Freitag, 20. März 2020

Architektur von Erinnerung, Wissen, Wahrheit - interdisziplinär betrachtet (Update 02.2022)

 „Wir sind nicht der Herr oder die Herrin unserer neuronalen Prozesse, aber wie wir leben, was wir tun, das wirkt sich auf unsere neuronalen Strukturen aus.“ Dieter Sturma, Philosoph

ITU Pictures: Logo of AI for Good 2018 (CC BY 2.0 DE)
Übersicht kognitiver Verzerrungen
Category model by Buster Benson (CC BY-SA 4.0)
1 Wissen, Wahrheit, Erinnerung
Aktueller und verwandte Artikel sind aufgrund der Beschäftigung mit der eigenen Biographie und ihrer Familie entstanden.(1) Biographie verdichtet Persönlichkeit und Welterfahrungen zu Narrativen. Persönlichkeit bildet sich als Kondensat von Welterfahrung zwischen Interaktionsprozessen der Mikroebene und sozialen Strukturen Makroebene heraus. Mit der Deutung individueller Erfahrungen im Licht unbewusster kollektiver Auffassungen von Realität entsteht Bewusstsein von Individualität eigener Persönlichkeit.
Dieser Post schaut nicht auf individuelle Ausprägungen von Persönlichkeit, sondern er thematisiert generelle Strukturen und Prozesse der Mikroebene, die als Wahrnehmung, Bewusstsein und Persönlichkeit aufgefasst werden.(2) Mit dem Fokus auf Erinnerungen fragt der Post nach kognitiven und sozialen Bedingungen der Entstehung von Biographien und darüber hinaus nach grundsätzlichen Bedingungen der Erkennbarkeit von Welt. Da sich das Themenfeld Erinnerungen mit angrenzenden Themenfeldern überschneidet, ist zunächst zu klären, wie Wissen, Wahrheit, Erinnerung sich aufeinander beziehen, voneinander unterscheiden und gegeneinander abgrenzen.

Der Post-Titel ist inspiriert von Sigrid Sirgudssons Installation Die Architektur der Erinnerung, Osthaus Museum im Kunstquartier Hagen.


Inhaltsübersicht
1          Wissen, Wahrheit, Erinnerung
1.1       Was ist Wissen?
1.2       Was ist Wahrheit?
1.3       Was sind Erinnerungen, was unterscheidet sie von Ereignissen und Erlebnissen?
1.4       Differenzierung Gedächtnis und Eingrenzung des Themenfeldes
2          Wahrnehmung und Informationsverarbeitung 
2.1       Informationskanäle und Informationsspeicherung
2.2       Sinnesorgane, Grenzen von Wahrnehmung und Weltverständnis 
2.2.1    Beiträge der Biologie
2.2.2    Beiträge der Physik
2.2.3.   Beiträge der Soziologie
2.2.3.1 Thomas-Theorem
2.2.3.2 Wissenschaftlicher Fortschritt
2.2.3.3 Sozialkonstruktivismus

2.2.3.4 Kulturrelativismus
2.4       Automatismen
2.5       Kognitionen
3          Mentale Strukturen
3.1       Bewusste (explizite) Kognitionen

3.2       Unbewusste (implizite) Kognitionen 

3.2.1    Schemata
3.2.2    Priming (Bahnung)
3.2.3    Mere-Exposure-Effekt (Kontakt-Effekt)
3.2.4    Propinquity-Effekt (Nähe-Effekt)
3.2.5    Prozedurales Gedächtnis 
3.3       Meme
3.4       Intelligenz, Bewusstsein, Intentionalität
3.5       Individualität von Lebensbedingungen und Dynamik mentaler Strukturen
4          Jüngere neurowissenschaftliche Forschungsergebnisse
4.2       Gehirn als neuronales Netz
4.3       Neuronale Plastizität
4.3.1    Synaptische Plastizität
4.3.2    Kortikale Plastizität
5          Individualismus, Identität und Persönlichkeit
5.1       Variabilität biologischer Identität
5.2       Variabilität psychischer Identität 
5.2.1    Prozesse der Ausdifferenzierung von Sozialsystemen verändern das soziale Leben  
5.2.2    Prozesse der Ausdifferenzierung von Sozialsystemen und beschleunigter sozialer Wandel prägen generelle Dispositionen
5.3       Plastizität, Individualität, Unsicherheit von Wahrnehmung und Erinnerung
5.3.2    Wahrnehmungstäuschungen
5.3.3    Erinnerungstäuschungen
5.4       Dürfen wir in Anbetracht von Unsicherheiten eigenen Erinnerungen vertrauen?
 

1.1 Was ist Wissen?
Als Wissen wird ein „(…) verfügbarer Bestand von Fakten, Theorien und Regeln verstanden, die sich durch den höchstmöglichen Grad an Gewissheit auszeichnen, so dass von ihrer Gültigkeit bzw. Wahrheit ausgegangen wird.“(3)

Bereits die griechische Antike diskutierte Definitionen von Wissen. In der Gegenwart besteht weitgehend Konsens, dass vollständiges, exaktes Wissen aufgrund Grenzen menschlicher Erkenntnisfähigkeit nicht erreichbar ist. Versuche einer exakten Definition von Wissen sind mittlerweile aufgegeben. Wissen gilt als alltagssprachlicher Begriff ohne scharfe Grenzen. Als Wissen deklarierte Beschreibungen können wahr oder falsch, vollständig oder unvollständig sein.

„Wissen umfasst eine große Anzahl verschiedenartiger Phänomene“ und „kann mit unterschiedlichen Graden der Gewissheit einhergehen sowie unterschiedlich erworben, gerechtfertigt und präsentiert werden oder auf verschiedene Weisen verfügbar sein.“ (4)


1.2 Was ist Wahrheit?
Alltagssprachlich gilt eine korrekte Wiedergabe von Sachverhalten als Wahrheit und eine absichtliche Falschaussage als Lüge. Unbeabsichtigte Falschaussagen werden als Irrtum bezeichnet. Eine Aussage wird als korrekt, wahr, richtig aufgefasst, wenn sie mit kollektiven oder eigenen Überzeugungen übereinstimmt und die Gültigkeit von Überzeugungen frei von Zweifeln ist. Historisch belegen zahlreiche Beispiele, dass als wahr angenommene gültige Überzeugungen auf Irrtümern beruhen und falsch sind (z.B. Scheibenmodell der Erde, geozentrisches Weltbild, Sphärenmodell des Universums etc.) und darum als Glaube (Fürwahrhalten) einzuordnen sind.

Religionen postulieren absolute Wahrheiten in Form verkündeter göttlicher Gesetze oder göttlicher Offenbarungen (Dogmen). Absolute religiöse Wahrheiten sind immun gegenüber Kritik und kritischer Überprüfung. Wer absolute Wahrheiten missachtet, gilt als Ketzer oder Ungläubiger und hatte bis zur Aufklärung in westlichen Kulturen sein Recht auf Leben verwirkt. Giordano Bruno, der die Unendlichkeit des Weltraums und die ewige Dauer des Universums vertrat, wurde 1600 in Rom als Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Erst 400 Jahre später erklärte Papst Johannes Paul II. im Jahr 2000 die Hinrichtung aus kirchlicher Sicht als Unrecht. Islamischer Fundamentalismus rechtfertigt mit der gleichen Logik terroristische Aktionen der Gegenwart.

In der Wissenschaft wird Wahrheit als Ziel jeder Erkenntnis verstanden. Die Definition von Wahrheit ist eine zentrale Frage von Philosophie und Logik, zu der unterschiedliche und gegensätzliche Antworten sowie logische und skeptische Einwände seit der Antike diskutiert werden. Ob außerhalb sinnlicher Erfahrung objektive Wahrheiten existieren, ist ebenfalls eine seit der Antike diskutierte philosophische Streitfrage, die in der Gegenwart als nicht abschließend entscheidbar ad acta gelegt ist und darum hier ignoriert werden kann.

In der Gegenwart besteht weitgehend Konsens, dass wissenschaftliche Aussagen Unsicherheiten beinhalten, weshalb absolute Wahrheit nur für numerische Sachverhalte gelingt (z.B. für mathematische Operationen oder Mengenangaben) und darüber hinaus nur relative Wahrheit möglich ist. In Experimenten naturwissenschaftlicher und technischer Disziplinen gilt die Genauigkeit wiederholbarer Messungen als Wahrheitskriterium. In Sozial- und Geisteswissenschaften sind Messungen nicht vollständig vom Beobachtereinfluss zu trennen. Darum ersetzen diese Disziplinen Ansprüche auf Wahrheit durch Wahrscheinlichkeiten. 



1.3 Was sind Erinnerungen, was unterscheidet sie von Ereignissen und Erlebnissen?
Erinnerungen sind kontextabhängige Rekonstruktionen im Gedächtnis gespeicherter Aufzeichnungen von Erlebnissen in Zeit und Raum. Erlebnisse sind autobiografischer Art oder es handelt sich um markante Ereignisse, an die man sich erinnert. Für Wahrnehmung prinzipiell zugängliche Ereignisse, Vorgänge, Prozesse finden permanent in unendlicher Anzahl statt. Erst wenn beteiligte Personen Ereignisse mit wertenden Emotionen und Annahmen über kausale Beziehungen verknüpfen, transformieren Emotionen und Deutungen Ereignisse zu bewusst wahrgenommenen Erlebnissen. Ereignisse unterscheidet daher von Erlebnissen, dass letztere zusätzlich mit emotional angereicherten und Sinn konstituierenden Deutungen geladen sind.

Die meisten persönlichen Erlebnisse verblassen schnell. Als erinnerungswürdig sind im bewusst zugänglichen Langzeitgedächtnis solche Erlebnisse archiviert, die Betroffene mit stark wertenden Emotionen verbinden. Die Intensität von Emotionen bestimmt die Stärke von Erinnerungen. Bei mündlicher oder schriftlicher Weitergabe eigener Erinnerungen an Dritte entstehen autobiografische Erzählungen (Narrative).

