Mittwoch, 5. Juni 2024

Mentale Gesundheit, psychische Störungen, kulturelle Einflüsse, digitale Medien (Update: 06.06.2024)

Gehirne sind hoch komplexe Systeme und für Störungen anfällig.(1) Wenn über Zeiträume von mehreren Wochen und länger mentale Zustände auftreten, die Teilnahme am sozialen Leben behindern und sozial auffällig sind sowie die eigene Lebensführung beeinträchtigen und individuellen Leidensdruck erzeugen, gelten mentale Zustände als psychische Störungen.(2) Seit der Jahrtausendwende nehmen psychische Störungen deutlich zu. In den letzten 10 Jahren haben sich diagnostizierte Fallzahlen in Deutschland teilweise verdoppelt.(3) Kurze Beobachtungszeiträume über 3 Monate bestätigen 2023 diesen Trend.(4)
Fraglos sind kulturelle Einflüsse an psychischen Störungen beteiligt. Zeitliche Koinzidenzen zur Ausbreitung digitaler Medien lenken Verdacht auf kausale Ursachen. Wissenschaftliche Studien zeigen eher schwache Zusammenhänge und auch widersprüchliche Ergebnisse. Ursachen der Zunahme psychischer Störungen scheinen komplex und nicht monokausal erklärbar zu sein. Fragen nach Ursachen geht dieser Post nach.
 
Vorbemerkung
 
Dieser Artikel betrachtet Einflüsse soziokultureller Faktoren auf statistische Verteilungen des Auftretens und der Veränderung von Häufigkeiten psychischer Störungen und sucht nach Erklärungen von Ursachen. Er befasst sich nicht mit 
  • individuellem Leidensdruck,
  • Fragen medizinischer Klassifizierungen und Abgrenzungen von Störungen,
  • gesundheitspolitischen Aspekten der Versorgungssituation,
  • volkswirtschaftlichen Aspekten wie Ausfallzeiten und Kostenbelastungen.
Beobachtungen, Studien, Theorien dieses Artikel zitieren internationale Quellen. Zitierte Daten beziehen sich jedoch vor allem auf Deutschland. Ähnliche Bedingungen in ähnlich strukturierten Ländern dürften ähnliche Auswirkungen haben. Fragen internationaler Vergleichbarkeit geht dieser Artikel nicht nach.
 
 
1 Psychische Störungen 

Psychische Störungen manifestieren sich auf unterschiedliche Arten und beeinträchtigen individuelle mentale Gesundheit in unterschiedlichem Grad. Häufige Erscheinungsformen sind Angststörungen, Zwangsstörungen, Schlafstörungen, Depressionen, Suchtverhalten, Essstörungen, gestörte Körperwahrnehmung, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, Selbstverletzung, Autismus, Suizid. Verteilungsmuster zeigen:
  • Das Risiko der Erkrankung an psychischen Störungen unterscheidet sich länder- bzw. kulturspezifisch.(5)
  • Eine Meta-Analyse der TU Dresden untersuchte 27 Studien mit mehr als 150.000 Teilnehmern aus der EU und ermittelte ein Lebenszeitrisiko > 50 % sowie eine Prävalenz von 27 % pro Person und Jahr.(6)
  • Urbanität erhöht das Erkrankungsrisiko.(2)
  • Überproportional sind Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene betroffen.(2)
  • Im Gegensatz zu somatischen Erkrankungen nimmt das Risiko mit zunehmendem Alter ab (ausgenommen Demenz).(2)
  • Prekäre sozioökonomische Situationen erhöhen das Erkrankungsrisiko.(2)
  • Störungen verteilen sich geschlechtsspezifisch unterschiedlich. Frauen sind stärker betroffen als Männer.(2,7)
Schwere Manifestationen psychische Störungen gelten als behandlungsbedürftige Erkrankung. Behandlungen sind schwierig, weil sich Ursachen oftmals multifaktoriell zusammensetzen und Wissen über Ursachen meistens lückenhaft ist. Als Ursachen gelten mehrere Hauptfaktoren, die in unterschiedlichen Gewichtungen oft gemeinsam wirksam werden. Hierzu zählen
  • genetische Dispositionen,
  • traumatische Erlebnisse,
  • Bedingungen individueller Sozialisation,
  • Übergangsprozesse, wie juvenile Adoleszenz, Menopause, Alterung,
  • individuelle soziale Lebensbedingungen,
  • allgemeine (überindividuelle) Kultureinflüsse, die auf individuelle Lebensbedingungen  einwirken.
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2 Deutliche Zunahme psychischer Störungen, leichte Abnahme von Suiziden
 
