Donnerstag, 28. August 2025

Norbert Elias, Hans Peter Duerr, Pierre Bourdieu und der Prozess europäischer Zivilisation (Update 9.09.2025)

Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Taschenbuchausgabe Frankfurt 1976 (Original: Basel 1939) Traumzeit. Über die Grenzen zwischen Wildnis und Zivilisation, Fankfurt 1978 Der Mythos vom Zivilisationsprozeß, Frankfurt 1988-1997 Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt 1982 (Original: La Distinction. Critique sociale du jugement. Les Éditions de Minuit, Paris 1979)
 
In westeuropäischer Geschichte fand im Zeitraum von ca. 1500 bis 1900 der Umbruch zur Moderne der Gegenwart statt. Der Soziologe Norbert Elias (1897-1990) fasst Entwicklungen dieses Umbruchs als Prozess der Zivilisation auf. Elias' Deutungen und Wertungen des Umbruchs zur Moderne provozieren Widersprüche, die insbesondere der Ethnologe Hans Peter Duerr (*1943) in einer breiten Kontroverse vorträgt. Elias gilt als Vorläufer und Ideenspender des französischen Soziologen Pierre Bourdieu (1930-2002). Bourdieus Arbeiten üben maßgeblichen Einfluss auf Kultur- und Geisteswissenschaften der Gegenwart aus. Der Text vergleicht Positionen und betrachtet Zusammenhänge sowie Auswirkungen von Gemeinsamkeiten und Unterschieden aus soziologischer und ethnologischer Sicht.
 
 
Übersicht Inhalt

      Vorwort 
1    Norbert Elias und der Prozess abendländischer Zivilisation
1.1 Elias-Duerr-Kontroverse über Annahmen von Psychogenese
1.2 Elias' Annahmen zur Soziogenese auf dem Prüfstand
2    Biografien von Norbert Elias und Hans Peter Duerr
2.1 Norbert Elias (1897-1990)
2.2 Hans Peter Duerr (*1943) 
3    Pierre Bourdieu (1930-2002)
      Änderungshistorie
 
 
Vorwort
 
Dieser Text ist ein vorab veröffentlichter Auszug aus einem Bündel von Texten, die derzeit noch bearbeitet werden. Themen dieses Textbündels betreffen bis zur Gegenwart reichende historische Entwicklungen sozialer und politischer Strukturen von Freiheit vs. Unfreiheit, Egalität vs. soziale Ungleichheit, Gerechtigkeit vs. Ungerechtigkeit, Individualismus/Kosmopolitismus vs. Kommunitarismus, Kapitalismus vs. Sozialismus in Westeuropa und in Deutschland. 
 
Grundsätzlich sollte bewusst sein, dass wissenschaftliche Theorien eine prinzipiell unendlich komplexe Realität nicht objektiv beschreiben und auch nicht diesen Anspruch erheben. Theorien erklären Komplexität von Realität modellhaft. Konkurrierende Vorstellungen und Erklärung von Realität sind kein Mangel, sondern ein nützliches Prinzip von Wissenschaft. Konkurrierende Theorien zeigen den Grad von Unwissenheit über Erklärungsgegenstände und tragen zur Anreicherung von Wissen bei. 
 
Der eigene Text erhebt keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, aber er respektiert inhaltliche Anforderungen an wissenschaftliche Arbeiten und benennt Urheber und Quellen. Formale Anforderungen an wissenschaftliche Arbeiten werden großzügig gehandhabt. Der Text vermeidet Fuß- oder Endnoten sowie Anhänge mit Literaturlisten und verweist innerhalb der Texte auf Quellen. Verlinkungen ohne explizite Quellenangabe beziehen sich auf Einträge in Wikipedia.
 
Umfangreiche Texte zu komplexen Themen erfahren bei der Bearbeitung zahlreiche Änderungen. Erfahrungsgemäß sind Texte nach primärer Fertigstellung nicht perfekt und erfordern nachträgliche Korrekturen, Änderungen, Ergänzungen. Eine Aufstellung der Änderungshistorie am Ende des Textes ermöglicht Nachvollziehbarkeit dieser Dynamik.
 
 
1 Norbert Elias und der Prozess abendländischer Zivilisation
 
Der Soziologe Norbert Elias entwickelte zu Beginn der 1940er Jahre in seinem Hauptwerk Über den Prozess der Zivilisation ein Modell, das erklärt, wie sich in Gesellschaftslehren gewöhnlich angenommener Dualismus von Individuum und Gesellschaft in einem Prozess der Zivilisation im Sinne von Zivilisierung auflöst.
 
Elias geht es um Erklärung der Herausbildung von Automatismen sozialer Verhaltensweisen, aber er versteht Menschen nicht als sozialen Prozessen schicksalhaft ausgeliefert. Mithilfe rationaler Methoden können Menschen Erkenntnisse über komplexe Prozesse gewinnen und in Prozesse eingreifen. Gesellschaft und Individuum versteht Elias nicht als Dualismus bzw. Gegensätze zwei unabhängiger Entitäten, sondern ähnlich wie der französische Soziologe Émile Durkheim (1858-1917) als vielschichtige, zeitlich und räumlich variierende Konstellationen von Bedingungen sich dynamisch ändernder komplexer Sachverhalte, die Durkheim sozialer Tatbestand nennt. Soziale Tatbestände sind nicht als Zustände, sondern als Prozesse aufzufassen. 
 
