Mittwoch, 7. Februar 2024

Teil 3: Politischer, wirtschaftlicher, mentaler Neuaufbau und Erinnerungskultur an NS-Zeit in Westdeutschland nach 1945 (Stand: 27.04.2024)

Szene der Reichspogromnacht 1938   -   Bombenabwürfe alliierter Bomber auf Deutschland   -   Trümmerlandschaft Innenstadt Dresden
  
Teil 3 betrachtet ab 1945 wiedererwachendes Leben in Westdeutschland und fokussiert auf
  • die Aufarbeitung von NS- und Kriegsverbrechen,
  • den Neubeginn mit neuer politischer Kultur,
  • Prozesse in Deutschland praktizierter Erinnerungskultur.

Inhaltsverzeichnis Teil 3

1       Einleitung Teil 3: Alltagsleben im Nachkriegsdeutschland
2       Aufarbeitung von NS- und Kriegsverbrechen: „Ein Täter und 60 Millionen Gehilfen“
2.1    Entnazifizierungs- und Kriegsverbrecherverfahren
2.2    Beispiele des Umgangs mit Verantwortung und Schuld in Rechtsprechung und Politik
3       Restart mit Amnesie und Amnestie in runderneuerter politischer Kultur
3.1    Schlussstrichpolitik unter Konrad Adenauer: „Man schüttet kein dreckiges Wasser aus, wenn man kein reines hat
3.2    Haltung der Bundespräsidenten 1949 - 1994
3.3    Amnestiepolitik nach 1945
3.4    Der Verjährungsskandal 1969 der Großen Koalition unter Kanzler Kurt Georg Kiesinger
4       Schlussbetrachtung
4.1    Was war?
4.2    Was ist? 
4.3    Was bleibt? 
4.4    Was wird? 


1 Einleitung Teil 3: Alltagsleben im Nachkriegsdeutschland
 
Noch vor Kriegsende hatten Alliierte beschlossen, Nationalsozialismus und Militarismus in Deutschland zu beseitigen, Verbrechen der Täter zu bestrafen und allen Deutschen Sühne zu verordnen.(1) Politisch sollte Deutschland demokratisch aufgestellt und die Bevölkerung umerzogen werden. Ökonomisch sollte deutsche Industrie auf Vorkriegsniveau begrenzt werden. Wiederbewaffnung und die Produktion kriegsrelevanter Güter wurden untersagt. Gemäß geopolitischer Strategie sollte Deutschland die Rolle einer Pufferzone zwischen dem westlichen und östlichen Machtblock zugewiesen werden. Der Wiederaufbau des Ruhrgebiet sollte dem industriellen Niveau von 1932 entsprechen, jedoch ohne die Bereiche Luftfahrt, Schiffsbau, Maschinenbau, Großchemie, in denen Produktion verboten wurde. Der Bergbau sollte Kohle vor allem für Energiebedürfnisse der Nachbarländer fördern.(2) 
 
Die meisten Deutschen sahen das Kriegsende nicht als Befreiung vom Nationalsozialismus, sondern als Niederlage und verstanden die Nachkriegszeit als 'Zusammenbruch' oder 'Stunde Null'. Deutschlandpolitik der alliierten Besatzungsmächte war aus Sicht deutscher Bevölkerung Siegerpolitik. Kriegsverbrechen in Kriegsgebieten und nationalsozialistische Gewaltverbrechen im eigenen Land und im Ausland waren kein Geheimnis und ließen erwarten, dass Deutschland einer harten Bestrafung der Siegermächte entgegen sieht. Die Frage war lediglich, in welcher Form und wie hart.(3) Dass Deutschland jemals wieder ein lebenswertes Land sein könnte, lag jenseits menschlicher Vorstellungskraft.
 