Statistisch nehmen psychische Störungen seit der Jahrtausendwende deutlich zu. Ergebnisse einer von der KKH durchgeführte Studie besagen, dass Diagnosen wiederkehrender Depressionen im Zeitraum 2011 bis 2021 bundesweit um 71 % gestiegen sind sowie dass die Corona-Krise kein Treiber ist, sondern nur geringe Einflüsse hatte.(1)
 
Das Statistische Bundesamt meldet in einer Pressemitteilung vom 13. Juli 2023 einen überproportionalen Anstieg psychischer Erkrankungen bei Jugendlichen:(2)
"Psychische Erkrankungen und Verhaltensstörungen stellten im Jahr 2021 die häufigste Ursache für stationäre Krankenhausbehandlungen von Kindern und Jugendlichen dar. Knapp 81 000 der rund 427 600 Krankenhauspatientinnen und -patienten im Alter von 10 bis 17 Jahren wurden aufgrund dessen stationär behandelt. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) mitteilt, entsprach das 19 % aller Krankenhausbehandlungen in dieser Altersgruppe. Zum Vergleich: Bei Erwachsenen ab 18 Jahren machte die Diagnose 6 % der insgesamt gut 15,3 Millionen Krankenhausbehandlungen aus. Unter den Kindern und Jugendlichen im Alter von 10 bis 17 Jahren werden Mädchen anteilig häufiger aufgrund von psychischen Erkrankungen und Verhaltensstörungen im Krankenhaus behandelt: Während bei ihnen im Jahr 2021 knapp ein Viertel (24 %) der Behandlungen auf diese Diagnose entfiel, waren es bei den Jungen 13 %."
 
Differenzierter beschreibt der Bericht des Zentralinstituts der kassenärztlichen Versorgung die Situation in Deutschland im Versorgungsatlas Nr. 23/05.(3) Er räumt aber auch Unschärfen ein. Auswertbar sind nur Fälle in ärztlicher Behandlung. Eine defizitäre Versorgungssituation mit bis zu 6 Monaten Wartezeit auf ambulante Behandlungen lässt hohe Dunkelziffern vermuten. Aus den Daten ist nicht abzuleiten, ob psychische Erkrankungen bei Kindern tatsächlich häufiger auftreten oder ob sie lediglich häufiger Hilfe erhalten und daher die Anzahl der Behandlungen zugenommen hat, ohne dass sich der Bedarf signifikant verändert hat.  

Ein Anstieg psychischer Erkrankungen lässt signifikante Zusammenhänge mit Suiziden vermuten, die jedoch verfügbare Daten nicht bestätigen. Eine Veröffentlichung des Instituts für Rechtsmedizin Rostock stellt fest: „Die Suizidrate ist in Deutschland seit den 1980er-Jahren rückläufig. Bei Kindern und Jugendlichen blieb sie im Zeitraum von 2008 bis 2014 nahezu konstant.“(4) Eine Veröffentlichung von statista bestätigt den Befund.(5) Hinsichtlich der Aussagekraft verfügbarer Daten räumen Autoren der Rostocker Studie ein:
  • Die geringe Fallzahl schränkt die Aussagekraft der Daten ein.
  • Unterscheidungen zwischen Suiziden und Unfällen mit Todesfolgen sind schwierig.
  • Die Dunkelziffer ist wahrscheinlich hoch.
  • Die Anzahl von Suizidversuchen ist aufgrund fehlender Meldepflicht unbekannt.
Zusammenhänge zwischen konstanten oder abnehmenden Suizidraten und ansteigenden Zahlen psychischer Erkrankungen sind bisher nicht belastbar untersucht. Möglicherweise hat sich in der öffentlichen Wahrnehmung die Sensibilität für die Suizidproblematik erhöht und dadurch die Versorgungslage verbessert, während sich die Versorgungslage für psychische Erkrankungen nicht oder nur in geringerem Maß verbessert hat. Wissenschaftlich gesichertes Wissen über aufgezeigte Sachverhalte und die Erklärbarkeit von Zusammenhängen ist jedoch insgesamt defizitär und unbefriedigend.
 