Erinnerungen von Menschen gelten als persönlicher Wissensvorrat. Alltagsdenken unterscheidet nicht zwischen Wissen und Wahrheit. Wenn sich eine Person erinnert, weiß sie, was sie erlebt hat und hält das eigene Erleben für unstrittig wahr. Formulierungen dieser Aussagen erfordern keine Kenntnisse über mentale Zustände oder Prozesse. Wissenschaftlich betrachtet gilt die Kausalität von Alltagslogik jedoch als unsicher. Wahrnehmung ist beeinflusst von prinzipiellen Grenzen und Verzerrungen, von kulturell vermittelten Weltverständnissen sowie von individuellen Lernprozessen und Werthaltungen. Erst der unbewusst wirkende Einfluss dieser Faktoren auf Wahrnehmung bzw. auf bewusst und als real erlebte Befindlichkeiten und Ereignisse konstituiert interpretativ-sinnstiftende Bedeutungen von Weltzuständen.

Zuvor angesprochene Sachverhalte besagen, dass Wahrnehmung unscharf ist. Darum können Zustände und Ereignisse der Welt von unterschiedlichen Personen individuell unterschiedlich wahrgenommen, bewertet und erinnert werden.  



1.4 Differenzierung Gedächtnis und Eingrenzung des Themenfeldes(4)

Thomas G. Graf [CC BY-SA 2.0 de], via Wikimedia Commons
Die Psychologie unterscheidet zwischen Kurzeit- und Langzeitgedächtnis. Das Kurzzeitgedächtnis bleibt in diesem Artikel ausgeblendet. Das Langzeitgedächtnis gliedert sich gemäß verbreiteter Vorstellungen in
  • prozedurales (implizites) Gedächtnis, das durch implizites Lernen erworbene Fähigkeiten speichert (z.B. motorische Bewegungsabläufe),
  • mit bewusster Erinnerung einhergehendes und in Sprache erklärbares deklaratives Gedächtnis, das Informationen durch explizites Lernen aneignet und dessen Inhalte im Unterschied zu prozeduralem Wissen über eine vergleichsweise hohe Formbarkeit verfügen.
Das deklarative Gedächtnis setzt sich zusammen aus

Dieser Artikel betrachtet vor allem das autobiografische Gedächtnis und Basics von Gedächtnisarbeit.

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  1. Das Projekt ist aktuell ein ‚Work in Progress‘. Ergebnisse des Projektes sind online in einem Blog dokumentiert: Grabe, wo du stehst - eine deutsche Familiengeschichte im 20./21. Jahrhundert 
  2. Ergänzende, auf der Makroebene zu verortende Themen, betrachten die Posts:
  3. Wikipedia: Wissen 
  4. DasGehirn.info: Formen des Gedächtnisses

 
 
2 Wahrnehmung und Informationsverarbeitung
Was exakt im Gehirn passiert, wissen wir nicht.(1) Mehr wissen wir über Wahrnehmung von Informationen (Informationsgewinnung), Informationsverarbeitung (Perzeption) sowie Bewusstwerdung und Umgestaltung von Informationen in Prozessen der Verarbeitung (Kognition).



2.1 Informationskanäle und Informationsspeicherung
Wir wissen, dass wahrgenommene Informationen das Gehirn je nach Situationskontext und Informationstyp auf unterschiedlichen Informationskanälen erreichen und in unterschiedlichen Regionen des Gehirns verarbeitet und gespeichert werden. Abstrakte Informationen, wie Inhalte von Kommunikation, empfängt das Gehirn auf anderen Kanälen als optische und akustische Signale, Geschmacks- und Geruchsbilder, Hautreize, Schmerzen, drohende Gefahren etc.. 
I.d.R. sind mehrere Regionen des Gehirns an der Verarbeitung von Informationen beteiligt. Scharfe 1:1-Abgrenzungen zwischen Typ der Information und Art der Verarbeitung sind eher nicht möglich.


2.2 Sinnesorgane, Grenzen von Wahrnehmung und Weltverständnis

2.2.1 Beiträge der Biologie
Physikalische und anatomische Beschaffenheiten von Sinnesorganen bewirken Selektionen wahrnehmbarer Umweltreize und deren artspezifische Verarbeitung. Beispielsweise gilt für das Sehen, dass Sehfelder, Sehschärfe, Kontrastempfindlichkeit, Lichtempfindlichkeit, Tiefenwahrnehmung, Farbsehen und Bewegungssehen bei biologischen Arten unterschiedlich ausgeprägt sind. Ähnliches gilt für andere Sinne. Darüber hinaus verfügen Menschen im Unterschied zu einigen Tierarten über keine Sinnesorgane für die Ortung elektrischer und magnetischer Felder sowie für die Wahrnehmung von polarisiertem Licht, Infrarotstrahlung, feinen Schwingungen.

Im evolutionären Prozess entwickeln sich mit der Lebensweise von Arten Fähigkeiten, die für das Überleben einer Art nützlich sind. Offensichtlich übt die Art des Austausch von Individuen biologischer Arten mit ihrer Umwelt maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung funktionaler Organe und deren Fähigkeiten aus. Als ‚Generalisten‘ verfügen Menschen über ein breites Spektrum an Fähigkeiten, jedoch nicht über alle von der Natur ‚erfundenen‘ Fähigkeiten. Außerdem sind menschliche Fähigkeiten längst nicht immer Fähigkeiten anderer Arten überlegen. Die Natur bestimmt, was wir von der Welt wahrnehmen und wie wir die Welt wahrnehmen.

Sinnesorgane gleichen geschlossenen Fenstern, durch deren mehr oder weniger transparente Glasscheiben wir in die Welt schauen und die gleichzeitig unser Sehfeld begrenzen. Scheiben des Fensters filtern und verzerren die Wahrnehmung. Welche Fenster einer biologischen Art zur Verfügung stehen, wie leistungsfähig diese Fenster sind, welche Informationen sie passieren lassen oder filtern, bzw. welche Teile von Welt sie der Wahrnehmung zugänglich machen, variiert artspezifisch. Die Wahrnehmbarkeit von Welt ist eine Funktion der Nützlichkeit für das Überleben und die Reproduktion biologischer Arten.


2.2.2 Beiträge der Physik
Äußere Grenzen des Großen und des Kleinen der wahrnehmbaren Welt entziehen sich jeder sinnlichen Erfahrung und gedanklicher Vorstellung. Diese nur noch mit abstrakten Theorien und mathematischen Modellen zu deutenden Randbereiche machen die Beschränkung menschlicher Wahrnehmungsfunktionen auf Dimensionen menschlicher Lebensräume offensichtlich.

  • Die Allgemeine Relativitätstheorie vermittelt, dass menschliche Vorstellungen eines absoluten Raums und absoluter Zeit auf Täuschungen beruhen. Tatsächlich sind Raum und Zeit relative Größen, die sich in Wechselwirkungen gegenseitig beeinflussen. Wechselwirkungen zwischen Raum und Zeit werden als Raumzeitkrümmung bezeichnet. Für praktische Anwendungsfälle in menschlichen Lebensräumen kann die Raumzeitkrümmung vernachlässigt werden, weil die Krümmung der Raumzeit in irdischen Dimensionen so gering ist, dass sie zwar messbar, aber für sinnliche Wahrnehmung nicht erfassbar ist. 
  • In kosmologischen Dimensionen beschreibt die Allgemeine Relativitätstheorie den Aufbau des Universums im Großen. Die Allgemeine Relativitätstheorie prognostiziert u.a. die Existenz sog. Schwarzer Löcher, die längst nachgewiesen sind. Diese extrem kompakten Massen kollabierter Sterne, die im Zentrum von Galaxien zu Monstern wachsen, krümmen die Raumzeit so stark, dass aus ihnen kein Licht bzw. keine Materie entkommt. Darum lassen sich Schwarze Löcher nicht direkt beobachten, aber sie lassen sich durch indirekte Methoden nachweisen und bestätigen damit Vorhersagen.
  • In der Gegenrichtung beschreibt die Quantentheorie Wechselwirkungen zwischen kleinsten Teilchen. Gemäß Quantentheorie besteht die Welt nicht aus Teilchen und Feldern, sondern aus Quantenfeldern, in denen Ereignisse in der Raumzeit stattfinden. Die Quantentheorie besagt, dass Ereignisse der Natur nicht kausaler Art sind, sondern auf Wechselwirkungen (Relationen und Interaktionen) beruhen. Quantenereignisse verweisen auf einen gedanklich schwer nachvollziehbaren Indeterminismus der Welt. Sie sind nämlich probabilistischer Art, d.h. nicht mit Sicherheit, sondern nur mit Wahrscheinlichkeit vorhersagbar. 
  • Wissenschaftler sind sich einig, dass Naturgesetze kohärent sein müssen. Die Allgemeine Relativitätstheorie und die Quantentheorie widersprechen sich jedoch teilweise, d.h. sie sind nicht miteinander vereinbar und beschreiben daher wahrscheinlich nicht die tatsächliche Realität. Demnach sind die Allgemeine Relativitätstheorie und die Quantentheorie vermutlich falsch oder zumindest unvollständig. So ist z.B. die auf Basis der Allgemeinen Relativitätstheorie postulierte ursprüngliche Singularität des Urknalls gemäß Quantentheorie nicht möglich.(2) Die physikalischen Großtheorien befinden sich in Krisen.(3) 
  • Aussicht auf Auflösung bestehender Widersprüche durch eine gemeinsame Theorie oder durch Ergänzung von Missing Links (die Thermodynamik ist ein Kandidat) wird von einer Theorie der Quantengravitation erwartet, die Zeit und Raum eliminiert.(4)
Simuliertes Gravitationswellen-Ereignis: 2 verschmelzende
Schwarze Löcher versetzen die Raumzeit in Schwingungen
© Werner Benger/ Albert-Einstein-Institut, CC-by-sa 2.0
Higgs-Boson zerfällt in vier Myonen
ESO Supernova Image (CC BY 4.0)




