVR: Georg Cornelissen: Rheinischer Fächer). Die beiden nördlichen Sprachgruppen des Fächers bilden den Rheinischen Regiolekt. Je weiter der Fächer sich nach Norden spreizt, desto stärker ist die Verwandtschaft zum Niederdeutschen und Niederfränkischen. Nach Süden sind Mundarten des Fächers mit dem Mitteldeutschen verwandt. Dazwischen liegt die ripuarische Sprachgruppe, die von mittelfränkischen Stämmen gesprochen wurde. Zu diesem Sprachraum gehören die Städte Köln, Bonn, Düren, Aachen, Neuss sowie die Eifel und das Bergische Land. Lokale Varianten unterscheiden sich teilweise deutlich. Als Sprachgrenze des Fächers gilt die Einheitsplurallinie

Sprachwissenschaftliche Diskussionen über die Frage, ob Ruhrdeutsch ein Dialekt, Regiolekt, Soziolekt oder eine Variante des Hochdeutschen ist, lassen sich abkürzen. Ruhrdeutsch enthält von allem etwas, ist aber kein wirklicher Dialekt, sondern wird von Sprachwissenschaftlern als direkt vom Standarddeutschen abstammend verstanden und als Rheinischer Regiolekt bezeichnet. Insbesondere im Ruhrgebiet entstand durch den Zuzug von zuvor weiträumig verstreut lebenden Migranten die Notwendigkeit einer gemeinsamen Sprache, durch die sich das Standarddeutsche durchsetzen konnte und lokale Dialekte weitgehend verdrängt wurden. Einflüsse regional jeweils vorherrschender Mundarten wurden jedoch übernommen und führten zur Herausbildung regional unterscheidbarer Regiolekte. Neuere Untersuchungen des Rheinischen sprechen von zwei regionalen Rheinisch-Varianten, einer nördlichen und einer südlichen, die etwa entlang der Uerdinger Linie im Bereich zwischen Venlo, Krefeld und Oberhausen verschmelzen (Wikipedia: Rheinischer Regiolekt).


Entstehung von Ruhrdeutsch
 
Im Ruhrdeutschen treiben kulturelle Prozesse die Verschmelzung des Standarddeutschen mit Begriffen und Strukturen deutscher Dialekte sowie mit zahlreichen fremdsprachlichen Wörtern aus lateinischer, französischer, englischer, polnischer, russischer, jiddischer Sprache und aus von Sinti und Roma gesprochenem Romanes. Gebildete Kreise deutscher 'Hochkultur' griffen die vom britischen Soziologen Basil Bernstein entwickelte Bernstein-Hypothese auf und verstanden bis zu den 1970er Jahren ihre eigene Sprache als die einzig richtige und daher maßgebliche und verbindliche Sprache deutscher 'Hochkultur'. Ruhrdeutsch galt nicht als Sprache, sondern als ein für ortsfremde Menschen unverständliches, defizitäres Kauderwelsch, dass sich unter Bedingungen dynamischer Migrationsbewegungen aufgrund von Bildungsdefiziten als ein verstümmeltes Hochdeutsch verbreiten konnte, aber als fehlerhaft und minderwertig möglichst zu vermeiden ist (Portal Ruhrgebietssprache: Dirk Hallenberger: Zur Geschichte der Ruhrgebietssprache). Über Sprache hinaus wertete Bildungsbürgertum nur ihre eigene Kultur als wertvoll und daneben existierende kulturelle Ausprägungen als minderwertige, störende Fehlentwicklungen, die vermeintlichen Bildungsdefiziten geschuldet seien.
 