Überlebende waren nach Kriegsende schwer traumatisiert und kämpften gegen eine katastrophale Versorgungslage weiter um das nackte Leben. Wie bereits während des Kriegs stemmten Frauen die Hauptlasten des Alltags und warteten sehnsüchtig auf die Rückkehr ihrer Männer. Ihre Charakterisierung als ‚Trümmerfrauen‘ ist jedoch zweifelhaft. Trümmerschutt räumten vor allem Zwangsarbeiter weg.(4) Als Männer nach und nach eintrafen, waren sie ihren Frauen fremd.(5) Frauen waren neben allen Gräueln des Kriegs vielfach sexueller Gewalt ausgesetzt.(6) 
 
Zahlreiche Männer kehrten nicht nur mit körperlichen Verletzungen zurück. Ein hoher Anteil unter ihnen hat sich durch Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung schuldig gemacht. Auch wenn die meisten Kriegsverbrechen ungeahndet blieben, drückte sie die Last nicht zu tilgender schwerer menschlicher Schuld. Seelische Verletzungen von Frauen, Männern, Kindern waren oft die schwereren Verletzungen. Therapeutische Hilfen für posttraumatische Störungen waren nicht vorgesehen. Folgen seelischer Verletzungen belasteten über Jahrzehnte Generation der Betroffenen und Nachfolgegeneration der ‚Kriegsenkel’, der wir angehören.(7)

Neben allen seelischen und körperlichen Leiden drückte eine materielle Notlage auf das Leben der Menschen. Aus Kriegsgefangenschaft und aus ländlichen Räumen in Städte zurückkehrende Menschen mussten im noch verbliebenen Wohnraum zusammenrücken, der jedoch nicht ausreichte, weil zusätzlich ca. 12 Mio. Flüchtlinge aus ehemals deutschen Ostgebieten nach Westen drängten(8) und sich bei Kriegsende ca. 6,5 Millionen Displaced Persons (Heimatlose) in Deutschland befanden: sowjetische Kriegsgefangene, ausländische Zwangsarbeiter, ausländische Flüchtlinge (Kollaborateure), befreite KZ-Insassen.(9) Da Wohnraum nicht ausreichte, mussten mehrere Millionen Menschen in geräumten KZ’s, Zwangsarbeiterlagern oder provisorisch errichteten Barackenlagern untergebracht werden. Allein in der amerikanischen Besatzungszone wurden ca. 450 Lager eingerichtet. In den westlichen Besatzungszonen und in Berliner Westsektoren bestanden insgesamt 1800 DP-Camps und DP living zones.(10)

Märkte waren in der Nachkriegs-Versorgungslage zusammengebrochen. Von Alliierten zugeteilte Lebensmittelkarten sollten die Versorgung sichern, aber an den Ausgabestellen waren oft keine Lebensmittel zu erhalten. Diese wurden auf Schwarzmärkten in Zigarettenwährung gehandelt.(11) Im Hungerwinter 1946/1947 brach in städtischen Zentren die Lebensmittelversorgung zusammen. Nach Schätzungen starben mehrere hunderttausend Menschen.(12) Um zu überleben, mussten viele Menschen betteln oder stehlen. Letzteres wurde als 'hamstern' oder ‚fringsen‘ umschrieben.(13) Aufgrund der mangelhaften Versorgung streikten Arbeiter des Ruhrgebiets massiv. Mit Inkrafttreten des Marshallplans verbesserte sich die Versorgungslage ab 1948.(14)
 
 
2 Aufarbeitung von NS- und Kriegsverbrechen: „Ein Täter und 60 Millionen Gehilfen“
 
„Die alten Nazis waren in der jungen Bundesrepublik überall - in der Verwaltung, in der Justiz, in den Parlamenten. Die Nazi-Richter hatten das Hakenkreuz von der Robe gerissen und richteten weiter. Die Jura-Professoren hatten die braunen Sätze aus ihren Büchern radiert und lehrten weiter. Die Beamten hatten Adolf Hitler von der Wand gehängt und verwalteten weiter. Die Nazi-Juristen waren in besonders hoher Konzentration dort, wo das Recht sein Zuhause hat: im Bundesministerium der Justiz.“(15)
 
In der Breite nahmen Aufarbeitungen der Verstrickung von Eliten in NS-Vergangenheit erst in den 1990 Jahren durch Initiativen einer demokratisch gesinnten kritischen Nachkriegsgeneration allmählich Fahrt auf. Zu diesem Zeitpunkt war ein großer Anteil der Eliten aus Altersgründen nicht mehr zur Verantwortung zu ziehen, wenn sie nicht bereits verstorben waren. Strafrechtlich relevant waren aus Gründen von Verjährung ohnehin nur noch Morde. 
 