Wie die Realität ausschaut und zu verstehen ist, bleibt unsicher, obwohl Grundlagenforschung der Physik mit riesigem Aufwand (aus Steuermitteln) betrieben wird. Was Detektoren von Gravitationswellen tatsächlich detektieren und wie Signale zu deuten sind, ist nicht nachvollziehbar und bleibt daher unklar. Nachweise des Higgs-Bosons und kritisch bewertete vermeintliche Nachweise von Gravitationswellen sind die einzigen nennenswerten Erfolge der letzten Jahrzehnte. Große Anstrengungen zum Nachweis von Antimaterie, Dunkler Materie und Supersymmetrie blieben bisher erfolglos.(5,6) Mehrere Mechanismen tragen zur Maskierung dieser Sachverhalte bei: Nobelpreise, kollaborative soziale Prozesse, Bedingungen wissenschaftlicher Karrierewege und der Vergabe von Forschungsmitteln sowie unkritische Veröffentlichungen in Medien.(7)

Vorstellungen von Raum und Zeit des Alltagsdenkens vermögen Annahmen und Theoriediskussionen von Allgemeiner Relativitätstheorie, Quantentheorie und Quantengravitation nicht oder nur rudimentär nachzuvollziehen. Da sich die beiden großen physikalischen Theorien in den vergangenen Jahrzehnten in der Praxis jedoch als leistungsfähig erwiesen haben, müssen wir sie ernst nehmen und akzeptieren, dass nur enge wissenschaftliche Kreise ein tieferes Verständnis dieser Theorien entwickeln und der Horizont des Alltagsdenkens beschränkt ist.

Evolutionär erworbene menschliche Fähigkeiten der Beobachtung funktionieren in menschlichen Lebensumgebungen. Sie sind jedoch zu grob, um auch an den Rändern der wahrnehmbaren Welt zu funktionieren und vermitteln aufgrund ihrer Unschärfe die Illusion eines Raum-Zeit-Kontinuum, das jedoch tatsächlich nicht existiert. Prinzipiell benötigt die Menschheit kein physikalisches Detailverständnis von den Rändern der Welt für eine erfolgreiche praktische Lebensbewältigung. Allerdings sind für das soziale Zusammenleben von Menschen Einsichten relevant, die bewusst machen, dass Menschen äußerst wenig über die Realität der Natur wissen und dass menschliche Wahrnehmung der Welt auf nützlichen Illusionen sowie auf Bildern beruht, die wir aufgrund von Illusionen imaginieren (Ist das Verrinnen der Zeit eine Illusion?). Diese Einsichten machen Naivität und Dummheit von Hybris und Arroganz sichtbar wie des Kaisers neue Kleider. Gleichzeitig verhelfen die Einsichten zu Demut und Bescheidenheit, mit der das Zusammenleben von Menschen einfacher würde.


2.2.3. Beiträge der Soziologie

2.2.3.1 Thomas-Theorem
In einer Veröffentlichung über Kindersoziologie (The Child in America) formulierten William Isaac Thomas (1863–1947) und Dorothy Swaine Thomas (1899–1977) 1928 eine sozialpsychologische These, die als Thomas-Theorem in der Soziologie axiomatische Bedeutung hat: 
  • If men define situations as real, they are real in their consequences.
    Wenn Menschen Situationen als wirklich definieren, sind sie in ihren Konsequenzen wirklich.
Scheinbar unverständliches, falsches, pathologisches oder irrationales Verhalten von Menschen wird verständlich, wenn nachvollziehbar ist, wie der Handelnde die Situation wahrnimmt und beurteilt, auf die sich sein Verhalten bezieht. (In der Studie ging es um einen paranoiden Mörder, der sich einbildete, dass Menschen ihn beschimpfen und beleidigen.)

Das Thomas-Theorem deckt Differenzen zwischen objektiver Realität und subjektiver Wirklichkeit auf und schärft Blicke für die Einsicht,
  • dass für die Deutung des Verhaltens von Menschen nicht von Dritten zu beobachtende und als objektiv und vernünftig zu erachtende Fakten relevant sind,
  • dass Verhalten von Menschen maßgeblich davon beeinflusst ist, wie Menschen ihre individuelle Situation, auf die sie ihr Verhalten beziehen, definieren bzw. deuten. 
Diese Einsicht macht verständlich,
  • weshalb soziokulturelle Biotope spezifische Verhaltensweisen hervorbringen, die gemäß Innenwahrnehmung norm- und wertkonform sind, während sie in der Außenbetrachtung als unvernünftig, problematisch oder kriminell gelten,
  • weshalb das Aufeinandertreffen soziokultureller Biotope mit Konflikten einhergeht.   
Welche Situationsdeutung sich bei Konkurrenz bzw. Konflikten als legitim durchsetzt, ist weniger eine Frage der Qualität von Argumenten oder von Überzeugungskraft, als eine von Machtverhältnissen bestimmte Frage der 'Deutungshoheit'.

Das Thomas-Theorem scheint in den 3 nachfolgenden Kapiteln durch.


2.2.3.2 Wissenschaftlicher Fortschritt
Auch im Wissenschaftsbetrieb ist Deutungshoheit über Legitimität von Wissenschaft, Ausrichtung von Forschungsprogrammen und Verwendung von Forschungsmitteln eine Frage der Machtverteilung. Mit mehreren prominenten Beispielen der Wissenschaftsgeschichte zeigt Thomas S. Kuhn (1922-1996) in seinem Hauptwerk The Structure of Scientific Revolutions, 1962 (Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 1967), dass im Wissenschaftsbetrieb nicht allein objektive Qualitätsvergleiche ausschlaggebend sind. Erkenntnis und Fortschritt wissenschaftlicher Art kommen vielmehr mittels sozialer Prozesse auf zwei unterschiedlichen Wegen zustande:
  • Innerhalb dominierender Lehrmeinungen und Wissenschaftsprogramme (Paradigmen) entfaltet sich kontinuierlicher wissenschaftlicher Fortschritt per sozialer Mechanismen der Professionalisierung. Als Stand des Wissens geltende Paradigmen haben einen hohen Verbindlichkeitsgrad und sind ähnlich wie Dogmen gegen Kritik von außen immun. Mit Paradigmen nicht vereinbare Erkenntnisse werden unterdrückt bzw. als Irrtümer oder Unsinn abgelehnt, sofern sie Gehör finden. 
  • Erst wenn Wissenschaftsprogramme aufgrund zunehmender Anomalien in Krisen geraten, gewinnen konkurrierende Programme Anhänger. Sie setzen sich aber nicht allein aufgrund objektiver Qualitätskriterien durch, sondern erhalten zusätzliches Gewicht durch Bündelung von Community-Interessen wissenschaftlicher Aufsteiger. Diese verdrängen bislang vorherrschende Lehrmeinungen 'revolutionär' und besetzen frei gewordene Plätze verdrängter Paradigmen, bis sie selbst von der nächsten wissenschaftlichen Revolution abgelöst werden. 

Während Kuhns Arbeit unter Wissenschaftlern heftige Diskussionen auslöste, aber inzwischen Konsens ist, blieb Ludwik Fleck (1896-1961) mit seinem philosophischen Hauptwerk Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, in dem er Erkenntnis als 'soziales Phänomen' bezeichnete, mehrere Jahrzehnte nahezu unbeachtet. Kuhn bemerkte jedoch, dass viele seiner Gedanken bereits von Fleck formuliert waren und erwähnte Fleck im Vorwort des eigenen Hauptwerks. Damit stieß Kuhn eine Rezeption Flecks an, die nach 1980 einsetzte. In der Gegenwart gilt Flecks Werk als Klassiker der Wissenschaftsgeschichte, -soziologie und -theorie.

Vor Ludwik Fleck machte bereits Ignaz Semmelweis (1818-1865) als Chirurg die Erfahrung, dass seine lebensrettenden Erkenntnisse zu Hygienemaßnahmen von Kollegen als spekulativer Unfug abgelehnt wurden. Viele Ärzte hielten Sauberkeit für unnötig und wollten nicht wahrhaben, dass sie mit ihrer mangelnden Hygiene Krankheiten mit hohen Todestaten verursachten, während Semmelweis Erkrankungen und Todesraten dank Hygiene signifikant reduzieren konnte. Kollegen feindeten Semmelweis an und bezeichneten ihn als Nestbeschmutzer. Der Sachverhalt, dass neue wissenschaftliche Entdeckungen von Vertretern verbreiteter Lehrmeinungen ohne Überprüfung erst einmal abgelehnt und Entdecker bekämpft werden, wird Semmelweis-Reflex genannt.

2.2.3.3 Sozialkonstruktivismus
(8,9)
Die Theorie des Sozialkonstruktivismus etablierten die Soziologen Peter L. Berger (1929-2017) und Thomas Luckmann (1927-2016) mit ihrem 1966 erschienenen Buch Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Berger und Luckmann beschäftigen sich in der Tradition der Wissenssoziologie mit der Frage, wie Alltagswissen zustande kommt. Sie reklamierten, dass die klassische Wissenssoziologie die Realität der Alltagswelt nicht erfasse. Das Bewusstsein alltäglicher Menschen bestimme nicht Geistesgeschichte, Wissenschaft, Kunst, Religion, sondern die Realität der Alltagswelt, die subjektiv sinnhaft, funktional, intentional und objektbezogen auf das Hier und Jetzt bezogen sei und durch alltägliche Interaktionen strukturiert werde. Eine Soziologie, die sich mit Wissensbeständen des Alltagswissens befasse, habe die Wirklichkeit der Alltagswelt zum Gegenstand ihrer Analyse zu machen. Diese Soziologie müsse jenes Wissen analysieren, dass das Verhalten von Menschen der Alltagswelt reguliert.