Mit dieser Auffassung erregte Elias Widerspruch und Ablehnung von Seiten politischer linker Ausrichtungen, die sich in den 1960er und 1970er Jahren an gesellschaftswissenschaftlichen Fakultäten westeuropäischer Universitäten Gehör verschafften. Politische Verwirrungen der vergangenen hundert Jahre hatten sich auch in Universitäten als Patina abgesetzt und schienen insbesondere in der jüngeren Generation verbreitete Vorstellung von politisch zu überwindenden sozialen Klassengegensätzen zu beweisen. Wer Klassengegensätze nicht sehen oder verstehen wollte, hatte sich gemäß vermeintlich fortschrittlicher Denkweise als Angehöriger der Bohemien diskreditiert. Elias war daher in breiter Studentenschaft keine relevante Größe der Soziologie. 
 
Funktionierende Gewaltmonopole europäischer Nationalstaaten sind für Elias das Ergebnis zunehmender Verinnerlichung von Verhaltensnormen. Verinnerlichung transformiert Fremdzwänge in Selbstzwänge. Elias’ Erklärung beruht auf dem Modell eines Prozesses, der soziologische Herrschafts- und Prozesstheorie mit psychologischer Handlungstheorie verknüpft. Elias beschreibt, wie sich in einem gemeinsamen Prozess individuelle Empathie und Rationalität parallel und gegenseitig verstärkend zu zentralen staatlichen Handlungsmonopolen entwickeln. Ausprägungen dieses Prozesses identifiziert Elias als
  • individuell zunehmende Selbstkontrolle,
  • abnehmende Gewaltbereitschaft,
  • Erhöhung von Scham- und Peinlichkeitsschwellen
  • Kontrolle und Tabuisierung von Sexualität,
  • Tabuisierung von Ausscheidungsfunktionen,
  • Ausbreitung von Anstandssitten und Höflichkeitsfloskeln,
  • Verfeinerung von Tischmanieren, Ess- und Trinksitten.
Langfristigen Wandel des Verhaltens im Zeitraum von ca. 800 bis 1900 n. Chr. in Westeuropa beschreibt Elias anhand von Vergleichen des Verhaltens der Gegenwart mit historischen Dokumenten, wie Manierenbüchern (Anstandsliteratur). Als Ursache für Verhaltensänderungen identifiziert Elias einen durch Eigendynamik getriebenen ungeplanten und unumkehrbaren Prozess, den er Zivilisation nennt. Der Prozess umfasst interdependent verschränkte Veränderungen von Dispositionen menschlichen Verhaltens und mentaler Verfassung sowie Veränderungen sozialer Strukturen, die Elias als Psychogenese und Soziogenese bezeichnet. In diesem Prozess verändern sich 
  • individuelle Persönlichkeitsstrukturen von Menschen in Richtung Affektkontrolle, Gewaltregulierung, Rationalisierung
  • und kollektive soziale Strukturen individueller Lebensumgebung in Richtung Zunahme von Wettbewerb, Differenzierung, Technologisierung, Zentralisierung. 
Gemäß Elias’ Theorie transformieren Mechanismen der Internalisierung zuvor als Fremdzwänge wahrgenommene individuelle Verhaltensanforderungen in als vermeintlich selbstverständliche Sachzwänge empfundene Verhaltensanforderungen. Die Rezeption des Werks versteht in der öffentlichen Wahrnehmung Elias’ Theorie als vermeintlichen Beweis für Fortschrittlichkeit und Überlegenheit westlicher abendländischer Kultur bzw. der Moderne und verhilft einem eher sperrigen Werk zu ungewöhnlicher Popularität.

Elias erklärt u.a. scharfsichtig Verschiebungen ehemals enger Verflechtung von religiöser und politischer Macht. Die Entstehung zentralisierter Nationalstaaten mit Monopol auf Gewalt und Besteuerung verlagerte Macht von der Religion auf den Staat. Der Staat übernimmt sukzessive die Wahrnehmung von Aufgaben, wie Bildung, Rechtsprechung, soziale Sicherung, für die zuvor religiöse Institutionen verantwortlich waren. Gleichzeitig nehmen mit Prozessen fortschreitender Rationalisierung und Säkularisierung die Bedeutung religiöser Deutungen der Welt und die Autorität von Religion ab. Während Religion ihren Anspruch auf Deutungshoheit und ihre politische Macht verliert, nimmt staatliche Macht zu. Mit Staaten als zentraler Machtfaktor entstehen teilweise Staatskult oder Führerkult als neue Formen von Macht und erheben ähnlich wie zuvor Religionen Anspruch auf Gehorsam.

Anhand von Esssitten, Tischmanieren, Kleiderordnungen etc. beschreibt Elias u.a., wie es bürgerlicher Kultur sukzessive gelingt, Verhaltensweisen höfischer Kultur, die ursprünglich Lebens- und Verhaltensweisen sozialer Stände kulturell voneinander abgrenzte, sukzessive durch Nachahmung zu adaptieren. Darüber hinaus beschreibt Elias den zum Allgemeingut gewordenen Königsmechanismus als eine Taktik von Alleinherrschern, Macht bedrohende Gegeninteressen durch gegeneinander Ausspielen so zu neutralisieren, dass Nutzen nur durch Verknüpfung mit Herrschaftsinteressen erzielbar sind. Trump perfektioniert dieses Spiel mit seinen Deals.
 