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3 Zusammenhänge zwischen (psychischen) Erkrankungen und digitalen Medien
 
Einleitend ist festzustellen, dass Vermutungen, Annahmen, Hypothesen nur durch wenige wissenschaftliche Studien überprüft sind und Bewertungen von Studien durch Peer-Review-Verfahren noch seltener sind. Wenn Peer-Review-Verfahren durchgeführt wurden, zeigten sie häufig Mängel des Designs von Studien und schwache Korrelationen zwischen angenommenen Zusammenhängen, sodass Kausalaussagen eher fragwürdig sind. Umgekehrt besagt dieser Sachverhalt nicht, dass keine Kausalität besteht, sondern er verweist lediglich auf fehlende Belastbarkeit von Aussagen aufgrund methodischer Mängel. 

Wissenschaftliche Forschung ist von Mittelzuwendungen abhängig und daher zwangsläufig auf beauftragte oder gesponserte volks- und betriebswirtschaftlich bedeutende Fragestellungen fokussiert, die Menge, Tiefe, Qualität wissenschaftlicher Studien beeinflussen. Beispielhaft sei eine Nachricht der FAZ vom 4.06.2024 erwähnt.(1) Die Nachricht zitiert eine Recherche des British Medical Journal (BMJ), die unter den seit 1996 publizierten Veröffentlichungen 876 Studien gefunden hat, bei denen wissenschaftliche Forscher Verbindungen zur Tabakindustrie hatten. 27 dieser Studien wurden von 13 Fachmagazinen mit restriktiven Regeln veröffentlicht. Von 40 häufig zitierten Fachmagazinen haben nur 8 von der Tabakindustrie geförderte Studien strikt untersagt. 

Lobby-Einflüsse auf Wissenschaften übt nicht nur die Tabakindustrie aus, sondern sämtliche volkswirtschaftlich relevanten wertschöpfenden Bereiche und kollektiven Akteure (organisierte Interessengruppen) üben auf Politik und Wissenschaft Einflüsse per Lobby-Arbeit aus. Die meisten Menschen haben verstanden, dass politische Aussagen politisch zu verstehen sind und längst nicht immer für bare Münze genommen werden dürfen. Vielleicht etwas abgeschwächt gilt das auch für Aussagen, die als wissenschaftlich ausgegeben werden (nach bestem Stand des Wissens, neutral, redlich, verantwortungsbewusst), aber tatsächlich im Hintergrund verborgenen Interessen dienen. Wenn solche Aussagen auch noch in Medien repliziert werden, scheint damit für unkritische Rezipienten (also der überwiegende Teil aller Menschen), der Wahrheitsgehalt offiziell bestätigt zu sein. 
 
Dass im Kontext des auf Wachstum und Konsum basierenden Wirtschaftsmodells Forschungen zu depressiven Erkrankungen, Autoimmunerkrankungen und zahlreichen anderen Erkrankungen hinten anstehen müssen, erklärt sich mit unzureichender Aussicht auf Profit.

Wenn Studien publiziert werden, weisen sie insbesondere bei Kindern und Jugendlichen nach, dass sich regelmäßige Bildschirmzeit auf die Gehirnentwicklung von Kindern und deren geistige und körperliche Gesundheit, auf ihre persönliche Meinungsbildung sowie auf ihre schulische Leistungsfähigkeit positiv oder negativ auswirken und depressive Symptome zunehmen. Auswirkungen variieren über den zeitlichen Umfang der Bildschirmzeit und über Inhalte der Bildschirmzeit. Schlüsselfaktor ist wahrscheinlich die Art und Weise der Social-Media-Nutzung und nicht die Menge an Zeit.(2) Nicht auszuschließen ist, dass Jugendliche und Erwachsene auf gleichartige Einflüsse unterschiedlich reagieren. Es überrascht nicht, wenn Jugendliche sensibler als Erwachsene auf mediale Einflüsse reagieren, weil sie in der Pubertät eine Phase der körperlichen Metamorphose sowie der Persönlichkeitsfindung durchlaufen und in dieser Phase besonders vulnerabel sind. Daher hatte die Corona-Krise vermutlich auf psychische Erkrankungen Jugendlicher stärkeren Einfluss als bei Erwachsenen, aber sie erklärt keine Trends.(3)