Berger und Luckmann argumentieren, dass gesellschaftliche Ordnung und kultureller Wissensbestand nicht a priori existieren sondern ex post durch menschliche Konstruktionsleistung produziert werden.(10) Der Konstruktionsaspekt betont die Kontingenz sozialer Ordnung, die prinzipiell offen ist, immer auch anders sein kann und zur gleichen Zeit von unterschiedlichen individuellen oder kollektiven Akteuren unterschiedlich wahrgenommen werden kann, ohne dass einer der Akteure die eigene Wahrnehmung als die einzig richtige behaupten kann und ohne dass die Wahrnehmung anderer Akteure mit Sicherheit gedeutet werden kann. Das Nebeneinander von Subwelten macht die Relativität von Welten bewusst.

Sozialkonstruktivismus untersucht als Metatheorie der Soziologie,

  • auf welchen Wegen soziale Phänomene und soziale Wirklichkeit konstruiert werden,
  • wie soziale Wirklichkeit durch Institutionalisierung und Tradierung zum kulturellen Muster wird,
  • wie Prozesse des sozialen Wandels Anpassungen des Verständnisses von Welt bewirken,
  • wie diese Veränderungen individuelle Deutungsmuster und handlungsleitende Motive modifizieren.

Sozialkonstruktivismus deutet Zusammenhänge zwischen sozial konstruierter Realität und individuellen Bewusstseinszuständen nicht als kausale Beziehung, sondern als wechselseitig aufeinander bezogene interdependente Vernetzung. Soziale Konstruktionen der Realität nehmen Einfluss auf das Denken von Menschen und auf ihre Lebensbedingungen. Änderungen von Lebensbedingungen bewirken Anpassungen des Denkens und der Vorstellungen von sozialer Realität, die wiederum modellierenden Einfluss auf Institutionen und Traditionen nehmen.

Höhergradig arbeitsteilig organisierte bzw. differenzierte Gesellschaftsformen entwickeln keine kollektive Identität, sondern nebeneinander existierende soziale Realitäten bzw. Subwelten unterschiedlicher Art mit jeweils eigenen Identitätstypen, die untereinander konkurrieren und in Konflikte geraten können. Jede Subwelt formt eigene spezifische soziale Rollenmuster als Normen und Erwartungshaltungen an rollenkonformes Verhalten. Wenn Akteure sich in verschiedenen Subwelten bewegen, muss ihr Verhalten den jeweils spezifischen Rollenerwartungen gerecht werden, um in fremden Subwelten akzeptiert zu werden.

Rollenkonformes Verhalten ist erlernbar. In der primären Sozialisation prägt jedoch die jeweilige Identität einer Subwelt kognitive Strukturen der individuellen Persönlichkeit. Der Wechsel zwischen Subwelten provoziert auch bei perfektem Rollenverhalten der Akteure Gefühle der Fremdheit, des Andersseins, des Außenseitertums, der inneren Zerrissenheit. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu (1930-2002) stammt aus einfachen sozialen Verhältnissen und bekleidete im französischen Universitätssystem höchste Positionen. Persönliche Erfahrung seines Lebens zwischen und innerhalb verschiedener Subwelten haben ihn zu soziologischen Forschungen motiviert, mit denen er empirisch nachweist, wie sich politische, wirtschaftliche und ideologische Macht über Subwelten verteilt und wie sich Sozialisationserfahrungen im Verhalten von Menschen sowie in deren Lebensgefühlen ausprägt.(11)


2.2.3.4 Kulturrelativismus
Konsequent weitergedacht führt Sozialkonstruktivismus zum Kulturrelativismus, der sich als Gegenmodell zum Absolutheitsanspruch universalistischer politischer und religiöser Doktrin positioniert und nicht unumstritten ist.(12) Der Anspruch auf absolute Gültigkeit von Weltsichten lässt sich nicht mit Hinweisen auf Naivität, Dummheit oder Arroganz schnell abtun, weil er machtpolitische Instrumente bis hin zu Kriegen und Genoziden mobilisiert. Durch vermeintlich universalistische Werte legitimierte Machtkonzentrate vernichten menschliche Leben, bringen labile soziale Gefüge zum Einsturz und provozieren Massenfluchten in Richtung wohlhabenderer und sozial stabilerer Staaten, die ihrerseits mit der Bewältigung der Flüchtlingsströme überfordert sind und mühsam austarierte sensible Balancen verlieren.

Zu den historisch bedeutendsten, mit universalistischen Ideen legitimierten sowie mit machtpolitischen und wirtschaftlichen Interessen verwobenen Sündenfällen zählen zahlreiche Heilige Kriege bzw. Religionskriege (u.a. christliche Kreuzzüge), europäischer Kolonialismus in Afrika, Amerika, Asien, Australien, Faschismus, Nationalsozialismus und sich auf Ideen des Kommunismus berufende Terror- und Gewaltherrschaften. Europäischer Kolonialismus suchte nicht nur die Unterstützung von Missionaren, sondern auch von Anthropologen, mit deren Hilfe die Überlegenheit der weißen Rasse gegenüber farbigen Menschen und der europäischen Kultur im Vergleich zu 'primitiven Kulturen' und zu 'Naturvölkern' vermeintlich wissenschaftlich belegt und ethnozentristische sowie eurozentristische Denkweise legitimiert wurde (White Supremacy).

Der deutschstämmige US-amerikanische Kultur- und Naturwissenschaftler Franz Boas (1858-1942) wendete sich gegen vermeintlich unversalistische Kulturgesetze. Das von Franz Boas entwickelte Modell des Kulturrelativismus widerspricht Anschauungen des europäisch geprägten kulturellen Evolutionismus, Rassismus und Nationalsozialismus. Franz Boas postulierte, dass jede Kultur einzigartig und darum relativ sei, ihre eigene Geschichte habe und nur aus sich selbst heraus zu verstehen sei. Der im Kulturrelativismus angelegte kulturelle Pluralismus versagt sich wertenden Vergleichen aus der Perspektive einer anderen Kultur. 1899 erhielt Franz Boas eine Professur für Anthroplogie an der Columbia University in New York und prägte maßgeblich die noch junge wissenschaftliche Disziplin der Ethnologie, u.a. Ruth Benedict (1887-1948,  Margaret Mead (1901-1978), sowie Claude Lévi-Strauss (1908-2009) und die französische Ethnologie.

Gemäß kulturrelativistischem Ansatz ist für das Verständnis kultureller Phänomene ein Eintauchen in Denk-, Normen- und Wertesysteme des Untersuchungsfeldes unabdingbar. Wie weit dieses Eintauchen gehen kann, beschreibt der renommierte US-amerikanische Kulturanthropologe Paul Stoller (*1947) im Bericht der Feldstudie, die er in den 1970er und 1980er Jahren bei den Songhai in Niger durchführte.(13) Die Vorstellungswelt der Songhai ist beherrscht von der Magie heilkundiger Zauberer, die ihre magischen Kräfte auch zum Schaden von Menschen nutzen und darum ebenso geehrt werden, wie gefürchtet sind. In mehreren längeren Aufenthalten dringt Stoller immer tiefer in die Kultur der Songhai ein. Er erwirbt das Vertrauen der Songhai, lässt sich als Zauberer initiieren und in magischem Wissen unterrichten. Stoller beginnt, als Songhai zu denken und erprobt die Wirksamkeit der gelernten Magie. Die Magie wirkt. Stoller ist schockiert. Sein Erfolg macht ihn zum Rivalen anderer Zauberer, die ihn mit Magie attackieren. Stoller erkrankt ernsthaft. Die Magie wächst Stoller über den Kopf. Er flüchtet zurück in seine Heimatkultur und gesundet.(14)   

Nachdem Paul Stoller die Welt der Songhai betreten hat, erweist sich deren Welt als real, aber auch als inkommensurabel mit der Welt, aus der Paul Stoller kommt. Welche Welt ist real? Offenbar beide.


2.4 Automatismen
Wie Informationen verteilt im Gehirn gespeichert, bei Erinnerungsvorgängen abgerufen und erneut zu bewusst wahrnehmbaren komplexen Informationsobjekten zusammengefügt werden, ist bisher weitgehend unverstanden. Bekannt ist jedoch, dass diese Prozesse keiner bewussten Kontrolle unterliegen, sondern wie die meisten neurologischen Prozesse automatisiert ablaufen. Bekannt ist ebenfalls, dass wahrgenommene Information Veränderungen beim Empfänger bewirken.

Erklärungen zum Verhalten lebender Organismen und zu Mechanismen des Speicherns und Abrufens von Erinnerungen beruhen auf Modellen. Modelle sind abstrahierende und vereinfachende gedankliche Konstrukte über komplexe Zusammenhänge der Realität. Lebende biologische Organismen werden als sich selbst organisierende und mit ihrer Umwelt interagierende offene Systeme aufgefasst. Verhalten lebender biologischer Organismen wird teilweise als Reaktion auf Reize verstanden, die auf einen Organismus durch Veränderungen innerer Zustände oder durch von Sinnesorganen vermittelte Umweltinformationen einwirken und Reaktionen (Verhalten) auslösen.(15)

Primitive biologische Organismen verfügen nur über einen genetisch codierten Satz angeborener Verhaltensmuster (unbedingter Reflex). Komplexere biologische Organismen sind lernfähig. Lernen modifiziert ursprünglich unbedingte Reflexe durch Koppelung von Reizen mit verstärkend wirkenden Belohnungen und erweitert das Repertoire unbedingter Reflexe um bedingte Reflexe.(16) Lerntheoretische Modelle berücksichtigen darüber hinaus Organismusvariablen und Annahmen über Regelmäßigkeit. Einfache Modelle beschreiben Verhalten lebender Organismen als Automaten ohne bewusste Kontrolle. In solchen Modellen ist das Gehirn die Schaltzentrale eines Automaten und Verhalten von Vorbedingungen determiniert.(17)



2.5 Kognitionen
Mentale Strukturen und zwischen ihnen stattfindende Prozesse des Wahrnehmens, Erinnerns, Denkens und Fühlens bezeichnet die Psychologie als Kognitionen. Kognitionen entstehen oder variieren, wenn aufgenommene Informationen in Verarbeitungsprozessen verdichtet, abstrahiert und zu mentalen Ergebnissen kondensiert werden. Diese Kondensate nehmen als Wissen, Einstellungen, Meinungen, Überzeugungen, Urteile, Wünsche, Erwartungen, Absichten etc. Einfluss auf das Verständnis von Menschen über sich selbst sowie auf das Verständnis von Welt und damit auf individuelles Verhalten.