 
1.1 Elias-Duerr-Kontroverse über Annahmen von Psychogenese
 
Zivilisation hat Norbert Elias als definierenden Begriff für einen Abschnitt des Prozesses sozialen Wandels europäischer Kultur unglücklich gewählt. Die Bezeichnung des Prozesses europäischer kultureller Evolution als Zivilisation provozierte Widerspruch und mündete in Missverständnisse von Polarisierungen, die Elias unterstellten Zivilisation als eine europäische Qualität und indigene Kulturen als unzivilisiert sowie andere Hochkulturen als weniger zivilisiert zu verstehen. Sozialdarwinistische Deutungen europäischer Kultur sind von Elias nicht intendiert, aber implizit können sie herausgelesen werden und scheinen vermeintlich fehlendes Klassenbewusstseins zu dokumentieren. Im bürgerlich-konservativen Lager trägt diese Sicht wahrscheinlich maßgeblich zum Erfolg von Elias’ Hauptwerks bei. Akzeptanz im bürgerlichen Lager verstärkt Misstrauen im linken Lager.
 
Zivilisation hat Norbert Elias als definierenden Begriff für einen Abschnitt des Prozesses sozialen Wandels europäischer Kultur unglücklich gewählt. Die Bezeichnung des Prozesses als Zivilisation suggeriert, Zivilisation sei eine im Sinn von Fortschritt positiv zu wertende Qualität der Entwicklung europäischer Kultur, während indigene Kulturen unzivilisiert und andere Hochkulturen weniger zivilisiert seien. Unter Perspektiven des politisch linken Lagers, das Klassenkampf als Fortschritt versteht, provozieren vermeintliche Deutungen von Zivilisation als europäische Qualität von Fortschritt zwangsläufig Widerspruch und Missverständnisse. Im eher bürgerlich-konservativen Lager trägt diese Deutung wahrscheinlich maßgeblich zum Erfolg von Elias’ Hauptwerks bei.  
 
Der Ethnologe Hans Peter Duerr (*1943) steht auf der Seite des vermeintlich fortschrittlichen Lagers. Elias unterlaufene Fehldeutungen historischer Dokumente und langfristiger Trends nutzt Duerr in seinem monumentalen fünfbändigen Werk Der Mythos vom Zivilisationsprozeß für eine Generalabrechnung. Über mehr als 3500 Seiten weist Duerr in dreizehnjähriger Arbeit Elias detailliert Fehler nach. (Persönlich sind nur die Bände 1-4 bekannt.) Von Elias beschriebene Veränderungen von Anstandssitten und Höflichkeitsfloskeln sowie Verfeinerung von Tischmanieren, Ess- und Trinksitten sind offensichtlich und nicht zu beanstanden. Duerrs Kritik richtet sich vor allem und zu Recht gegen Annahmen von in kultureller Evolution vermeintlich zunehmender Trieb- und Affektkontrolle. Duerr zeigt mit überzeugenden Argumenten an einer überwältigenden Menge Beispielen, dass Scham- und Peinlichkeitsschwellen sowie deren soziale Kontrolle in Kulturen von Stammesgesellschaften erheblich stärker ausgeprägt sind als in modernen Gesellschaften der Gegenwart. 
 
Oliver König macht in einem Beitrag der Zeitschrift Psychologie Heute (1991, 18. Jg., H. 12, S. 68-69) auf unterschiedliche Perspektiven von Duerr und Elias aufmerksam, aufgrund der sie aneinander vorbei argumentieren. Elias denkt systemisch-soziologisch in Prozessen und Strukturen und nimmt eine unbegrenzte soziale und kulturelle Modellierbarkeit von Menschen und Kulturen an. Im Rahmen europäischer Geschichte entwickelt Elias eine Theorie sozialen Wandels, die zu ideologischer Überhöhung der Evolution westlicher europäischer Kultur tendiert. Als Ethnologe besteht Duerr in kulturrelativistischer Tradition auf Gleichwertigkeit von Kulturen. Eurozentrische Evolutionstheorien sind für ihn Ideologien. Sein Interesse gilt anthropologischen Universalien als Kern von Verhalten. 
 
Mit ethnologischer Expertise beruft sich Duerr auf Faktizität ethnologischer Daten und weist nach, dass von Elias konstatierte Verschiebungen von Schwellen für Peinlichkeit, Nacktheit, Intimität, Scham aus Irrtümern und eurozentrischen Wahrnehmungsverzerrungen resultieren. Allerdings ist zu konstatieren, dass Elias seine Werke in den 1930er und frühen 1940er Jahren verfasst hat. Sexualität ist eine biologische Universalie, Kontrolle von Sexualität ist eine kulturelle Universalie. Stärke dieser Kontrolle variiert räumlich und zeitlich. Sexualität war Mitte des vorigen Jahrhunderts stark tabuisiert. Niemand muss Soziologe, Ethnologe, Psychologe sein, um zu erkennen, dass von Elias angenommene Zunahme von Trieb- und Affektkontrolle sowie vermeintliches Vorrücken von Schamgrenzen empirisch nicht validierbar sind. Stattdessen sind Trends in Gegenrichtung zu erkennen. Oliver König reklamiert zu Recht, dass der Umgang mit Nacktheit und Scham kein geeigneter Maßstab für Zivilisiertheit sei. 
 