Als weitgehend gesichert gilt, dass sich mit zunehmendem zeitlichem Umfang von Bildschirmzeit und der Nutzung von Social Media Wahrnehmung und Denken von Menschen verändern.(4) Veränderungen können sich als vorteilhaft auswirken oder als pathologisch aufgefasste psychische Störungen insbesondere im Sinne von Suchterkrankungen, Depressionen, Angststörungen, Schlafstörungen oder in beide Richtungen auftreten. Ein Wikipedia-Artikel über das von Meta Platforms (Facebook) betriebene soziale Netzwerk Instagram verweist auf etliche wissenschaftliche Studien, die bei intensiven jugendlichen Nutzen teilweise das gesamte Spektrum psychischer Störungen nachweisen. Zitierte Daten stammen z.T. aus Untersuchungen des Mutterkonzerns, die durch Leaks bekannt wurden.(5)

Eine 2020 seriös durchgeführte wissenschaftliche Studie erregte einiges Aufsehen. Die Studie untersuchte 405 adoleszente und junge erwachsene Frauen, die sich auf Social Media Plattformen für Essstörungen und Körperbilder interessieren und fand bei 84 % der Teilnehmerinnen Symptome von Essstörungen, Depressionen, Angstzuständen sowie ein gestörtes eigenes Körperbild und andere pathologische Symptome. Allerdings ist anzunehmen, dass psychische Gesundheit i.d.R. von zahlreichen, sich oft überlagernden und interagierenden Faktoren beeinflusst sind.(6)

Interagierende Bedingungsfaktoren können sich überlagern und/oder wechselseitig verstärkend oder abschwächend beeinflussen. D.h. sie verursachen keine isolierbaren, abgrenzbaren, verallgemeinerungsfähigen Wirkungen, sondern sind als sich individuell unterschiedlich zusammensetzende Konglomerate zu verstehen. Wissenschaftliche Studien tun sich mit Erklärungen nicht generalisierbarer komplexer Zusammenhänge schwer, weshalb nicht überrascht, dass Studien über Zusammenhänge zwischen der Nutzung digitaler Medien und psychischer Gesundheit eine insgesamt unsichere Belastbarkeit der Validität ihrer Ergebnisse und teilweise widersprüchliche Ergebnisse zeigen. Die Aussagekraft von Studienergebnissen belastet zusätzlich, dass Kriterien psychischer Gesundheit nur relativ schwammig definiert sind. Über den aktuellen Stand des Wissens informiert relativ ausführlich ein Wikipedia-Artikel Auswirkungen der Nutzung digitaler Medien auf die psychische Gesundheit.(7,8)
 
Noch deutlich schwerer als Wissenschaft tut sich Alltagsdenken mit Verständnis von Komplexität. Alltagsdenken neigt gewöhnlich dazu, Wahrnehmungen komplexer Zusammenhänge aufzulösen, indem es gefühlt plausibel erklärbare, vermeintlich sinnhafte Konstrukte linearer Kausalität (Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge) annimmt, die bei kritischer Betrachtung selten bestätigt werden. (siehe Kapitel 4)