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  1. Das Wikipedia-Themenportal Geist und Gehirn vernetzt relevante Artikel interdisziplinär.
  2. Telepolis: Die Allgemeine Relativitätstheorie versagt an der Singularität!  
  3. Krise der Grundlagenphysik:
  4. Quellen zur Quantengravitation:
  5. scinexx: Higgs-Boson: Lange gesuchter Zerfall nachgewiesen
  6. scinexx: Vier neue Gravitationswellen-Nachweise
  7. Die Physikerin Sabine Hossenfelder verweist auf Ludwik Fleck, dessen Bedeutung im Kapitel 2.2.3.2 Wissenschaftlicher Fortschritt angesprochen ist.   
  8. Sozialkonstruktivismus setzt sich vom philosophischen Realismus ab und teilt Annahmen mit dem philosophischen Konstruktivismus bzw. dem radikalen Konstruktivismus (Positionen der Wissenschaftstheorie), ohne diese zwingend zu implizieren.
    - Kersten Reich zu konstruktivistischen Positionen: Konstruktivistische Ansätze in den Sozial- und Kulturwissenschaften (PDF).
    - Einordnung und Abgrenzung von Positionen des Konstruktivismus und des philosophischen Realismus:
    • Sozialkonstruktivismus macht keine Aussagen über philosophische Positionen, sondern bezieht sich auf soziale Interaktionen und soziale Praktiken und versteht Varianten des Alltagswissen als Ausprägungen sozialer Subkulturen.
    • Philosophischer Konstruktivismus hat verschiedene Varianten herausgebildet, die gemeinsam hinsichtlich des philosophischen Universalienproblems nominalistische Positionen beziehen. Nominalismus wendet sich als erkenntnistheoretischer Idealismus in verschiedenen Ausprägungen gegen den philosophischen Realismus. Das Universalienproblem ist gemäß Regeln philosophischer Logik empirisch nicht entscheidbar und daher der Metaphysik zuzuordnen.
    • Philosophischer Realismus geht auf die Ideenlehre Platons zurück und nimmt die Existenz einer von Menschen unabhängig bestehenden Realität an. In der Gegenwart ist die Existenz einer Welt außerhalb des menschlichen Bewusstseins weitgehend unstrittig (ontologischer Realismus). Ob oder in welchem Umfang Realität der Welt menschlicher Erkenntnis zugänglich ist, diskutiert die philosophische Erkenntnistheorie mit unterschiedlichen Positionen. Allgemeinbegriffe betrachtet philosophischer Realismus als von Menschen gebildete Abstraktionen (Universalien), über deren Bestimmung jedoch keine Einigkeit besteht.
  9. Zentrale Thesen des Sozialkonstruktivismus lt. Spektrum Lexikon der Psychologie (in Anlehnung Kenneth J. Gergen): Sozialer Konstruktivismus:
    • Individuelle und kollektive Erfahrungen bestimmen das Weltverständnis, das fälschlicherweise für ein Abbild von externer Wirklichkeit gehalten wird.
    • In historisch-kulturell variablen Diskursen stellen Menschen ein Bild von der Welt und von sich selbst her.
    • Das Ausmaß, in dem sich bestimmte Auffassungen durchsetzen oder aufrechterhalten werden, hängt nicht von empirischen Validitäten, sondern von Wechselfällen sozialer Konventionen und Kommunikationen ab, u.a. von Rhetoriken.
    • Beschreibungen und Erklärungen sind mit anderen sozialen Aktivitäten verknüpft.
    Aus diesen Annahmen folgt:
    • Wirklichkeit ist immer kontingent, weil sie stets konstruiert ist.
    • Jede soziale Realität ist sinnhaft.
    • Nichts ist selbstverständlich.
  10. tabularasa - Zeitung für Gesellschaft & Kultur, Susanne Weiss: Der sozialkonstruktivistische Ansatz von Peter L. Berger und Thomas Luckmann
  11. Eigener Post: Pierre Bourdieu, Habitas und Doxa - Machteliten und Machtstrukturen
  12. Wikipedia: Kulturrelativismus in der Kritik
  13. Paul Stoller: Im Schatten der Zauberer, 2019. - Originalausgabe: In Sorcery's Shadow: A Memoir of Apprenticeship Among The Songhay of Niger (co-authored with Cheryl Olkes), 1987
  14. Der NZZ-Afrikakorrespondent David Signer berichtet in seiner Besprechung des Buchs von Paul Stoller über ähnliche Erfahrungen: Alles nur Aberglaube? Die Lehrjahre bei einem Heiler haben unseren Afrika-Korrespondenten eines Besseren belehrt
  15. Wikipedia: Reiz-Reaktions-Modell
  16. Wikipedia: Klassische Konditionierung
  17. Wikipedia: Instrumentelle und operante Konditionierung - SORKC-Modell


3 Mentale Strukturen

Mentale Prozesse können unter bewusster Kontrolle stattfinden oder unbewusst ablaufen. Taxonomien der Psychologie unterscheiden zwischen bewussten und unbewussten Kognitionen und ordnen ihnen verschiedene Arten von Gedächtnis zu.






3.1 Bewusste (explizite) Kognitionen

Bewusste Kognitionen nutzen das explizite deklaratives Gedächtnis (bewusst abrufbares gespeichertes Wissen). Das explizite Gedächtnis gliedert sich in episodisches Gedächtnis (individuell Erlebtes) und semantisches Gedächtnis (angeeignetes Weltwissen bzw. Faktenwissen), die in unterschiedlichen neuronalen Strukturen verankert sind.
  • Das semantische Gedächtnis ist mit einem Lexikon vergleichbar. Fakten (Wissen) sind ohne räumlichen und zeitlichen Bezug gespeichert, sie können aber mit Erinnerungen verknüpft sein.
  • Das episodische Gedächtnis speichert Erinnerungen. Ob das episodische und das autobiographische Gedächtnis identisch sind, ist strittig. Nach überwiegender Auffassung bestehen Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Das episodische Gedächtnis gilt als Speicher für kurz zurückliegende und eher unwichtige Erlebnisse, die bald vergessen sind. Erlebnisse, die für Individuen große Bedeutung haben, sind dauerhaft im autobiographischen Gedächtnis archiviert und bilden Kontexte für episodische Erlebnisse.

3.2 Unbewusste (implizite) Kognitionen
Der Hauptanteil mentaler Prozesse verläuft unbewusst. Unbewusste Kognitionen bilden den Hintergrund und Kontexte für bewusste Kognitionen und sind daher prinzipiell an bewussten Kognitionen beteiligt. Unbewusste Kognitionen 
nutzen das implizite Gedächtnis. Als implizites Gedächtnis wird der Teil des Gedächtnisses aufgefasst,
  • der gespeichertes Wissen von Individuen über sich selbst, ihre persönlichen Ansichten, Überzeugungen, Erwartungen, Prinzipen, ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sowie über andere Menschen, über ihre Umgebung, über die Welt ohne bewusstes Nachdenken repräsentiert,
  • in dem erlernte Automatismen gespeichert sind.


3.2.1 Schemata
In Lernprozessen gewonnene Informationen verarbeitet der kognitive Apparat, indem er abstrakte Generalisierungen bildet, die als Schema bezeichnet werden. Schemata sind nicht als Muster im Sinne von konkreten oder abstrakten Gegenständen zu verstehen, sondern als ein abstraktes Regelsystem.

Ähnlich wie sich Syntax auf unendliche Varianten von Sprache anwenden lässt, bilden Schemata einen impliziten Wissensvorrat, der Individuen durch Identifizierung und Abgleich aktueller Situationen des Erlebens spontanes Zurechtzufinden und angemessenes Verhalten ermöglicht. Schemata steuern individuelle Wahrnehmung, Informationsverarbeitung und Verhalten ohne bewusste Kontrolle durch Automatismen des Filterns, Auswählens, Vergleichens. Bei auffälligen Unterschieden zwischen wahrgenommener Realität und gespeichertem Schema erfolgt eine Umschaltung, durch die explizite Kognitionen die Kontrolle übernehmen und unbewusste Wahrnehmung in bewusste Wahrnehmung umschlägt. 



3.2.2 Priming (Bahnung)
In Vorerfahrungen entstandene implizite Gedächtnisinhalte beeinflussen unbewusst die Verarbeitung von Wahrnehmung, wenn Bahnungsreize (prime) assoziative Verknüpfungen zu impliziten Kontextinformationen aktivieren. Bahnende Reiz können Worte, Bilder, Gerüche, Gesten etc. sein. Unbewusst aktivierte Gedächtnisinhalte bestimmen die Deutung und das Verarbeitungstempo von Reizen, wecken Emotionen und beeinflussen nachfolgendes Verhalten. Die als Priming bezeichneten kognitiven Mechanismen lassen sich experimentalpsychologisch in verschiedenen Ausprägungen nachweisen.


3.2.3 Mere-Exposure-Effekt (Kontakt-Effekt)
Der Mere-Exposure-Effekt besagt, dass ein anfangs neutral beurteilter Sachverhalt aufgrund wiederholter Wahrnehmung positiver bewertet wird. Da dieser Effekt auch bei unterschwelliger Wahrnehmung auftritt, wird er im Marketing genutzt. Kurze, mehrmalige Wiederholungen einer Produktwerbung erzeugen bei Konsumenten eine unbewusste  positive Wahrnehmung beworbener Produkte oder Dienstleistungen.