 
1.2 Elias’ Annahmen zur Soziogenese auf dem Prüfstand 
 
Persistenz von Kulturen ist ein Indiz für erfolgreiche Anpassungen an Lebensbedingungen. Unterschiedliche Lebensbedingungen bringen unterschiedliche Kulturen hervor. Ähnliche Lebensbedingungen können ebenfalls unterschiedliche Lösungen erfolgreich hervorbringen. Erst beim Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kulturen manifestieren sich Stärken und Schwächen ihrer jeweiligen kulturellen Lösungsmodelle. Aus Stärken und Schwächen resultieren übergeordnete Machthierarchien. Unstrittig ist, dass Macht starken Kulturen Vorteile der Verteilung von Ressourcen zum Nachteil schwächerer Kulturen verschafft. Etablierte ethische Prinzipien verhindern asymmetrische Verteilungen von Macht und Ressourcen nur rudimentär. 
 
Im Essay Mehr als der Mythos vom Zivilisationsprozess. Warum es sich lohnt, Norbert Elias' bekanntestes Werk neu zu lesen (in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, 15 (2018), S. 383-390) erhebt die Soziologin Teresa Koloma Beck Einwände gegen einen blinden Fleck der Elias’schen Analyse und reklamiert, dass Annahmen eines langfristigen Rückgangs von Gewalt in zivilisierten Gesellschaften das Paradoxon der Gewaltkontrolle und dessen systematische Effekte vernachlässigen. Tatsächlich würden abendländisch zivilisierte Gesellschaften keineswegs Gewalt eliminieren, sondern Gewaltkontrolle verlagern. Zitate stammen aus dem Essay. 
 
Die Fähigkeit zur Gewalt bleibt Teil der conditio humana. Wir sind »verletzungsoffen« und »verletzungsmächtig«, unsere Haut ist dünn, und es braucht nicht viel, um den Körper eines anderen lebensgefährlich zu schädigen. Kein »zivilisatorischer Fortschritt« vermag daran etwas zu ändern. Gewaltkontrolle ist deshalb eine zentrale Herausforderung aller Prozesse sozialer Ordnungsbildung. Doch auch wo es gelingt, diese Ordnung zu etablieren – wie in den von Elias beschriebenen Staatsbildungsprozessen –, bleiben Gewaltpraktiken präsent. Denn das Gewaltmonopol ist selbst auf die Drohung mit und die zumindest gelegentliche Ausübung von Gewalt angewiesen. Gewaltkontrolle erfordert also die Reproduktion von Gewaltpotential – klassisch in Form von Armeen und Polizeien. Aus dieser Paradoxie gibt es kein Entkommen. Die weitreichende Zurückdrängung gewaltsamer Interaktionen aus dem Alltag verlangt die organisierte Herstellung von Gewaltpotentialen an eigens dafür vorgesehenen Orten. (S. 388)

Charakteristisch für das Gewaltverhältnis der Moderne ist die Verbindung zweier widersprüchlicher Dynamiken: Die massive Delegitimierung und Skandalisierung von Gewalt geht Hand in Hand mit einer kontinuierlichen, bürokratisch und technologisch vorangetriebenen Steigerung staatlicher Gewaltpotentiale, die als Garanten genau dieser Wertordnung gelten. Und je unselbstverständlicher den modernen Subjekten die Gewalt wird, umso mehr müssen gerade Staaten in Institutionen und Praktiken investieren, welche die zur Reproduktion von Gewaltmonopolen notwendige Gewaltkompetenz vorhalten. Somit ist die Moderne zwar tatsächlich normativ gewaltavers, aber empirisch alles andere als gewaltarm. Vielmehr führt die Delegitimierung und Ächtung der Gewalt dazu, dass sich die Bedingungen ändern, unter denen sie ausgeübt werden kann.
(S. 388f.)

So bringt die Moderne spezifische Narrative der Rechtfertigung von Gewalt hervor – von der Doktrin des gerechten Krieges über die Verteidigung der Menschenrechte oder das Selbstbestimmungsrecht der Völker bis zur Responsibility to Protect –, und politische Akteure bemühen sich, eigene Gewalthandlungen im Lichte dieser Narrative lesbar zu machen. Darüber hinaus erzeugt die Moderne Praktiken, die – wissend um die normative und affektive Gewaltaversion moderner Subjekte – darauf zielen, Gewalthandlungen dem Blick der Öffentlichkeit zu entziehen. Die fortschreitende Perfektionierung von Distanzgewalt oder die Zunahme von Militäreinsätzen, die ohne parlamentarischen Beschluss möglich sind, illustrieren diese Entwicklung.
(S. 389) 
 
Trotz Irrtümern und eurozentrischen Verzerrungen ist Elias die Auflösung des Dualismus von Individuum und Gesellschaft zugunsten wechselseitiger Abhängigkeiten und Verflechtungen aus eigener Sicht nicht vorzuwerfen, sondern positiv anzurechnen. Elias besteht darauf, dass Gesellschaft nicht als Außenwelt und Individuum nicht als isolierter Kosmos aufzufassen sind. Persönlichkeit bzw. Psyche von Individuen und deren Umwelt sind in von Elias als Figurationen bezeichneten Interdependenzgeflechten sozialer Strukturen verwoben. Dynamik von Prozessen verursacht ständig variierende Modellierung von Figurationen, die keine statischen Zustände kennen, aber temporäre Gestalten annehmen. Wolf Lepenies, Soziologe, scheut sich jenseits wissenschaftlicher Aussagen nicht vor politischen Statements. Im Essay Auch unsere Zivilisation ist nie vollendet worden (Welt, 05.01.2016:) verteidigt er den von Elias als Zivilisationsprozess bezeichneten Figurationsmechanismus und wertet Terror von Barbarei als Antizivilisation. 
 