Auf psychische Ausprägungen einwirkende Konglomerate von Bedingungen entstehen in Populationen weder zufällig noch gleichartig, sondern sie variieren mit individuellen Einflussfaktoren. Als relevante Einflussfaktoren gelten in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen:(9,10,11)
  • Geschlecht (Frauen und Mädchen sind anfälliger als Männer und Jungen),
  • Alter (besonders anfällig sind Jugendliche und alte Menschen),
  • Art und zeitlicher Umfang genutzter Social Media,
  • Ausprägungen individueller Erscheinungsbilder und Verhaltensweisen (Phänotypen) in Relation zur Distanz zu aktuell geltenden sozialen Wertvorstellung körperlicher Ästhetik und zu Normverstellungen angemessenen Verhaltens,
  • familiäre, schulische, berufliche Situation (belastend vs. unterstützend/belohnend),
  • soziale Vernetzung hinsichtlich Art, Menge, Qualität sozialer Kontakte,
  • sozialer Status der Lebenssituation,
  • familiäres und individuelles Bildungsniveau (eng korrelierend mit sozialem Status).
Soziologische Untersuchungen messen Zusammenhänge zwischen Verteilungen von Merkmalen in Populationen. Soziologische Aussagen über Verteilungen von Merkmalen sind statistischer Art. Sie erklären keine individuellen Einzelschicksale und deren mentale Zustände, sondern statistische Wahrscheinlichkeiten des Auftretens empirisch messbarer Ausprägungen von Merkmalen.

Aus soziologischer Sicht beeinflussen empirisch identifizierbare Kontexte der Lebensumgebung von Populationen persönlich verfügbare Arten und Mengen von Mitteln der Lebensgestaltung. Entsprechend ihrer Verwendungszusammenhänge werden Mittel der Lebensgestaltung als soziales, ökonomisches, kulturelles, symbolisches, affektives Kapital bezeichnet.(12) Verteilungen von Mitteln streuen hinsichtlich Art und Menge über Populationen nicht zufällig, sondern folgen expliziten und impliziten Regelwerken räumlich und zeitlich variierender Kulturmuster. Gemäß soziologischer Auffassung beeinflusst die persönliche Verfügbarkeit von Mitteln, mit welcher Wahrscheinlichkeit und welcher Häufigkeit soziale und psychische Befindlichkeiten von Menschen auftreten. 

Die Nutzungsdauer von digitalen Medien variiert mit dem sozioökonomischem Status von Personen kaum. Mit dem sozioökonomischem Status unterscheiden sich jedoch individuell Wohlbefinden, Selbstwahrnehmung und Realitätswahrnehmung psychisch stabiler und psychisch gestörter Menschen deutlich und damit Verhalten der Mediennutzung. Viera Pirker, Hochschullehrerin für Religionspädagogik und Mediendidaktik, beschreibt diese Zusammenhängen bei Kindern und Jugendlichen:(13)
"In der als Längsschnitt über 14 Jahre durchgeführten „Befragung zum seelischen Wohlbefinden und Verhalten“ [...] zeigen rund 22 Prozent der Kinder und Jugendlichen deutliche Hinweise auf psychische Auffälligkeiten. Die internalisierten Störungen (Angst und Depression) werden von den Kindern selbst deutlicher benannt als von den Eltern  [...]. Ein ungünstiges Familienklima sowie ein niedriger sozioökonomischer Status bilden besondere Risikofaktoren, Kinder psychisch kranker Eltern haben ein höheres Risiko zu eigener Erkrankung und schlechtere Behandlungsperspektiven. „Je niedriger der sozioökonomische Status ist, desto höher ist der Anteil der Erkrankungen, aber desto geringer sind die Behandlungsquoten der Betroffenen“ [...]. Diese Daten stehen nicht ursächlich mit Social Media-Nutzung in Verbindung. Social Media bildet für belastete Kinder und Jugendliche aber zunehmend einen sozialen Raum für Verarbeitung, Ablenkung, Ausdruck und Bewältigung  [...]. „Kinder stärken“ schützt auch vor viel schwerer zu behandelnden Erkrankungen im Jugendalter [...]."
[...]
"Reliable Zusammenhänge sind nicht einfach herzustellen. Als gesichert gilt aber inzwischen, dass aktive Social Media-Nutzung bei psychisch gesunden Nutzer_innen zum Wohlbefinden beiträgt, da sie das soziale Kapital erhöht und das Gefühl der Einbindung unterstützt, während passive Nutzung eher soziale Vergleiche und Neid hervorruft und negative Affekte aufs subjektive Wohlbefinden nach sich zieht."

