Freitag, 9. Februar 2024

Teil 1: Einleitung der Postserie über den Neuaufbau in Westdeutschland und Erinnerungskultur an NS-Zeit nach 1945 (Stand: 21.03.2024)

NS-Parade Duisburg - Innenstadt Duisburg 1945 nach Bombenabwürfen (links oben Rathausturm) - Zwangsarbeiter auf Dortmunder Zeche
 
Dieser Post befasst sich in mehreren Teilen mit exemplarischen Aspekten von Erinnerungskultur an NS-Zeit im Kontext des Zweiten Weltkriegs und des politischen Neuaufbaus Westdeutschlands nach 1945.
  • Hier vorliegender Teil 1 erklärt als Einleitung die Motivation der Entstehung dieses Textes, beschreibt Struktur und Perspektiven der Betrachtung und stellt Zusammenhänge her.
  • Teil 2 schaut im Kontext des Zweiten Weltkriegs auf Aspekte von Erinnerungskultur an NS-Zeit an Beispielen von Kriegswirtschaft, Zwangsarbeit, Verbrechen der Wehrmacht.
  • Teil 3, Politischer, wirtschaftlicher, mentaler Neuaufbau in Westdeutschland und Erinnerungskultur nach 1945, betrachtet das Leben im Nachkriegsdeutschland  unter Aspekten des Neuaufbaus, der Aufarbeitung von NS- und Kriegsverbrechen, der praktizierten Erinnerungskultur.
  • Die Sensibilität der Thematik verlangt Belege beschriebener empirischer Sachverhalte. Ziffern in Klammern verweisen auf Anmerkungen. Um den Lesefluss nicht zu stören, sind Anmerkungen und Quellenangaben als Endnoten eingerichtet und in einem separaten Post dokumentiert. Teil 4: Anmerkungen der Teile 1 bis 3 
 
Inhaltsverzeichnis des Gesamttextes
 
Teil 1: Einleitung zur Postserie
 
Teil 2: Kriegswirtschaft, Zwangsarbeit, Verbrechen der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg
1         Einleitung Teil 2
2         Stadt Duisburg und Ruhrgebiet im Zweiten Weltkrieg (1939-1945)
3         Zwangsarbeit in der Kriegswirtschaft des Zweiten Weltkriegs
3.1      Zwangsarbeit in Duisburg während der Kriegswirtschaft des Zweiten Weltkriegs
4         Die eigene Familie im Zweiten Weltkrieg
4.1      Familie der Mutterlinie
4.2      Familie der Vaterlinie
5         Kriegsverbrechen der Wehrmacht
6         Ende des Zweiten Weltkriegs
6.1      Flucht von NS-Kriegsverbrechern auf 'Rattenlinien' und Rolle der Kirchen
 
Teil 3: Neuaufbau und Erinnerungskultur in Westdeutschland nach 1945
1         Einleitung Teil 3: Alltagsleben im Nachkriegsdeutschland
2         Aufarbeitung von NS- und Kriegsverbrechen: „Ein Täter und 60 Millionen Gehilfen“
2.1      Entnazifizierungs- und Kriegsverbrecherverfahren
2.2      Beispiele des Umgangs mit Verantwortung und Schuld in Rechtsprechung und Politik
3         Restart mit Amnesie und Amnestie in runderneuerter politischer Kultur
3.1      Schlussstrichpolitik unter Konrad Adenauer: „Man schüttet kein dreckiges Wasser aus, wenn man kein reines hat
3.2      Haltung der Bundespräsidenten 1949-1994
3.3      Amnestiepolitik nach 1945
3.4      Der Verjährungsskandal 1969 der Großen Koalition unter Kanzler Kurt Georg Kiesinger
4         Schlussbetrachtung
4.1      Was war?
4.2      Was ist? 
4.3      Was bleibt? 
4.4      Was wird?


1 Einleitung zur Postserie
 
Nach dem Ersten Weltkrieg im Versailler Vertrag von Siegermächten festgeschriebene Demütigungen Deutschlands bereiteten den Boden für die Ausbreitung des Nationalsozialismus in den 1930er Jahren. Nach der Machtübernahme begann NS-Politik unter breiter Zustimmung deutscher Eliten und deutscher Bevölkerung mit der gezielten Vorbereitung des Zweiten Weltkriegs. Der Zweite Weltkrieg ging als Fortsetzung des Ersten Weltkriegs und größter militärischer Konflikt in die Kulturgeschichte ein. Der Versuch, "(...) das Himmelreich auf Erden zu verwirklichen, verführt uns dazu, unsere gute Erde in eine Hölle zu verwandeln".(1)
  
Kriegsgreuel und Genozide sind keine deutsche Spezialität, sondern ubiquitäre globale Phänomene. Ebenso ist Antisemitismus kein deutsches Privileg, sondern ein tief im kollektiven Bewusstsein verwurzeltes Phänomen des christlichen und islamischen Kulturraums und daher ein internationales Phänomen. Antisemitismus wurzelt in Rassismus. Weißer Rassismus bezieht seine sozialdarwinistischen Begründungen natürlicher Überlegenheit aus der ab dem 15. Jahrhundert einsetzenden globalen Expansion europäischer Kultur und dem mit ihm einhergehenden kolonialen Imperialismus. 