Hans Martin Lohmann plädiert in einem Beitrag des Deutschlandfunks aus dem Jahr 2003 für die Rehabilitierung von Elias’ Theorie: Hans Peter Duerr: Die Tatsachen des Lebens.  
 
[…] ist es nicht vielmehr so, dass man sich eigentlich darüber wundern muss, dass in modernen westlichen Gesellschaften, in denen große Menschenmassen in urbanen Ballungsgebieten auf engstem Raum zusammenleben, Gewalt so verhältnismäßig selten vorkommt? Und dass trotz einer allgegenwärtigen aggressiven sexistischen Werbung, die an die bekannten „niederen Instinkte“ appelliert, die Häufigkeit sexueller Übergriffe im Alltag eher gering ausfällt? Es ist nicht ohne Ironie, dass Duerr im Blick auf die moderne Zivilisation die Existenz ebenjenes „Phantomkleides“ internalisierter sozialer Normen übersieht, dessen Ignorierung er der Elias-Schule im Blick auf frühere Zeiten und ferne Gesellschaften gerade vorwirft. Hätte Duerr nur ein etwas besser ausgebildetes Sensorium für die Tatsachen des kapitalistischen Lebens, so hätte er erkennen können, dass unbeschadet der aggressiven Dynamik des modernen Kapitalismus und der hässlichen und brutalen Seiten, die er freisetzt, die überwältigende Mehrheit der Menschen an elementaren Regeln des sozialen Miteinanders, d.h. an Standarden wie Scham, Rücksicht und Höflichkeit festhält. Gewisse Formate gewisser privater Fernsehsender darf man nicht mit den Tatsachen des Lebens verwechseln
 
Auch hier vertritt Duerr eine gegenteilige Auffassung und sieht in der Gegenwart eher eine Zunahme als Abnahme von Gewalt und sexuellen Übergriffen. Intuitive eigene Beobachtungen scheinen zu bestätigen, dass Hass und Aggression nicht nur in politischen Konflikten, sondern auch zwischenmenschlich zunehmen. Subjektive Wertungen sind ohne solide empirische Überprüfung nur als prinzipiell vorsichtig zu behandelnde Vermutungen zu verstehen, deren Bild zudem durch Zuflüsse männlicher Migranten aus nordafrikanischen und vorderasiatischen Kulturräumen verzerrt wird. Der Sachverhalt von Kollisionen zwischen europäischen und außereuropäischen Regelungen von Trieb- und Affektkontrolle durch Migrationsbewegungen macht andererseits darauf aufmerksam, dass Elias mit seiner Internalisierungstheorie offenbar nicht völlig falsch liegt. Kollisionen können nur darum entstehen, weil Trieb- und Affektkontrolle kulturell unterschiedlich internalisiert werden. Damit ist jedoch nicht der Sachverhalt geheilt, dass von Elias genutzte Instrumente seines Werkzeugkastens der Erklärung Messfehler erzeugen.
 
Elias’ soziologische Perspektive schließt an durch Kultur geprägte, prozesshafte bildungsbürgerliche Sicht an. Aus Irrtümern von Deutung folgt nicht zwingend, dass Elias’ soziologische Perspektive wie ein Kartenhaus zerfällt. Duerr geht es um den Nachweis struktureller anthropologischer Universalien, um Gleichwertigkeit unterschiedlicher Kulturen kulturrelativistisch zu begründen. Aus dieser Perspektive entlarvt er vermeintlich Elias’ bildungsbürgerliche Sicht als eurozentrische Kulturideologie. Von Duerr aufgezeigte Universalien sind so wenig abzustreiten wie die Existenz von Kulturideologien. Allerdings sind damit Annahmen kultureller Evolution und ihre Verknüpfungen mit spezifischen Bedingungen nicht widerlegt. Vermeintliche Widersprüche resultieren aus Unschärfen bzw. kategorialen Grenzüberschreitungen semantischer Logik. 
 
 
2 Biografien von Norbert Elias und Hans Peter Duerr
 
Aus Biografien von Elias und Duerr können keine Argumente pro oder kontra ihre unterschiedlichen thematischen und theoretischen Ausrichtungen abgeleitet werden, aber beide Biografien sind für das Verständnis ihrer jeweiligen Werke aufschlussreich, weil sie jeweilige Ausrichtungen von Denkweisen verständlicher machen.

 
2.1 Norbert Elias (1897-1990) 
 
Norbert Elias ist in einer wohlhabenden jüdischen Familie des Bildungsbürgertums in Breslau sozialisiert und behütet, aber als Außenseiter aufgewachsen. Der Vater war Textilfabrikant. Die Familie war überdurchschnittlich mit sozialem, kulturellem, ökonomischem Kapital ausgestattet. Mit der Machtergreifung des Nationalsozialismus emigrierte Norbert Elias 1933 ins Exil. Den Eltern wurde zum Verhängnis, dass sie auf Rechtsstaatlichkeit vertrauten und in Breslau blieben. Der Vater verstarb 1940 in Breslau. Die Mutter wurde 1942 im KZ Treblinka ermordet.  
 