Primär ist der sozioökonomische Status der Haupttreiber für Nutzungsverhalten von Social Media. In bildungsfernen Bevölkerungskreisen sind Risiken prekärer Lebenslagen erhöht. Diese Kreise nutzen Social Media nicht nur zur Unterhaltung, sondern auch bevorzugt zu eher unkritischer Informationsbeschaffung. Jugendliche haben generell erhöhte Risiken psychischer Vulnerabilität. Bei Jugendlichen aus bildungsfernen Bevölkerungskreisen und/oder in prekären Lebenslagen nehmen Risiken psychischer Vulnerabilität zu. 
 
Das Social-Media-Nutzungsverhalten von Kindern und Jugendlichen aus benachteiligten und prekären Lebensverhältnissen ist intensiver und auf solche Beiträge fokussiert, die ihr eigenen Bild der Realität bestätigen. Wenn diese Kinder und Jugendlichen ein ohnehin bereits gestörtes psychisches Befinden aufweisen, erzeugen Social Media zusätzliche negative Effekte, die das eigene psychische Befinden negativ verstärken. (Zu beachten ist, dass diese Aussagen als statistische Wahrscheinlichkeiten zu verstehen sind und individuelles Befinden und Verhalten davon abweichen kann.)

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Quellen:
  1. FAZ, 04.06.2024: Die Tabakindustrie mischt bei Medizinforschung weiter mit
  2. Wikipedia: Bildschirmzeit
  3. Wikipedia: Psychische Gesundheit
  4. Hubspot: Statistiken zur Social-Media-Nutzung in Deutschland (Anfang 2024)
  5. Wikipedia: Instagram#Negative Folgen
  6. Ellen E. Fitzsimmons-Craft, Melissa J. Krauss, Shaina J. Costello, Glennon M. Floyd, Denise E. Wilfley: Adolescents and young adults engaged with pro-eating disorder social media: eating disorder and comorbid psychopathology, health care utilization, treatment barriers, and opinions on harnessing technology for treatment. In: Eating and weight disorders: EWD. Band 25, Nr. 6, Dezember 2020, ISSN 1590-1262, S. 1681–1692, doi:10.1007/s40519-019-00808-3, PMID 31679144, PMC 7195229
  7. Wikipedia: Auswirkungen der Nutzung digitaler Medien auf die psychische Gesundheit
  8. Springermedizin: Depression & soziale Medien: Mit diesen 3 Fakten sind Sie up to date
  9. Bayerische Landeszentrale für neue Medien: Fit und gesund oder medienabhängig und krank?
  10. Bayerische Landeszentrale für neue Medien: Meinungsbildung mit Instagram, TikTok und Co
  11. Mediennetzwerk Bayern: Social Media als Nachrichtenquelle der Generation Z
  12. Wikipedia: Kapitalsorten
  13. Viera Pirker: Social Media und psychische Gesundheit - Am Beispiel der Identitätskonstruktion auf Instagram

4 Evolutionäre Diskrepanz und evolutionäre Medizin
 
Die Zunahme psychischer Störungen wirft Fragen auf. Plausibel sind kulturelle Einflüsse. Auffällig sind zeitliche Zusammenhänge zwischen der Ausbreitung digitaler Technologien und auf ihnen basierende Medien einerseits sowie der Zunahme psychischer Erkrankungen andererseits. Zeitliche Korrelationen erklären jedoch keine Ursachen. Wissenschaftliche Forschungen zu diesen Fragestellungen sind eher dürftig und unzuverlässig.

In Anbetracht der Anpassungsfähigkeit von Menschen an Umweltbedingungen stellt sich die Frage, warum im Zeitraum der vergangenen Jahrzehnte offenbar Anpassungen nur unvollständig gelingen und psychische Störungen zunehmen. Ein überaus plausibles, aber im strengen wissenschaftlich Sinn nicht zu beweisendes oder zu widerlegendes Konzept der Evolutionsbiologie erklärt diesen Sachverhalt aus der Dynamik evolutionärer Prozesse als evolutionäre Diskrepanz bzw. als Mismatch-Theorie oder evolutionäre Falle.(2) Das Konzept vergleicht Dynamiken biologischer Evolution sowie der Evolution von Umweltbedingungen, unter die auch Kultur einzuordnen ist. Überleben konnten gemäß dieser Theorie solche biologischen Arten, denen es gelang, evolutionär Anpassungen an veränderte Lebensbedingungen als biologische Merkmale erfolgreich zu entwickeln. 