Deutscher Nationalsozialismus ist ein Teil dieser Geschichte. Neuartig sind jedoch Qualität rassenpolitischer Genozide sowie mit ihm verknüpfte Ursachen und Konsequenzen. Gemäß nationalsozialistischer Denkweise sollte das 'deutsche Wesen' nicht nur seine von Siegermächten missachtete Würde zurückerhalten, sondern das deutschen Volk sollte als Herrenrasse den ihm vermeintlich zustehenden Platz an der Spitze der Evolution besetzen. Das deutsche Volk war in weiten Teilen für diese Perspektive schnell zu begeistern. Ein großer Teil der deutschen Elite verlieh sozialdarwinistischen Ideologien mit pseudo-wissenschaftlichen und kulturtheoretischen Argumenten Glaubwürdigkeit.  

Nicht nur in Deutschland konnten sich in zahlreichen Ländern trotz Einsichten in Irrtümern keine relevanten Erinnerungskulturen der Aufarbeitung historischer Fehlentwicklungen durchsetzen. Unter Blinden ist der Einäugige König. Die deutsche Aufarbeitung der NS-Zeit wird in Vergleichen oft als vorbildlich bezeichnet, aber überbewertet. Bei genauerer Betrachtung sind Defizite nicht übersehbar:
  • Nach dem Zweiten Weltkrieg bestand in Deutschland kein allgemeines Interesse an der Aufarbeitung der NS-Zeit. Sie wurde Deutschland von der internationalen Staatengemeinschaft aufgezwungen und war im Hinblick auf internationale Anerkennung als Nationalstaat für Deutschland alternativlos.
  • Eliten und die Normalbevölkerung haben die Aufarbeitung prinzipiell abgelehnt oder sie unterlaufen und in Anbetracht offenkundiger Fakten nur im nicht vermeidbaren Umfang widerwillig akzeptiert.
  • Die Aufarbeitung beschränkte sich auf kollektive Akteure wie Großkonzerne sowie auf bedeutende öffentliche Institutionen und Organisationen. In deren Namen handelnde individuelle Akteure hat die Aufarbeitung zu Lebzeiten der Akteure weitgehend verschont. In den meisten Konzernen, Institutionen, Organisationen setzte eine ernsthaft betriebene Aufarbeitung erst nach dem Tod von Führungspersönlichkeiten der NS- und Nachkriegszeit ein. Kleinere und mittelständische Einrichtungen haben sich an der Aufarbeitung i.d.R. nicht beteiligt bzw. sich als Opfer inszeniert.
  • Während zum Holocaust und zu Vernichtungslagern weitgehend Konsens über schuldhaftes Verhalten besteht, werden individuelle Erfahrungen von Unrecht der NS-Zeit in Form von Zwangsarbeit der Kriegswirtschaft, Kriegsverbrechen der Wehrmacht und Entnazifizierungsverfahren der Nachkriegszeit von aktiv oder passiv beteiligte Zeitzeugen systematisch vergessen, verdrängt, geleugnet. 
  • Bezüglich der Schuldfrage sprachen sich allerdings weite Teile der Bevölkerung als Opfer der Führung eines verbrecherischen Systems von eigener Schuld frei und bemühten sich, eigenes Verhalten der NS-Zeit zu verschweigen und zu leugnen. Eingeständnisse von Fehlverhalten, Irrtümern, Schuld blieben individuelle Ausnahmen.
Exemplarisch zeigen Zwangsarbeit in deutscher Kriegswirtschaft und Reinigungsprozesse der Nachkriegszeit wie Abwehrmechanismen kollektiv wirksam werden. Weitgehend unaufgearbeitet und dem allmählichen Vergessen überlassen sind Kriegsverbrechen der Wehrmacht. Wissenschaftlich sind Sachverhalte von Zwangsarbeit aufgearbeitet. In der Alltagskommunikation werden sie überwiegend ignoriert. Individuelles Schweigen war vermutlich nicht frei von Scham. Ohne Zustimmung, Tolerierung, Duldung wären Sachverhalte des Unrechts in monumentaler historischer Monstrosität nicht möglich gewesen. Damit ist nicht gesagt, dass repressive Zwangsarbeit und brutale Lagerwirtschaft in der gesamten Bevölkerung akzeptiert oder begrüßt wurden. Zustimmung oder Opportunismus vermengten sich individuell variierend mit Überzeugung, Begeisterung, Gleichgültigkeit, Angst. Diese Mischungen erzeugten in ihren jeweiligen Zusammensetzungen stärkere Wirkungen als ethische Bedenken.