3.2.4 Propinquity-Effekt (Nähe-Effekt)
Der Propinquity-Effekt (Nähe-Effekt) ist eine auf Menschen bezogene Variante des Mere-Exposure-Effekt, die besagt, dass die Attraktivität von Personen oder Objekten mit der Häufigkeit von Kontakten zunimmt. Die Vertrautheit mit einem Menschen macht diesen attraktiver und sympathischer. Je häufiger Menschen Kontakt haben, umso wahrscheinlicher werden sie Freunde.


3.2.5 Prozedurales Gedächtnis
Das prozedurale Gedächtnis ist für erlernte Fähigkeiten und komplexe Bewegungsabläufe (Fahrradfahren, Schwimmen, Tanzen, Skifahren, etc.) verantwortlich, die im Kontext bestimmter Prozeduren des Verhaltens 'automatisiert' (ohne Nachdenken) abgerufen werden.


3.3 Meme
Leben besteht aus Prozessen biologischer und mentaler Art. Eine materialistische Erklärung biologischer Prozesse auf der Basis von Naturgesetzen gelingt noch nicht vollständig, aber als Möglichkeit ist sie prinzipiell nicht auszuschließen. Die Annahme der Möglichkeit einer materialistischen Erklärung mentaler Prozesse lehnen die meisten Denker ab und behaupten nur überzeugte Materialisten. Offensichtlich handelt es sich um eine Glaubensfrage, die nicht empirisch zu belegen ist.

Eine Gruppe von Kognitionswissenschaftlern vertritt ein naturalistisches bzw. materialistisches Weltbild, das sämtliche Phänomene von Welt auf Natur und ihre Gesetzmäßigkeiten zurückführt. Naturalistische Ansätze verstehen Kultur als Ausprägung von Natur und sozio-kulturelle Evolution als Entwicklung der biologischen Evolution.(1) Allerdings muss man nicht Naturalist sein, um den impliziten Dualismus der Kategorien Natur und Kultur kritisch zu betrachten.(2)

Gemäß materialistischem Denken sind mentale Zustände aus physischen Zuständen zu erklären. Intentionalität des Denkens (mental vorweggenommene absichtsvolle Handlungen) wird als nützliche Fiktion aufgefasst. Auf Basis dieser Sicht ist nicht entscheidbar, ob Prozesse des Denkens in einer objektiven Realität oder gemäß dem Gehirn-im-Tank-Szenario in einer simulierten Realität stattfinden.

Um sozio-kulturelle Evolution erklären zu können, bedarf es jedoch zusätzlicher Entitäten als Replikationseinheiten, die als Meme bezeichnet werden (in Anlehnung an den Begriff Gene).(3) Gemäß diesem Verständnis sind Meme Bewusstseinsinhalte, die als Informationen durch Kommunikation weitergegeben bzw. vervielfältigt (repliziert) werden und wie biologische Vererbung von Genen sozio-kulturell vererbbar sowie durch sozio-kulturelle Evolution veränderbar sind.(4)



3.4 Intelligenz, Bewusstsein, Intentionalität
Hochkomplexe lebende biologische Organismen verfügen über Fähigkeiten, die sich nicht als Automatismen beschreiben lassen. Diese nicht automatisierten Fähigkeiten fasst der umstrittene Begriff Intelligenz zusammen. Intelligenz ist keine Basisfunkion des Automaten Gehirn, sondern eine Besonderheit, die als Struktur komplexer autopoietischer Systeme aufgefasst werden kann, durch die Automaten (Gehirn) Prozesse des Bewusstseins und der Selbstreflexion generieren. Bewusstsein deutet Wahrnehmungen von Umwelteindrücken, setzt sie in Beziehung zur Selbstwahrnehmung und erzeugt Intentionalität.

Ohne Fähigkeiten von Intelligenz sind auf spontan auftretende komplexe Entscheidungs- und Verhaltensanforderungen nur schematische Reaktionen möglich (Flucht, Kampf, Resignation etc.), weil genetisch codierte oder sozial erlernte Verhaltensmuster keine adäquaten Antworten vorhalten. Intelligenz ermöglicht mittels Deutungen und Intentionalität erfolgreiche Bewältigungen komplexer Handlungszusammenhänge.

Mit Intelligenz gedeutete empirische Beobachtungen machen bewusst, dass außerhalb menschlicher Wahrnehmungsfenster und für menschliche Sinnesorgane unzugängliche Strukturen und Prozesse existieren. Theoretische Modelle (Hypothesen) und Methoden ihrer Überprüfung erschließen für Menschen nicht sichtbare Phänomene. Wissenschaften betreiben systematisierte Suchen nach Verständnis bisher nicht erklärbarer Phänomene sowie Austausch von Ergebnissen und deren kritische Überprüfung gemäß vereinbarter Standards. Wissenschaften öffnen gedanklich konstruierte Fenster in für Menschen unzugängliche Welten. Wissenschaften produzieren Wissen und erweitern das Weltwissen, aber anders als Religionen verkünden sie keine Wahrheiten.

Bewusstsein kontrolliert jedoch nur einen kleinen optionalen Anteil aller Verhaltensdispositionen, während der deterministische Anteil des Verhaltens dominiert. Weil deterministisches Verhalten außerhalb bewusster Wahrnehmung und Kontrolle von Subjekten stattfindet, entstehen Illusionen von Autonomie denkender und handelnder Subjekte sowie Illusionen hinsichtlich der Qualität individueller Intelligenz.



3.5 Individualität von Lebensbedingungen und Dynamik mentaler Strukturen
Mentale Strukturen sind keine Serienprodukte mit statischer Architektur, sondern sie entwickeln sich generisch auf kollektiv gemeinsamer Basis und verändern sich dynamisch unter Anforderungen volatiler individueller Lebensbedingungen. Konsens über eine kollektiv gemeinsame Basis von Werten, Regelsystemen, Mustern und Informationen ermöglicht das Zusammenleben und die Kooperation von Menschen. Die Architektur dieser Basis ist nicht für alle Zeit in Stein gemeißelt, aber um kollektive Wirkung zu entfalten, benötigt sie einvernehmliche Konsens eines Grades verlässlicher Verbindlichkeit. Gemäß Maßstäben menschlicher Lebenserwartung verändert sich diese Architektur relativ langsam. Wenn Veränderungen stattfinden, müssen von ihnen betroffene Menschen informiert werden, damit sich kognitive Strukturen und Verhaltensmuster an Änderungen anzupassen.

Menschen, die sich im öffentlichen Raum bewegen, müssen sich nicht ständig über Regeln der kollektiven Basis informieren oder diese in Erinnerung rufen. Die kollektive Basis bleibt im Hintergrund und übt kontrollierenden Einfluss auf Verhalten aus, ohne dass Menschen explizites Wissen über die kollektive Basis und ihre funktionale Bedeutung benötigen. Im regulären Betrieb erleben Menschen sich ähnlich wie Akteure auf einer Bühne und vergessen oder übersehen bei ihrem Spiel die Umgebung ihres Theaters, dessen Infrastruktur und Betriebsbedingungen sowie Voraussetzungen und Historie der Entstehung.

Beispielsweise müssen Verkehrsteilnehmer Vorfahrtsregeln nicht erst aushandeln. Gewöhnlich wissen sie, wer gehen oder fahren darf und wer warten muss. Im Fall von Regelverletzungen ist bekannt, dass falsches Verhalten nicht per Faustrecht bestraft werden darf, sondern dass nur rechtsstaatliche Institutionen Sanktionsmaßnahmen veranlassen dürfen. Darüber hinaus wissen Verkehrsteilnehmer i.d.R., auf welchen Kommunikationswegen rechtsstaatliche Institutionen zu erreichen sind, und sie kennen zumindest grob die Qualität drohender Sanktionsmaßnahmen.

Erst wenn Menschen als individuelle Akteure bewusst oder grob fahrlässig kollektiv geltende Vereinbarungen verletzen, rückt der vorher unbewusste Hintergrund in den bewussten Vordergrund. Störungen des Gleichgewichts können auch von Institutionen und Organisationen als kollektive Akteure ausgehen. Wenn normsetzende Veränderungen der kollektiven Basis auf Ablehnung stoßen, drohen Konflikte, die in für Änderungen verantwortlichen Institutionen und Organisationen zu Krisen eskalieren können. Aktuelle Beispiele sind Gelbwestenproteste und Streiks gegen die geplante Rentenreform in Frankreich oder die globale Bewegung gegen die drohende Klimakatastrophe.

 
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  1. Protagonisten dieser Richtung: Richard Dawkins, Daniel Dennett 
  2. Der vermeintliche Dualismus von Natur (nicht von Menschen geschaffen) und Kultur (von Menschen erzeugt) hält kritischen Überprüfung nicht stand. Natur und Kultur sind keine kategorischen Gegensätze, sondern Endpunkte einer gedachten Skala zwischen denen ein Kontinuum fließend ineinander übergehender Mischzustände besteht.
    Interkulturelle Vergleiche zeigen, dass der als Dualismus gedachte Gegensatz von Natur und Kultur aus einer von christlichen Werten geprägten eurozentristisch-kategorialen Denkweise resultiert, während außereuropäischen Kulturen dieser Dualismus fremd ist.
    Kategoriales Denken ist in der Interaktion mit Umwelt ein überwiegend unbewusster elementarer Vorgang von Entscheidungsprozessen der Deutung, Bewertung und Sortierung wahrgenommener Sinneseindrücke. Unter Bedingungen unvollständiger Informationen, die schnelle Entscheidungen erfordern, befähigen intuitive Entscheidungsheuristiken (‚Bauchgefühle‘) zu effizienten und oft erfolgreichen Entscheidungen. Denkmuster dualistischer Sortierung wahrgenommener Phänomene haben sich trotz kognitiver Verzerrungen evolutionär bewährt. Die Einordnung wahrgenommener Objekte als Freund oder Feind, gut oder böse, essbar oder nicht essbar, gefährlich oder ungefährlich etc. ermöglicht erfolgreiches Verhalten. Wie real diese Vorstellungen des Alltagsdenkens tatsächlich sind und ob sie logischen Überprüfungen standhalten, zeigen erst wissenschaftliche Betrachtungen.
  3. Wissenschafts-Magazin Spektrum: Evolution: Die Macht der Meme
  4. Die Memtheorie beeindruckt durch Plausibilität, aber mangels empirischer Belege ist sie wie viele wissenschaftliche Theorien strittig.