Prozesse biologischer Evolution entwickeln sich relativ langsam über zahlreiche Generationen von Lebenszyklen. Über historisch lange Zeiträume verliefen evolutionäre biologische Anpassungen erfolgreicher Arten weitgehend synchron zu langfristigen Prozessen der Veränderung von Umweltbedingungen. Schnellen oder plötzlichen dauerhaften Veränderungen lebenskritischer Umweltbedingungen können Prozesse biologischer Evolution kurzfristig nicht folgen, sodass Ungleichgewichte von Fehlanpassungen entstehen, die als evolutionäre Diskrepanzen bezeichnet werden. Evolutionäre Diskrepanzen sind Treiber biologischer Evolution, durch die biologische Arten unter Anpassungsdruck bzw. in in Krisen geraten. Diese Treiber hat es immer gegeben und wird es immer geben. Wenn biologischen Arten Anpassungen an dauerhafte lebenskritische Umweltveränderungen nicht gelingt, setzt im Extremfall ein Artensterben ein.
  • In basaler Form beruhen evolutionär entwickelte Strategien des Lebens von Organismen auf Überlebensinstinkten der Nahrungsaufnahme, des Schutzes vor Feinden sowie der Reproduktion durch geschlechtliche Fortpflanzung und Aufzucht von Nachkommen.
  • Bis auf wenige Ausnahmen haben menschliche Populationen je nach Region vor ca. 10.000 bis 2.000 Jahren einen Übergang vom mehr oder weniger nomadischem Jäger-Sammler-Lebensstil zum sesshaften landwirtschaftlichem Lebensstil vollzogen. Anpassungen des Jäger-Sammler-Lebensstils wirken sich unter Bedingungen des landwirtschaftlichen Lebensstils als funktionale Fehlanpassungen aus und verursachen pathologische Störungen.
  • Prominente Beispiele für auf Jäger-Sammler-Lebensstil zurückzuführende funktionale Fehlanpassungen sind Adipositas, Fettstoffwechselstörung, Bluthochdruck, Diabetes mellitus, Osteoporose, die als Zivilisationskrankheiten gelten.(2)
  • Gemäß Hygienehypothese nimmt mit dem Übergang vom landwirtschaftlichen zum industriellen Lebensstil mit städtischem Leben die Exposition des Immunsystems gegenüber Antigenen ab und bewirkt in Industrieländern eine Zunahme von Allergien, Autoimmunerkrankungen und anderen chronischen entzündlichen Erkrankungen.(3,4,5)
  • Weitere Fehlanpassungen resultieren aus biologisch programmierten Anforderungen des Belohnungssystems des Gehirns. Für Jäger-Sammler-Kulturen war das Belohnungssystem für den Überlebens- und Reproduktionserfolg funktional nützlich. Vermutlich haben auch Jäger-Sammler-Kulturen bereits gemeinschaftlich Drogen konsumiert, aber unter kontrollierten rituellen Bedingungen, die den sozialen Zusammenhalt nicht gefährdeten, sondern festigten. Unter Lebensbedingungen von Industrieländern haben Herausforderungen des Überlebens- und der Reproduktion abgenommen, aber das neuronale Belohnungssystem des Gehirns erzeugt weiter Verlangen nach Belohnung und motiviert zu sozial tabuisierten belohnenden Handlungen des Essens, Drogenkonsums, Glücksspiels, der eigenen Körperwahrnehmung, der Arbeitsbelastung, der sexuellen Begierde, des Binge-Watchings (Komaglotzen von Serien), des Konsums von Pornofilmen etc.. Aktivitäten welcher Art auch immer, die mit Verlust von Kontrolle einhergehen, enthalten potentiell selbstzerstörendes und darum pathologisches Suchtverhalten.(6)
Beschriebene Phänomene liegen prinzipiell außerhalb medizinischer Forschung und Praxis. Diese befasst sich mit molekularen metabolischen Prozessen sowie physiologischen Mechanismen und versucht als Erkrankung verstandene Veränderungen zu behandeln. 