Von Karl Popper (1902-1993)  ist aus seinem Werk Alles Leben ist Problemlösen. Über Erkenntnis, Geschichte und Politik (München 1994) die Aussage überliefert Optimismus ist Pflicht. Vermutlich ging es Norbert Elias ähnlich wie Karl Popper darum, positiven Glauben an Zukunftsfähigkeit europäischer Kultur trotz Erfahrungen des Nationalsozialismus nicht aufzugeben, weshalb er eine Theorie zivilisatorischen Fortschritts entwickelte. Elias war bewusst, dass Fortschritt nicht linear verläuft, aber er glaubte daran, dass Eigendynamik dieses Prozesses langfristig in Richtung zivilisatorischer Fortschritt führen wird. 
 
Positiv zu bewertende kulturelle Entwicklungen des Schutzes von Leben und individueller Rechte sowie der Verbesserung von Lebensqualität gelten aus individueller Perspektive zu Recht als Fortschritt. Ob aus diesen Entwicklungen Gesetzmäßigkeit der Höherentwicklung von Kulturen und objektive Kriterien für ein qualitatives Ranking von Kulturen abgeleitet werden können, ist jedoch nicht wissenschaftlich zu beantworten, sondern eine Antwort von Weltanschauungen, die Gesetzmäßigkeiten kultureller Evolution in Richtung Höherentwicklung als objektiv gültig annehmen. In der wissenschaftlichen Community besteht weitgehender Konsens, dass Evolution nicht zielgerichtet, sondern kontingent verläuft. In evolutionären Prozessen zufällig entstandene Variationen sind darum erfolgreich, weil sie bessere Anpassungen an Lebensbedingungen ermöglichen. Wenn Annahmen von Gesetzmäßigkeiten kultureller Evolution in Richtung Höherentwicklung gültig wären, müsste sich der globale Lebensraum in Richtung Paradies entwickeln, aber nicht nur für eine kleine Elite, sondern für die Weltbevölkerung. Ein solcher Trend ist nicht zu erkennen. Im Gegenteil scheint sich die Menschheit eher auf dem Weg in den Untergang zu befinden.
 
Einen Nachruf zur Persönlichkeit von Norbert Elias hat der Soziologe Hermann Korte (*1937) verfasst: Norbert Elias in Breslau. Ein biographisches Fragment, Zeitschrift für Soziologie, Jg. 20, Heft 1, Februar 1991, S. 3-11. Der Autor dieses Textes hat mehrere Semester bei Hermann Korte an der RUB studiert und dort Norbert Elias in einer Ringvorlesung erlebt.
 
 
2.2 Hans Peter Duerr (*1943) 
 
Der an der RUB lehrende Ethnologe Dieter Haller veröffentlicht in seinem Portal Interviews with German Anthropologists u.a. ein geführtes und freigegebenes Interview mit Hans Peter Duerr, in dem dieser über seine Biografie berichtet. Duerr ist in einer kleinbürgerlichen Arbeiterfamilie sozialisiert und hat als erstes Familienmitglied einen hohen Bildungsabschluss erreicht. Die Familie ließ ihm Freiheiten, ohne sein Bildungsinteresse zu fördern. Duerr entwickelte brillante intellektuelle Fähigkeiten, aber verweigerte sich großbürgerlichem Bildungshabitus. Er zog libertären subkulturell-linkspolitischen Lebensstil vor und sympathisierte mit Anarchismus. Im universitären Bildungsmilieu lag er mit Hochschullehrern ständig in Streit und gefiel sich als Provokateur, Fremdkörper, Sand im Getriebe. Im Fach Ethnologie wollte ihn kein Doktorvater betreuen. Seine Promotionsarbeit und seine Habilitationsschrift wurden zunächst abgelehnt.  
 
Bekannt wurde Duerr mit seiner Habilitationsschrift »Traumzeit« (Über die Grenzen zwischen Wildnis und Zivilisation, Frankfurt am Main 1978), ein äußerst spannendes, aber auch sperriges Werk mit 148 bebilderten Seiten Text und 183 eng in kleiner Schriftgröße bedruckten Seiten Anmerkungen, das 1978 zunächst im linken Syndikat Verlag erschien und seit 1985 vom Suhrkamp Verlag verlegt wird. Trotz Sperrigkeit erreichte »Traumzeit« in kurzer Zeit eine Auflage von mehr als 150.000 Exemplaren. Laut einer von Louis Widmer zitierten Veröffentlichung gab im deutschsprachigen Raum innerhalb von 5 Jahren ca. 170 Besprechungen des Buchs. Reinhold Messner soll das Buch 1979 in seinem Rucksack zusammen mit Werken von Platon und Tolstoi auf den K2 getragen haben. 
 
Louis Widmer ist Doktorand am Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft der Universität Zürich. Im Beitrag Grenzgänger des Wissens der Zeitschrift Zeithistorische Forschungen, Heft 1/2024-2025, S. 167–178, befasst sich Louis Widmer mit der Historizität und Aktualität von Hans Peter Duerrs »Traumzeit« (1978). Der Erfolg von Duerss »Traumzeit« resultierte aus einem zeitgeschichtlichen Trend, den das Buch bediente. Nachdem Utopien der 1968-Generation nicht in Erfüllung gegangen waren, verbreitete sich inner- und außerhalb von Universitäten eine Rationalismus- und Modernisierungskritik, die mit alternativen Wissenschaftstheorien und Lebensentwürfen und verstärktem Interesse an indigenen Kulturen einherging, mit dem sich ein Psycho- und Esoterikboom ausbreitete. Duerr identifizierte sich nicht mit diesem Trend, sondern machte sich im Gegenteil über ihn lustig. 
 