 
4 Jüngere neurowissenschaftliche Forschungsergebnisse

4.1 Computermodell vs. neuronale Vernetzung
In interdisziplinärer Kognitionswissenschaft waren ehemals Annahmen vom Computermodell des Gehirns verbreitet. Das Gehirn wurde als ein informationsverarbeitendes System aufgefasst, das wie ein Computer operiert. Gehirn und Geist galten als Analogien zu Hardware und Software. Gemäß diesem Modell wird Bewusstsein als mentale Repräsentation von Objektwahrnehmung verstanden und kognitive Fähigkeiten als Rechenprozesse des Gehirns.

Mit dem Wissenszuwachs von Neurowissenschaften haben dynamische Modelle neuronaler Netze das Computermodell verdrängt, weil verstanden wurde, dass

  • mentale Prozesse des Gehirns nicht als symbolische Repräsentation von Objekten der Welt zu verstehen sind,
  • im Gehirn gespeicherte Informationen nicht binär codiert, sondern vernetzt sind,
  • Verhalten vernetzter Systeme nicht mit Kausalmodellen zu beschreiben ist. 
Die Suche nach neuronalen Korrelaten bewussten Erlebens hat begonnen und befindet sich in einem noch sehr frühen Stadium. Die hohe Komplexität des neuronalen Netzes menschlicher Gehirne bildet für wissenschaftliche Forschung eine nur schwer und vielleicht nie zu überwindende Hürde. 



4.2 Gehirn als neuronales Netz
Neuronale Vernetzung von Nervenzellen
MPG - Das Gehirn
Die beiden wichtigsten Zelltypen des Gehirn sind Nervenzellen (Neurone) und Gliazellen. Das menschliche Gehirn verfügt über jeweils ca. 86 Milliarden Neuronen und 86 Milliarden Gliazellen.(1) Neuronen sind auf Signalübertragung (Kommunikation) spezialisiert. Das Verständnis der Bedeutung von Gliazellen setzt erst in jüngerer Zeit ein. Gliazellen erfüllen insbesondere Infrastrukturaufgaben und beeinflussen die Signalverarbeitung.(2) Zu jedem der beiden Zelltypen bestehen mehrere Untertypen mit spezifischen Funktionen. Neuronen und Gliazellen eines Organismus bilden gemeinsam dessen Nervensystem.


Informationsverarbeitung erfolgt durch Vernetzung von Neuronen. Kommunikation zwischen Neuronen benötigt Verbindungen. Austausch und Übertragung von Signalen zwischen Nervenzelle erfolgen mittels Synapsen.(3) Ein einzelnes Neuron kann bis zu 200.000 Synapsen aufbauen. „Die Anzahl der Synapsen beträgt im Gehirn eines Erwachsenen etwa 100 Billionen“.(4) Je nach Art von Informationsübertragung, Wirkungsweise, Zusammensetzung, Verknüpfung, Substanzen der Botenstoffen lassen sich verschiedene Typen von Synapsen identifizieren.

Grundlagenforschungen zeigen, dass an Veränderlichkeit und Stabilität neuronaler Netze Proteine beteiligt sind, die Informationen als Kandidaten für das Kurzzeit- oder Langzeitgedächtnis markieren und dafür sorgen, dass gespeicherte Erinnerungen erhalten bleiben.(5) Dieser Sachverhalt verweist auf Entscheidungsprozesse, die dem Markieren oder Nicht-Markieren vorausgehen, damit Aktionen stattfinden oder unterbleiben. Daraus resultiert die spannende Frage, welche Instanzen für Ausführung und Kontrolle diese Entscheidungen verantwortlich sind.



4.3 Neuronale Plastizität
Die riesige Menge an zu verarbeitenden Informationen vermag das Gehirn nur aufgrund von Fähigkeiten zu bewältigen, die Nervenzellen, Synapsen und Hirnarealen optimierende Anpassungen an Anforderungen aktiver Prozesse ermöglichen. Diese als neuronale Plastizität bezeichnete Fähigkeit ist eine Eigenschaften von Synapsen (synaptische Plastizität) sowie von neuronalen Netzen (kortikale Plastizität). Plastizität besagt, dass funktionale Einheiten des Gehirns ihre Anatomie und ihre Funktion ändern können.



4.3.1 Synaptische Plastizität
Synapsen sind keine passiven Verbindungen (wie etwa ein Kabel), sondern sie beeinflussen die Signalübertragung modulierend. Synapsen können ruhen oder aktiv sein. Aktive Synapsen können ihre Übertragungsstärke ändern. Neben erregenden Synapsen der Signalweitergabe sind hemmende Synapsen nachgewiesen, die Signale verändern, eingrenzen oder unterdrücken. Wie ‚synaptische Plastizität‘ im Detail wirksam wird, ist noch nicht erforscht.(6) 


4.3.2 Kortikale Plastizität
Im Gehirn finden durch Lernen, Übung, Training, Verletzungen und Störungen räumliche Funktionsverlagerungen vernetzter Neuronen statt. Änderungen individueller Fähigkeiten gehen mit Veränderungen an Synapsen und anatomischen Auffälligkeiten des Gehirns einher.


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  1. Helmholtz: Wieviele Nervenzellen hat das Gehirn?
  2. Quellen zu Hirnzellen und ihren Funktionen:
  3. Wikipedia: Synapse
  4. Max-Planck-Gesellschaft: Wie Nervenzellen miteinander reden
  5. TU Braunschweig: Wie speichert das Gehirn Erinnerungen?
  6. Max-Planck-Gesellschaft: Hemmende Synapsen beeinflussen Signale im Gehirn mit hoher Präzision
 
5 Individualismus, Identität und Persönlichkeit
Verschiedene Menschen erleben und erinnern identische Sachverhalte nicht unbedingt gleichartig, sondern im Gegenteil oft unterschiedlich. Differenzen machen deutlich, dass im Gehirn gespeicherte Informationen mit dynamisch modellierten individuellen kognitiven Strukturen verwoben sind. Individueller Input erzeugt individuellen Output. Zwischen Input und Output liegt die Verarbeitung, mit der sich dieses Kapitel befasst. Die Verarbeitung findet in einer Black Box statt, in die wir nicht schauen können. Aktuelle wissenschaftliche Forschungen lassen in der Zukunft tiefere Einblicke erwarten. Modellvorstellungen veranschaulichen Vorstellungen von der Arbeitsweise dieser Black Box.

Organismen verfügen über angeborene biologische Grundausstattungen von Genmaterial, Veranlagungen und Erscheinungsbild (Morphologie). Lebende biologische Organismen werden als sich selbst organisierende offene Systeme aufgefasst, die über einen Stoffwechsel verfügen, mit ihrer Umwelt Energie, Stoffe und Informationen austauschen sowie sich selbst reproduzieren. Die Fähigkeit zur Reproduktion bewirkt genetische Variabilität und ermöglicht evolutionäre Entwicklung.(1) Die Fähigkeit der Plastizität biologischer Organismen bewirkt im Austausch mit der Umwelt über die gesamte individuelle Lebenszeit Ausprägungen individueller Persönlichkeiten mit individuellen kognitive Strukturen.

Die Dynamik der Entwicklung und Veränderung von Persönlichkeiten und deren kognitive Strukturen resultiert aus interaktiven Prozessen, bei denen unabhängige Merkmale modellierend auf abhängige Merkmale einwirken oder sich Merkmale durch ihr Aufeinandertreffen oder ihr Zusammenwirken wechselseitig modellierend beeinflussen. Gemäß dieser Sichtweise modellieren sozio-kulturelle Lebensbedingungen (Umwelt) die biologische Identität (Grundausstattung) von Individuen und beide gemeinsam die psychische Identität (Selbstbild der Persönlichkeit) sowie die soziale Identität (Zugehörigkeitsgefühl zu sozio-kulturellen Kollektiven) von Individuen.

Menge, Vielfalt und Selektivität von Einflussgrößen, deren wechselseitige Beeinflussungen und Prozesshaftigkeit von Entwicklungen erzeugen eine nur unvollständig überschaubare Komplexität, die exakte Vorhersagen von Verhalten ausschließt. Vereinfachende Modelle erlauben jedoch Aussagen über Wahrscheinlichkeiten des Auftretens von Verhalten.


5.1 Variabilität biologischer Identität
Im evolutionären Prozess haben sich biologische Arten mit prinzipiell gleichartiger Architektur und gleichartigen Wahrnehmungsfunktionen herausgebildet. Genotyp und Phänotyp von Individuen, d.h. ihre angeborene biologische Grundausstattung des Genmaterials, der Veranlagungen, des äußeren Erscheinungsbilds und des Verhaltens variieren jedoch. Menschen unterscheiden sich nicht nur bezüglich Geschlecht, Körpergröße, Statur, Hautfarbe, Haarfarbe, Sexualpräferenz etc.. Auch die Leistungsfähigkeit von Organen (z.B. Muskulatur) und Sinnesorganen (z.B. Sehschärfe von Augen, Frequenzumfang des Hörens, Sensibilität von Geruchs-, Geschmacks- und Tastorganen) variiert individuell und beeinflusst die Qualität von Wahrnehmung, sodass wahrgenommene Informationen unterschiedlich gefiltert und in unterschiedlicher Qualität gespeichert werden. Individuelle Dispositionen, Fähigkeiten und Fertigkeiten modellieren die Auseinandersetzung von Personen mit ihrer Umwelt individuell.