Seit den 1970er Jahren gilt die Bernstein-Hypothese als widerlegt (BPB: Anatol Stafanowitsch: Leichte Sprache, komplexe Wirklichkeit). Sprachwissenschaftler verstehen und analysieren Ruhrdeutsch zunehmend als eine in eher privater Kommunikation gesprochene Umgangssprache des Ruhrgebiets, die jedoch entlang kultureller Sprachlinien variiert. Diese Umgangssprache unterscheidet sich von der in öffentlichen Kontexten gesprochenen regionalen Standardsprache des Ruhrgebiets und beide Sprachen wiederum vom schriftlichen Hochdeutsch. Allerdings gilt auch Ruhrdeutsch in schriftlicher Variante seit den 1970er Jahren als literaturfähig (Portal Ruhrgebietssprache: Dirk Hallenberger: Zur Geschichte der Ruhrgebietssprache). Allerdings ist auch festzustellen, dass Ruhrdeutsch und andere Mundarten unter Einflüssen elektronischer Medien an Bedeutung verlieren, weil sie von in Medien verbreiteten Sprachmustern verdrängt werden. Diese Entwicklung motiviert wiederum engagierte Gegenbewegungen von Minderheiten zur Bewahrung heimatlicher Sprachkultur und erzeugt eine Paradoxie abnehmender mundartlicher Kompetenzen bei gleichzeitig zunehmender Informationsdichte über Mundarten.
 
Bezüglich struktureller Details des Ruhrdeutschen sei auf den Wikipedia-Artikel Ruhrdeutsch sowie auf das Portal Ruhrgebietssprache. Der schönste Dialekt der Republik verwiesen.
 
 
Bernstein-Gegenhypothese
 
Die als widerlegt geltende Bernstein-Hypothese besagt sinngemäß, dass Sprache Grenzen des Denkens markiert und eine relativ undifferenzierte einfache Sprache auf relativ schlichte Denkmuster schließen lässt, die komplexe Sachverhalte der Realität nicht zu erfassen vermögen.
 
Als soziologisch plausibel betrachtet der Autor dieses Posts unter Berufung auf Karl Marx und Pierre Bourdieu eine eigene, allerdings ungeprüfte Gegenhypothese, die das soziologische Postulat Das Sein bestimmt das Bewusstsein um den Sprachaspekt erweitert und annimmt, dass von Menschen beherrschte und genutzte Sprachmuster als funktionale Anpassungen an dominierende Kontexte sozialer Lebenszusammenhänge aufzufassen sind bzw. von Lebensart geformt werden. (Hans Böckler Stiftung: 'Das Sein bestimmt das Bewusstsein')
 
Vor der Industrialisierung war das heutige Ruhrgebiet eine dünn besiedelte Landschaft, in der verstreut liegende Höfe Landwirtschaft betrieben. Die fast schon explosionsartig wachsende Industrie des Ruhrgebiets benötigte Arbeitskräfte, die aus allen Teilen Deutschlands und vielen Ländern Europas angeworben wurden. Abgesehen von Religionszugehörigkeit traf eine kulturelle Vielfalt aufeinander, die wenig Gemeinsamkeiten teilte, nicht einmal ihre Sprache. Sprachliche Verständigung ermöglichte ein um regionale bzw. kulturelle Besonderheiten angereichertes Standarddeutsch, das sich zum Ruhrdeutsch entwickelte.
 
Ruhrdeutsch verzichtet auf Höflichkeitsfloskeln, umständliche Begründungen, Diplomatie und zeichnet sich durch Eindeutigkeit und Konsens herstellende sprachliche Effizienz aus, die auf grammatische Korrektheit wenig Wert legt und an Sentimentalitäten oder Umständlichkeiten keinen Raum verschenkt. Bewertungen von Situationen und Handlungsanweisungen formuliert diese Sprache direkt, unmissverständlich, klar. Sie bringt Beteiligte auf einen gemeinsamen Stand der Wahrnehmung, der gemeinsame Entscheidungen und gemeinsames Handeln ermöglicht. Diese Art der Sprache ist keine Erfindung des Ruhrdeutschen, sondern ist aus dem militärischen Bereich adaptiert, in dem Sprache ähnliche Funktionen hat. Teams sportlicher Wettbewerbe agieren ebenfalls mit militärischen Sprachstrukturen. Erfolg gemeinsamen Handelns verhilft dieser Art von Sprache im impliziten gegenseitigen Einvernehmen zum normativen Standard, der Überleben in einer unsentimentalen Welt der Industrie und kompetitiver sportlicher oder kriegerischer Aktivitäten ermöglicht.
 