Im erkenntnistheoretisches Interesse setzte sich Duerr ernsthaft mit dem Wissenschaftsbetrieb auseinander und vertrat die „These, dass die Grenze zwischen Natur und Kultur, »Wildnis« und »Zivilisation« auf dem Weg zur Moderne immer schärfer gezogen und das Überwinden des Zauns gesellschaftlich zunehmend sanktioniert worden sei, sodass »sich die Hecke, auf der einst die hagazussa [Althochdeutsch für Hexe] hockte, zu einer Mauer verfestigt hatte, die mit der Grenze der Wirklichkeit zusammenfiel«.“ (Widmer, a.a.O., S. 173) Weil es Duerr im Kern um Überwindung des von analytischer Rationalität gesetzten Zauns geht, zeigt er die Brüchigkeit vermeintlich sicheren Wissens auf und stellt den Objektivitätsanspruch von Wissenschaft der Moderne infrage. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, mit Elias’ Deutungsanspruch nicht anfreunden kann.
 
Der Erfolg von »Traumzeit« verstärkte Duerrs Außenseitertum. Im Interview gibt Duerr preis, dass er mit »Traumzeit« in Zürich in Ethnologie habilitieren wollte. Im Kontext von »Traumzeit« hatte er mit halluzinogenen Drogen experimentiert. Zürich lehnte ihn ab, weil man keine „Drogensüchtigen“ habilitieren könne. Anschließend lehnte ihn Bern mit der Begründung ab, dass er Anarchist sei und Bücher mit nackten Frauen auf dem Cover veröffentliche, was auf eine Sexualneurose hinweise. Offenbar wolle er nur Professor werden, um sich an Studentinnen heranzumachen. Schließlich habilitierte Duerr in Kassel in Philosophie. 
 
Duerr hatte bereits eine wissenschaftliche Karriere an einer Universitäten bereits abgeschrieben, als er mit Glück und durch Zufälle 1992 einen Ruf auf einen Lehrstuhl für Ethnologie der Universität Bremen erhielt. In Bremen traten neue Querelen auf. U.a. leiteten Frauenbeauftragte ein Disziplinarverfahren gegen ihn wegen Sexismus und Frauenfeindlichkeit ein, nachdem er im Vorlesungsverzeichnis in einem Kommentar zu einer Lehrveranstaltung das Wort „Brüste“ benutzt hatte. „Brüste“ galt als obszön und als Indiz für „Frauenfeindlichkeit“. 1998 wurde Duerr vorzeitig mit reduzierten Bezügen in den Ruhestand geschickt. Rückblickend erklärt Duerr selbstkritisch im Interview, dass er zu aufmüpfig und zu wenig demütig war:
 
Eigentlich hätte ich es gern gesehen, wenn ich anständiger gewesen wäre. Im Nachhinein betrachtet bin ich in vielem doch recht egozentrisch gewesen und irgendwie hätte ich mir eine sozialere Einstellung gewünscht. Ich meine, ich bin zwar kein Karrierist, doch immer nur so selbstüberzeugt und unbeirrt meinen Weg zu gehen, das war nicht nur positiv. (S. 10)
 
 
3 Pierre Bourdieu, französischer Soziologe (1930-2002)
 
Biografien und Werke von Norbert Elias und Hans Peter Duerr bestätigen Pierre Bourdieu. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu gilt als einer der einflussreichsten, wenn nicht gar als der bedeutendste Soziologe des 20. Jahrhunderts. Einflüsse von Pierre Bourdieu strahlen auf zahlreiche geisteswissenschaftliche Disziplinen sowie generell auf Kultur und Politik der Gegenwart aus. Bourdieu erklärt komplex verflochtene gesellschaftliche Macht mit Kapitalausstattungen und Habitus, die nicht nur prägend auf Sozialisation, Lebensumgebungen, Lebensläufe einwirken, d.h. Einfluss auf Biografien und Karrieren nehmen, sondern auch Abweichungen als mangelhafte Anpassungsfähigkeit bewerten und vermisste Anpassungsbereitschaft abstrafen.
 
Obwohl Pierre Bourdieu aus einfachen sozialen Verhältnissen aufgestiegen ist, politisch eher dem linken Lager zuzurechnen ist und Klassengesellschaft für ihn eine soziale Realität darstellt, verpflichtet sich Bourdieu in seiner Arbeit als Wissenschaftler und in seinen wissenschaftlichen Werken den Anforderungen wissenschaftlicher Redlichkeit und Objektivität. Selbstverständlich sind Wissenschaftler keine neutralen Wesen, sondern unterliegen Einflüssen ihrer Lebensumgebung und ihrer Sozialisation und entwickeln ethische Vorstellungen, die sie als Meinungen und Verhalten ausprägen. Wissenschaft fordert von Wissenschaftlern ein Rollenverständnis mit der Haltung unparteilicher Beobachtung, Analyse, Beschreibung. Dieses Verständnis von Wissenschaftlichkeit verurteilen Vertreter von Positionen des dialektischen Materialismus als Ideolgie eines scheinobjektiven szientistischen Positivismus und postulieren das eigene Verständnis als die allein mögliche Annäherung an ein kritisch-wissenschaftliches Verständnis der Realität.
 