5.2 Variabilität psychischer Identität 
Entwicklung von Persönlichkeit und deren Aneignung von Welt (psychische Identität) formen sich in Wechselwirkungen zwischen Individuen (mit jeweils individueller biologischer Identität) und ihren Entwicklungskontexten, die sich aus sozio-kulturellen Lebensbedingungen und biographischen Ereignissen zusammensetzen.(2)

Soziologische Forschung zu Sozialstrukturen, Geschlechterverhältnissen (Gender Studies), Migrationsbewegungen, sozialer Mobilität etc. belegen mit empirischen Daten, dass sozio-kultureller Kontexte Einfluss nehmen auf die Wahrnehmung von Verschiedenheit individueller biologischer Identität und auf die Herausbildung psychischer Identität. Soziologische Theorie macht verständlich, wie Sozialstrukturen
  • objektive Lebensbedingungen und subjektives Lebensgefühl modellieren,
  • kollektive und individuelle Werthaltungen (z.B. Toleranz, Kunstverständnis, Rassismus, Ethnozentrismus etc.) evozieren,
  • auf Ausprägungen genereller und individueller psychischer Identität einwirken.

5.2.1 Prozesse der Ausdifferenzierung von Sozialsystemen verändern das soziale Leben    
  • Zunahme von Komplexität durch Pluralisierung
    
Menschen bewegen sich in und zwischen einer Vielzahl mehr oder weniger dynamischer Lebensräume, deren unterschiedliche Normen, Werte und Dynamiken jeweils eigene Milieus bilden, die unterschiedliche und auch widersprüchliche Anforderungen an Individuen stellen. Menschen nehmen ihre eigenen Lebensbedingungen als heterolog und dynamisch gestaltet wahr und empfinden sich als im Schnittpunkt disparater Kulturen lebend. Georg Simmel (1858-1918) bezeichnete sie als soziale Kreise.(3)
  • Abnahme direkter sozialer Kontrolle
    Prozesse zunehmender sozialer Differenzierung bewirken die Anonymisierung von Lebensweisen sowie die Relativierung und Pluralisierung kultureller Ziele, wodurch die Verbindlichkeit sozialer Normen und deren Kontrollmechanismen abnimmt und Mechanismen direkter sozialer Kontrolle an Bedeutung verlieren. 
  • Zunahme von Kontingenz
    Lebenszusammenhänge werden komplexer bzw. undurchschaubarer. Mit der Ausweitung von Handlungsoptionen nehmen Orientierungslosigkeit und Verhaltensunsicherheit zu. Lebenserfahrungen werden offener und ungewisser. Strukturell nimmt die Integration sozialer Systeme ab.(4)

5.2.2 Prozesse der Ausdifferenzierung von Sozialsystemen und beschleunigter sozialer Wandel prägen generelle Dispositionen
  • Entwicklung von Individualismus
    Prozesse struktureller Ausdifferenzierung der Makroebene und die Herausbildung individualistischer Wertesysteme der Mikroebene verstärken sich wechselseitig. Unterschiedliche und widersprüchliche Anforderungen sozialer Kontexte integrieren Menschen mittels Entwicklung eines Denk- und Wertesystem, in dem Individuen und deren individuelle Selbstverwirklichung das Zentrum motivationaler Strukturen besetzen.  Mit der Entwicklung von Individualismus werden sich Menschen ihrer Persönlichkeit bewusst und erleben sich als einzigartig.
  • Internalisierung
    Die individuelle Aneignung von Lebensumgebungen vollzieht sich in eher unbewussten Lernprozessen der Internalisierung (Aneignung sozialer Werte, Normen, Sitten, Überzeugungen, Wirklichkeitsannahmen etc. durch Verinnerlichung). Soziale Lernprozesse modellieren kognitive Strukturen, die das Denken und Verhalten von Menschen als Doxa und Habitus an generalisierte Erwartungsanforderungen von Lebensumgebungen ausrichten und die Sicht von Menschen auf sich selbst prägen, ohne dass sich Menschen i.d.R. der Kontingenz ihrer Wahrnehmung bewusst sind.(5)

5.3 Plastizität, Individualität, Unsicherheit von Wahrnehmung und Erinnerung

5.3.1 Individualität von Wahrnehmung und Erinnerungen
Über Zeit ändert sich nicht nur die Welt, sondern auch die Art und Weise, in der Menschen die Welt sehen und wie sich Menschen erinnern. Über den gesamten Lebenszyklus modellieren die Individualität von biologischer Ausstattung, Lebensbedingungen und biographische Ereignisse individuelle kognitive Strukturen, die wiederum auf Prozesse des Wahrnehmens und des Erinnerns einwirken.

Prinzipiell liegt die Verlässlichkeit von Wahrnehmung und Erinnerung zwischen genau oder unscharf, vollständig oder unvollständig, sicher oder unsicher, richtig oder falsch. An Sachverhalten beteiligte Personen können sich jeweils unterschiedlich und auch konträr erinnern. In der Selbstwahrnehmung als sicher und vollständig empfundene Erinnerung markieren individuelle mentale Kontrollinstanzen als zweifelsfrei echt und wahr. Dieses Urteil blendet aus, dass die Bewertung sich lediglich auf Erinnerungen des eigenen Gedächtnisses bezieht und nicht auf Sachverhalte, die Erinnerungen verursachen.


5.3.2 Wahrnehmungstäuschungen
Evolutionär entwickelte Funktionen der Wahrnehmung produzieren kein sicheres Wissen, sondern Deutungen und bestenfalls vermeintlich sicheres Wissen, das jedoch ebenso Fiktion, Zerrbild oder Irrtum sein kann. Von Wahrnehmung produzierte Deutungen können falsch sein, aber sie sind nicht unsinnig. In einer hoch komplexen Welt der Unsicherheiten und Risiken sind Ad-hoc-Deutungen von Wahrnehmung als Überlebensstrategie aufzufassen. Indem der kognitive Apparat aus einem Universum von Sinneseindrücken Muster extrahiert, ermöglich er effiziente kurzfristige Entscheidungen, erfolgreiche Handlungen oder spontane Reaktionen.

Wie real Muster und Vorstellungen des Alltagsdenkens sind, belegen erst wissenschaftliche Überprüfungen. Diese zeigen, dass beim Wahrnehmen, Denken, Entscheiden und Erinnern verwendete intuitive kognitive Operationen systematischen fehlerhaften kognitiven Verzerrungen unterliegen, die i.d.R. unbewusst bleiben. Solange Entscheidungen in Situationen hilfreich oder nützlich sind, bleiben solche Verzerrungen unproblematisch.(6)


5.3.3 Erinnerungstäuschungen
Neben Wahrnehmungstäuschungen können bei Vorgängen des Erinnerns verschiedene unbeabsichtigte und unbewusste Verzerrungen als Erinnerungstäuschungen auftreten, sodass der Abruf gespeicherter Erinnerungen aus dem Langzeitgedächtnis Unsicherheiten hinzufügt.
  • Fehlinformationseffekte entstehen, wenn Personen nach einem Ereignis falsche Informationen erhalten und diese bei Erinnerungen dem Ereignis hinzugefügt werden. Dieser Effekt stützt die Annahme, dass Erinnerungen veränderbare individuelle Konstruktionen sind, die von äußeren Einflüssen verzerrt werden.
  • Erinnerungsverfälschungen werden in mehreren Varianten beobachtet:
    • Unabsichtliches Verfälschen bestehender eigener Gedächtnisinhalte.
    • Fantasierende Einbildung neuer eigener Gedächtnisinhalte aufgrund von Falschinformationseffekten oder durch manipulative Suggestion.
    • Pseudoerinnerungen sind Erinnerungen, die in der Vergangenheit durch manipulative Implantation erzeugt wurden und in der Gegenwart als eigene Erinnerungen ausgegeben werden.

Wissen über Verzerrungen der Wahrnehmung und des Erinnerns verführt zum systematischen Missbrauch in Methoden der Werbung, der Propaganda und der Meinungsmanipulation.(7) 



5.4 Dürfen wir in Anbetracht von Unsicherheiten eigenen Erinnerungen vertrauen?

Sicherlich, aber nicht bedingungslos. Wahrnehmung liefert kein Bild der Realität, sondern vielfach gebrochene und verzerrte Deutungen von Reizen, die unsere Sinnesorgane aufzunehmen vermögen. Erinnerungen sind keine Agenten der Wahrheit i.S. von sicheres Wissen oder History. Im Gedächtnis gespeicherte Reproduktionen früherer Wahrnehmungen sind als mit subjektiven Erfahrungen angereicherte individuelle Narrative von Deutungsmustern aufzufassen, die selbst wieder Einfluß auf die eigene Wahrnehmung von Welt nehmen und die Individualität von Persönlichkeit formen. Die Zirkularität selbstreferentieller kognitiver und kommunikativer Prozesse hat keinen Ausgang.(8) Wir müssen uns damit abfinden, dass zahlreiche Wahrheiten miteinander konkurrieren und absolute Wahrheit eine Illusion bleibt.

Fortsetzung des Posts: Big History der Makroperspektive: Evolution, kognitive Revolution und die Folgen
 
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  1. Wikipedia: Lebewesen
  2. Quellen:
    1. Wikipedia: Persönlichkeit
    2. Klaus A. Schneewind im Lexikon der Psychologie: Persönlichkeit
  3. Bundeszentrale für politische Bildung: Vielfalt von Kulturbegriffen
  4. Der französische Soziologe Émile Durkheim (1858-1917) hat für diese Sachverhalte den von Robert K. Merton (1910-2003) verfeinerten Begriff Anomie in die Soziologie eingeführt. - SozTheo: Anomiebegriff (Durkheim) - Anomietheorie (Merton)
  5. Eigener Post: Pierre Bourdieu, Habitas und Doxa - Machteliten und Machtstrukturen
  6. Wikipedia: Liste kognitiver Verzerrungen
  7. Wikipedia: Techniken der Propaganda und der Meinungsmanipulation
  8. Winfried Nöth: Selbstreferenz in systemtheoretischer und in semiotischer Sicht

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