Kritische Aufarbeitungen der Vergangenheit leistete teilweise deutsche Hochkultur von Wissenschaft, Literatur, Malerei, Film, aber gegen Widerstand von Politik. Heinrich Böll und Siegfried Lenz wollten 1948 bzw. 1952 Antikriegsromane veröffentlichen, die jedoch nicht verlegt werden durften.(16) Die Aufarbeitung von Kriegsverbrechen begann erst in den 1980er Jahren. Mediale Aufbereitungen von Erkenntnissen in Dokumentationen stießen auf massiven Widerstand in der Bevölkerung und auf Proteste politischer Prominenz, u.a. durch Helmut Schmidt und Richard von Weizsäcker.(17) Eine von Jan Philipp Reemtsmas Institut für Sozialforschung 1999 organisierte Wehrmachtsausstellung musste aufgrund von Protesten zurückgezogen werden. Die beauftragte Historikerkommission fand zwar in ihrer einjährigen Untersuchung Fehler, Ungenauigkeiten und Flüchtigkeiten, aber insgesamt stellte sie fest,
 
dass „die Grundaussagen der Ausstellung über die Wehrmacht und den im ‚Osten’ geführten Vernichtungskrieg der Sache nach richtig“ seien. Die Ausstellungsautoren hätten insgesamt intensive und seriöse Quellenarbeit geleistet, und die Ausstellung enthalte „keine Fälschungen“.(18)
 
In der breiten Bevölkerung ist ein Umdenken noch nicht angekommen. Dort wird dem Bild grausamer sowjetischer Soldaten noch immer der gefälschte Mythos ritterlicher deutscher Soldaten entgegengehalten.(19,20) Nach dem Zweiten Weltkrieg sieht sich die Generation der NS-Zeit überwiegend nicht als Täter, sondern als von Hitler und seinen Rädelsführern zur Mitwirkung an Verbrechen gezwungene Gehilfen und beansprucht für sich Opferrollen. 

Eliten können ihre Verstrickungen in Verantwortung für NS- und Kriegsverbrechen nicht vollständig verbergen, aber sie breiten den Mantel des Schweigens aus und hüllen sich in Sprachlosigkeit. Hauptverantwortliche tauchen teilweise mit neuer Identität im Ausland unter.

 
2.1 Entnazifizierung- und Kriegsverbrecherverfahren
 
Links: Massengrab der Judenvernichtung 1944 in Babi Jar - Mitte: Nürnberger Hauptkriegsverbrecher-Prozess
Rechts: Göring, Heß, von Ribbentrop, Keitel (vorne), Dönitz, Raeder, von Schirach und Sauckel (hinten)

  
In den westlichen Besatzungszonen mussten sich 2,5 Millionen Deutsche in 5 Kategorien dem Verfahren der Entnazifizierung stellen.(21,22) Im Stil zunächst akribisch durchgeführte Untersuchungen hätten Verfahren mehrere Jahrzehnte benötigt. 1946 entschieden Kontrollräte der Besatzungsmächte, Verantwortung für die Verfahren in den Westzonen an deutsche Behörden zu übertragen und machten damit den Bock zum Gärtner und Täter zu Opfern. Nationalsozialistische Protagonisten entlasteten sich mit gegenseitig ausgestellten ‚Persilscheinen‘ und mutierten zu Widerstandskämpfern. Sie ließen belastende Dokumente verschwinden, beugten Recht und Gesetz zu ihrem Vorteil und konnten auf diesem Wege unter Mithilfe von Netzwerken und alter Seilschaften unbehelligt Karriere machen oder in Führungsaufgaben öffentlicher Einrichtungen und privatwirtschaftlicher Organisationen zurückkehren.
 