Industrie des Potts prägt Menschen und ihre Haltungen ohne Ausflüchte direkt, ehrlich, diffus protestantisch. Das Leben ist zu spröde, um mit vermeintlichem Fehlverhalten großzügig umzugehen oder mit emotionalem Gedöns oder umständlicher Diplomatie zu verkleiden. Damit ist keineswegs gesagt, dass Menschen wie Maschinen agieren. Im Gegenteil pflegen Menschen industrieller, sportlicher, militärischer Mannschaften eine Art vertrauensvoller und verlässlicher Kameradschaft, wie sie sonst nur unter engen Freunden oder befreundeten Verwandten zu finden ist. Kameradschaft ist ein unverzichtbarer Teil eines allein nicht erfolgreich zu führenden Kampfes. Bereits in der Antike waren diese Zusammenhänge bekannt. Als Heilige Schar bezeichnete militärische Eliteeinheiten wurden aus männlichen Liebespaaren formiert.
 
Unmittelbare Vergleiche wären weit hergeholt, aber auch Kultur von Bergleuten ist für ihre außergewöhnliche Kameradschaft bekannt. Bergleute waren unter lebensgefährlichen Arbeitsbedingungen auf absolut verlässliche Kollegen angewiesen (Menschen im Bergbau: Betriebsklima). Umgekehrt bestanden besonders im Bergbau als Grubenmilitarismus bezeichnete autoritäre Hierarchien. Das war die andere Seite der Lebenswelt im Ruhrgebiet. Ohne Macht von Ruhrbaronen hätten viele Menschen in deutlich größerer Armut leben müssen. Um der Armut zu entkommen, mussten sie in ihre Ausbeutung einwilligen, aber mit der Faust in der Tasche und immer bereit zum Kampf, sobald Chancen erkannt wurden. Daher war das Ruhrgebiet unter industriellen Bedingungen tiefrot, in der Weimarer Zeit kommunistisch und nach dem Zweiten Weltkrieg sozialdemokratisch. Ohne Industriearbeiterschaft hätte die SPD keine Regierung übernehmen können. Mit dem industriellen Strukturwandel verliert die SPD Grundlagen ihrer Existenz selbst in Städten des Ruhrgebiets. Rückbau von Industrie und Bedeutungsverlust von SPD gehen Hand in Hand.
 
Kameradschaft von Industriearbeitern und Kampfbereitschaft gegen autoritäre Hierarchien bilden die beiden unterschiedlichen Seiten der von gegensätzlichen Interessen gebildeten sozialen Klassengegensätze. Im Industriemilieu lebende Menschen agierten untereinander herzlich und hilfsbereit. Sie teilten Freude und Leid. Sie galten aber auch als von etablierten Machtstrukturen gefürchtetes politisch revolutionäres Potential. Auf der Gegenseite der Ausbeutung forderten Vorgesetzte und von Regierungen autorisierte Behörden, Verordnungen, Gesetze zwar Loyalität, aber als potentiell korrupte Ausbeuter waren Vorgesetzte und Regierungen keiner Loaylität würdig. Im Gegenteil galt als legitimer Konsens, dass man Ausbeuter austricksen, hintergehen, bestechen durfte, wenn es dem eigenen Nutzen diente und solange es dem Eigeninteresse nicht schadete. Dabei war Arbeitern bewusst, dass sie sich vorsehen und schützen mussten. Das Portal Ruhrgebietssprache beschreibt diese Mentalität als typisch für das Ruhrgebiet (Erfolgreich bestechen im Ruhrgebiet), aber vermutlich ist sie nicht auf das Ruhrgebiet begrenzt. Das System des Kölner Klüngels basiert ebenfalls auf archaischen Regelwerken, die codierte Rechtssystemen außer Kraft setzen und somit Loyalitätsdefizite praktizieren. 

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