Bourdieu war keineswegs angepasst. Soziale und politische Probleme hat er schonungslos analysiert, aber seine theoretischen Erklärungen konfrontierte er mit empirischen Daten, die seinen Aussagen Gewicht verliehen. Bourdieu übernimmt strukturalistische Annahmen, gemäß der Strukturen sozialer Systeme Einfluss auf Denken und Verhalten sozialer Akteure nehmen, aber wie Elias sieht er soziale Akteure nicht als passive Objekte, sondern als handelnde Akteure und versteht Konzepte von Habitus, Feld, Kapital als Schnittstellen zwischen Strukturen sozialer Systeme und Handlungen von Akteuren. In seinen Arbeiten weist Bourdieu Asymmetrien von Machtverteilungen, Klassenkonflikte und Mechanismen der Internalisierung empirisch nach. Asymmetrien fasst er wie Elias nicht als kulturelle Universalien auf, sondern als sich in sozialen Prozessen unter spezifischen Bedingungen ausprägende Effekte von Machtverteilung.
 
Zwischen Denkweisen von Pierre Bourdieu und Norbert Elias und Werken bestehen nicht zu übersehende Gemeinsamkeit und bestanden darüber hinaus zu ihren Lebzeiten persönliche Verbindungen. Bourdieus Denkweise und sein Arbeiten basieren und profitieren maßgeblich von Elias’ Vorarbeit. Daraus hat Bourdieu nie ein Geheimnis gemacht und im Gegenteil die Rezeption der Werke von Norbert Elias in Frankreich maßgeblich gefördert. Bourdieu zitierte Elias in Vorträgen und Publikationen, publizierte Beiträge von Elias in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift und lud Elias zu Vorträgen ein. Umgekehrt lud ihn Elias zu Symposien an das Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) der Universität Bielefeld ein, an dem Norbert Elias1978 bis 1984 tätig war. 

Verbindungen zwischen Pierre Bourdieu und Norbert Elias beruhen nicht allein auf gegenseitiger Wertschätzung und auf Gemeinsamkeiten ihrer wissenschaftlichen Arbeiten, sondern auch auf Gemeinsamkeiten von Außenseitertum und aktiven Kriegseinsätzen in ihren persönlichen Biografien, von denen beide annahmen, dass aus ihnen ähnliche Sichten auf die Realität resultieren und sich in ähnlichen Begriffen, Konzepten, Methoden manifestieren. Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Pierre Bourdieu und Norbert Elias beschreibt Inken Hasselbusch in ihrer 2014 veröffentlichten Dissertation: Norbert Elias und Pierre Bourdieu im Vergleich. Eine Untersuchung zu Theorieentwicklung, Begrifflichkeit und Rezeption. In Kapitel 4 (Seiten 244-270) ihrer Dissertation geht die Autorin auf einen umfangreichen persönlichen Briefwechsel ein, den Bourdieu und Elias von 1976 bis zu Elias’ Tod im Jahr 1990 führten. 

Sowohl Bourdieu als auch Elias dehnen ihre Arbeiten über disziplinäre Grenzen des Fachs Soziologie hinaus auf Perspektiven von Kulturwissenschaft und Philosophie aus. Beide erklären Einflüsse auf Lebensstile und Denkweisen mit ähnlichen Konzepten, aber z.T. unterschiedlichen Begriffen, von Kapitalausstattung, Machtstrukturen, Habitus und Distinktion. Besonders deutlich werden Gemeinsamkeiten im Habituskonzept. Allerdings definiert Bourdieu Habitus enger als Elias. Bourdieu versteht Habitus [...] als Steuermechanismen für geistige Einstellungen und Gewohnheiten [...] (zum Beispiel Kunst- oder Musikgeschmack) und verwendet für körperliche Dimension (zum Beispiel Gestik, Mimik, Körperhaltung, Wahl der Sportart) den Begriff Hexis. (Zitate Wikipedia: Habitus (Soziologie))
 
Elias und Bourdieu lehnen Vorstellungen von Individuum und Gesellschaft als Dichotomie ab und […] beschreiben im Konzept des Habitus die psychosoziale Entwicklung von Menschen als ein wechselseitiges Formen und Geformt-Werden, das keiner weiteren Theorien und Konzepte mehr bedarf. Beide verstehen Habitus als ein System verinnerlichter Muster, [das] eine Auswahl von kulturtypischen und klassenspezifischen Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen [erzeugt], die den Individuen als ihre eigenen erscheinen, die sie jedoch mit den anderen Mitgliedern ihrer jeweiligen Klasse teilen. (Zitate Wikipedia: Habitus (Soziologie)

Einen Überblick zu Pierre Bourdieus Persönlichkeit und seiner wissenschaftlichen Arbeit beschreibt der Post Pierre Bourdieu, Habitus und Doxa - Machteliten und Machtstrukturen.
 
 
Änderungshistorie
09.09.2025  Ergänzungen Vorwort, Änderung Überschrift und Einleitung 
07.09.2025  Ergänzungen Vorwort
03.09.2025  Überarbeitung Vorwort
02.09.2025  Untergliederung Kapitel 2, Ergänzungen zu Hans Peter Duerr, Ergänzungen Kapitel 3
01.09.2025  Korrekturen 
31.08.2025  Änderung des Titels, Ergänzung Kapitel 3 zu "Fortschritt"
29.08.2025  Ergäzungen Kapitel 3 und Korekturen 
28.08.2025  Online-Veröffentlichung 

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