Unter Verantwortung deutscher Behörden fiel die Verteilung von ursprünglich 2,5 Millionen Verdachtspersonen entsprechend aus:
  • 1,4 % wurden als Hauptschuldige (Kategorie 1) und Belastete bzw. Aktivisten (Kategorie 2) identifiziert, von denen 5.025 verurteilt wurden. Von 806 Todesurteilen wurden 486 vollstreckt. Personen der Kategorie und 2 durften nicht im öffentlichen Dienst beschäftigt werden.(23)
  • 9,4 % galten als minderbelastet (Kategorie 3). In einer Bewährungsfrist von 3 Jahren waren leitende Tätigkeiten verboten.
  • 54 % galten als Mitläufer (Kategorie 4) und durften ohne Einschränkungen im öffentlichen Dienst beschäftigt werde. 
  • 0,6 % galten als entlastet (Kategorie 5).
Nach Gründung der Bundesrepublik unternahm die im Parlament überrepräsentierte Beamtenschaft erfolgreiche Anstrengungen, durch Entnazifizierungsverfahren entstanden Flurschäden durch Wiedereinsetzung und Durchsetzung von Versorgungsansprüchen zu bereinigen. Am 1. April 1951 trat das Entnazifizierungsschlussgesetz in Kraft und ermöglichte Personen der Gruppen 3 - 5 die Rückkehr in den öffentlichen Dienst.(24)
 
Im Nachhinein gilt das Entnazifizierungsverfahren als Prozess kollektiver Umerziehung aus mehreren Gründen als weitgehend gescheitert. Es hat nicht bewirkt, dass die Masse der Bevölkerung eigene Schuld über begangenes Unrecht einsah, sondern Strategien entwickelte, die es ermöglichten, Unrecht mit dem Mantel des Schweigens zu verhüllen.(25,26) Der Historiker Norbert Frei konstatiert, dass sich die Entnazifizierung von einem zunächst ernsthaften und folgenreichen Säuberungsverfahren zu einer politischen Rehabilitierungsmaschine verwandelt hat.(27) Absolution von fragwürdiger politischer Moral erteilte das Straffreiheitsgesetz von 1954.
 
Kriegsverbrecher-Verfahren gegen führende Repräsentanten des NS-Deutschlands fanden zwischen dem 20. November 1945 und dem 14. April 1949 in insgesamt 13 Prozessen im Justizpalast Nürnberg statt. Wegen des Ortes der Verfahren sind die Prozesse als Nürnberger Prozesse in die Geschichte eingegangen.(28) Im Hauptprozess waren 24 deutsche und österreichische Hauptkriegsverbrecher angeklagt, von denen 22 verurteilt wurden, davon 12 zum Tod durch Strang. In 12 Nachfolgeprozessen waren 185 führende Repräsentanten des NS-Deutschlands vor einem US-amerikanischen Militärtribunal angeklagt. 35 Angeklagte wurden freigesprochen, 24 zum Tode verurteilt, 20 zu lebenslanger Haft und 98 zu Freiheitsstrafen zwischen 18 Monaten und 25 Jahren. Für 24 zum Tode Verurteilte setzte sich der spätere Bundeskanzler Konrad Adenauer ein. 12 Urteile wurden vollstreckt, 11 zu Haftstrafen begnadigt. Ein Verurteilter wurde an Belgien ausgeliefert und starb dort in Haft.
 
Anfang 1951 befanden sich knapp deutsche 1800 Kriegsverbrecher in Haft. Seit 1945 hat sich das politische Klima zumindest in Westdeutschland stark verändert und Rechtsprechung alliierter Siegermächte zunehmend als ungerechte Siegerjustiz betrachtet. Die in Anbetracht des monströsen Kriegsgeschehens geradezu peinliche oder lächerliche Zahl von weniger als 1800 Inhaftierten wurde in der deutschen Öffentlichkeit völlig anders bewertet. Verurteilte Inhaftierte Kriegsverbrecher wurden zu "sogenannten Kriegsverbrecher" bzw. zu "Kriegsgefangene".(29) Forderungen nach Amnestie wurden lauter und unterstützten von der Bundesregierung, Kirchen und anderen Großverbänden betriebene Amnestiepolitik. 