Aspekte evolutionärer Diskrepanzen finden erst allmählich Berücksichtigung in medizinischer Forschung und verändern Verständnisse von Gesundheit und Krankheit. Insbesondere hinsichtlich Verständnissen von Krebserkrankungen, Autoimmunerkrankungen, Erkrankungen des Stoffwechsels, psychischen Erkrankungen, Suchterkrankungen, Anatomie haben Ansätze evolutionärer Medizin neue Erkenntnisse in medizinischer Forschung bewirkt.(7)  Diese Erkenntnisse erfahren jedoch bisher keine Umsetzungen im Sinne von Nutzen praktischer Anwendungen. Neben konservativem Standesdünkel dürfte an diesem Sachverhalt beteiligt sein, dass das Gesundheitssystem von einer wirtschaftlich motivierten Gesundheitsindustrie gesteuert wird, die Profite mit Erkrankungen, aber nicht durch Prävention und Gesundheit erzielt. Behandlungen von aus evolutionären Diskrepanzen resultierenden Erkrankungen zählen zum Geschäftsmodell der Gesundheitsindustrie. 

Der volkswirtschaftliche Anteil von euphemistisch als Gesundheitsausgaben (treffender wäre Krankheitsausgaben) bezeichneten Wertes aller Waren und Dienstleistungen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) betrug 2022 in Deutschland 12,8 % bzw. 497,7 Milliarden Euro. 2021 war er durch Corona bedingt 0,3 % höher.(8) Der Anteil von 12,8 % ist selbstverständlich zu hoch und droht weiter zu steigen. Einsparungsmaßnahmen zielen auf Reduzierung von Leistungen und werden zusätzlich durch Digitalisierung von Prozesse erwartet, die aber zunächst Investitionen erfordern. An Berechnungen für durch Prävention erzielbare Einsparungen bei gleichzeitigem Gewinn individueller Lebensqualität scheint gesamtwirtschaftlich und politisch kein Interesse zu bestehen.

Produzenten von Social Media und ihre Partner der Konsumindustrie sind deutlich besser informiert als Konsumenten ihrer Produkte. Sie nutzen beschriebene Mechanismen im eigenen wirtschaftlichen Interesse und scheren sich einen Dreck um von ihnen provoziertes individuelles Leiden und Unglück.

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5 Fazit und Ausblick
 
Dank theoretischer Konzepte evolutionärer Diskrepanz entwickeln sich allmählich Verständnisse scheinbar irrationaler Verhaltensweisen sowie körperlicher und psychischer dysfunktionaler Störungen unbekannter Genese und mit äußeren Einflüssen nicht erklärbarer Erkrankungen. Insbesondere im Bereich der Verhaltenstherapie tragen diese Konzepte bereits in der Gegenwart Früchte. In der Theorie gestatten sie Eigenkontrolle selbstschädigender Verhaltensmuster. Voraussetzungen sind Aufklärung und betreute Anleitungen für Verhaltensänderungen, die aber im realen Leben westlicher Kulturen nicht zu erkennen sind.
  • Im etablierten Gesundheitssystem (medizinische Versorgung und Pharmaindustrie) ist diese Motivation jedoch, wenn überhaupt, nur sehr schwach vorhanden.
  • In der Konsumgüterindustrie und deren Marketing sind diese Mechanismen bekannt und werden zur Manipulation von Konsumentenverhalten missbraucht.  Intransparenz, Unwissenheit und Dummheit von Konsumenten sind implizite Voraussetzungen des Geschäftsmodells und werden gezielt genutzt und verstärkt.
  • Politischer Wille zur Veränderung dieser Situation fehlt.
Es bedarf keiner Fähigkeiten der Wahrsagung, um zu erwarten, dass Entwicklungen von KI beschriebene Problematiken verschärfen werden.

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