Eigene Vorfahren und die gemeine Bevölkerung waren mit individueller Aufarbeitung des Unrechts überfordert. Politische, ökonomische und intellektuelle Eliten entzogen sich aufgrund eigener Verstrickungen und pragmatischer Nutzenkalküle weitgehend der Aufarbeitung von Unrecht. Sie stellten sich ihrer Verantwortung nur unter Druck von außen und i.d.R. nur fragmentarisch ohne Eingeständnis persönlicher Verantwortung und Schuld. Lebensinstinkte sind gewöhnlich stärker als ethische Prinzipien. Eliten, die Bevölkerung und Vorfahren der Kriegsgeneration haben Schulden ihres Fehlverhaltens nicht getilgt und als Hypotheken an Nachkriegsgenerationen vererbt. 

Verdrängung ist ein Mechanismus des psychischen Selbstschutzes, aber Verdrängung macht Traumata nicht ungeschehen, sodass sie an anderer Stelle aufbrechen und Schäden anrichten. Überlebende des Zweiten Weltkriegs sind oft von schweren Traumata betroffen. Als Kriegsenkel(2) bezeichnete Kinder dieser Generation sind indirekt mitbetroffen, weil nicht überwindbare Tabuzonen der Sprachlosigkeit das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern belasten, die Entwicklung von Urvertrauen(3) in der Sozialisation von Kindern verhindern und Entfaltungen von Potentialen der Lebensbewältigung behindern. Exemplarische Erwähnung verdienen zwei besonders krasse Fälle:
  • Autor und Journalist Niklas Frank (geboren 1939)(4) ist ein Sohn des NS-Politikers Hans Frank (1900-1946), der als „Schlächter von Polen“ in die Geschichte eingegangen ist und im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess 1946 zur vollstreckten Todesstrafe verurteilt wurde.(5) Seit den 1980er Jahren arbeitet sich Niklas Frank in mehreren Büchern am persönlichen Schicksal seine Familie ab, ohne zur Ruhe zu kommen.(6) In seinem letzten Buch von 2023 wertet er die Art der in Deutschland praktizierten öffentlichen Gedenk-Symbolik als eine verlogene Alibi-Erinnerungskultur, bzw. als „Krokodilstränen“ von Tätern, die lediglich der eigenen Beruhigung und der Besänftigung von Opfern dienen und betrachtet die Entwicklung der rechten politischen Szene in Deutschland mit großer Sorge.(7)
  • Die Kulturwissenschaftlerin Anita Sauckel ist eine Urenkelin von Fritz Sauckel (1894-1946), der als Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz die Deportierung von ca. 7,5 Millionen Fremdarbeitern für die deutsche Kriegswirtschaft organisierte.(8) Im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess 1946 war Fritz Sauckel u.a. neben Hans Frank einer der 24 Hauptangeklagten und wurde zur vollstreckten Todesstrafe verurteilt. In einem Interview der Süddeutschen Zeitung beschreibt Anita Sauckel ihre drei Generationen später als Urenkelin erlebten Qualen.(9) 
Dem Autor dieses Textes geht es nicht um Recherchen und Beschreibungen isolierbarer Sachverhalte, sondern um Kontexte und ihre Strukturen. Komplexe Zusammenhänge sind schwierig wahrzunehmen und zu verstehen, daher erfordert ihre Analyse Auflösungen in isolierbare Elemente, Sachverhalte bzw. Konstellationen, Prozesse. Entscheidend ist jedoch, wie diese Komponenten orchestrierend ineinandergreifen und Weltsichten erzeugen, die Auffassungen von Realität erzeugen und menschliches Verhalten steuern.  
 
Um Bedeutungen von beschriebenen Zusammenhänge zu verstehen, sind einige abstrakte Überlegungen hilfreich. Kollektive Handlungen erfordern kollektiven Konsens über normative Wertvorstellungen politischer und weltanschaulicher Ideologien. Reichweiten politischer und weltanschaulicher Ideologien sind begrenzt. An Grenzen zwischen politischen und weltanschaulichen Ideologien bestehen Konfliktpotentiale, die sich zwischen kollektiven Ordnungssystemen zu Kriegen ausweiten können. Mit Mitteln von Gewalt ausgetragene kollektive Konflikte in Dimensionen von Kriegen beruhen auf kontrollierten Handlungen organisierter Kollektive, die Konsens über dogmatische politische und weltanschauliche Ideologien vermeintlich rechtfertigt. In Deutschland fanden rassenideologische Ansichten vermeintlicher Überlegenheit der arischen Rasse und deren existenzielle Bedrohung durch minderwertige Rassen, Weltjudentum und Bolschewismus ausreichend breiten Konsens, um der Judenvernichtung und weiteren Genoziden zuzustimmen und einen totalen Krieg(10) für unausweichlich zu halten.

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