 
2.2 Beispiele des Umgangs mit Verantwortung und Schuld in Rechtsprechung und Politik
 
Anfang November 1943 trieben ca. 2000 Angehörige der SS und des Polizei-Bataillons 101 ca. 43.000 Juden aus mehreren Lagern in Polen zusammen, um sie in der Aktion Erntefest in einer Massenexekution zu erschießen. Der militärisch ranghöchste Verantwortliche der Aktion wurde in Polen zum Tode verurteilt und 1952 hingerichtet. In Deutschland wurde erst 2017 und lediglich ein niederrangiger Angehöriger der SS angeklagt. 2018 wurde das Verfahren eingestellt, weil der 96-Jährige verhandlungsunfähig war.(30)

Das Polizei-Bataillon 101 war an der Ermordung von mindestens 38.000 Juden und an der Deportierung von mindestens 45.000 Juden in Vernichtungslagern beteiligt. Ab 1958 ermittelten deutsche Behörden gegen 210 Angehörige des Bataillons. Gegen 14 von ihnen wurde Anklage erhoben, von denen 5 verurteilt und 6 Schuldsprüche ohne Haftstrafen erklärt wurden. In Nachfolgeinstanzen wurden Haftstrafen von 2 Angeklagten reduziert und Verurteilungen von 2 Angeklagten in Schuldsprüche ohne Haftstrafen abgesenkt.(31)

Der SS-Standartenführer Martin Sandberger war bis zu seinem Tod 2010 ranghöchster überlebender SS-Offizier. Als einer der Hauptverantwortlichen des Völkermords im Baltikum wurde Sandberger in einem Nachfolgeprozess der Nürnberger Prozesse 1948 zum Tode verurteilt.(32) Sandberger hatte als Leiter des Einsatzkommandos das Estland "judenfrei" gemacht und war für die Ermordung zahlreicher Kommunisten verantwortlich.(33) Der amerikanische Hochkommissar John Jay McCloy, eine im Milieu von Geheimagenten sozialisierte zwielichtige Persönlichkeit, verkürzte unter nicht abschließend geklärten Umständen Haftstrafen etlicher prominenter Verurteilter der Nürnberger Prozesse, bewilligte Gnadengesuche und änderte das Urteil gegen Sandberger in lebenslange Haft.(34,35)
 
Carl Friedrich von Weizsäcker (Bruder von Richard von Weizsäcker) war mit Sandbergers Schwester verheiratet. Der Jurist Hellmut Becker war Mitglied der NSDAP, was er verschwieg, und teilte vor 1945 zeitweilig ein Haus mit Carl Friedrich von Weizsäcker, mit dem er freundschaftliche Kontakte pflegte. Nach 1945 waren Becker, Carl Friedrich von Weizsäcker und Carlo Schmidt Mitglieder im Schulvorstand des Privatinternats Birklehofs, eine Schwesternschule von Schloss Salem. Im Nürnberger Prozess verteidigte Becker mit Richard von Weizsäcker als Adlatus den als Kriegsverbrecher verurteilten Vater Ernst von Weizsäcker.

Der Jurist Martin Sandberger war vor 1945 Referendar bei Carlo Schmidt. Der Jurist und Staatsrechtler Carlo Schmidt war nach 1945 Vorsitzender der SPD-Fraktion und Vize-Präsident des Bundestages. Nach der Verurteilung Sandbergers als Kriegsverbrecher vertrat Becker 1951 auf Wunsch von Carl Friedrich von Weizsäcker und Carlo Schmidt Martin Sandberger in einem Revisionsverfahren. Schmidt befürwortete eine Begnadigung Beckers mit der Begründung, er sei davon überzeugt, dass die Haft Sandberger geläutert habe.
 
Nachdem Schmidts Intervention erfolglos blieb, nutze Martin Sandbergers Vater Beziehungen zum Bundespräsidenten Theodor Heuss, um eine Begnadigung seines Sohns zu bewirken. Unter Berufung auf Carlo Schmidt und auf Sandbergers familiäre Lage (kranke alte Mutter) setzte Heuss sich 1955 für Sandberger ein und begründete seine Befürwortung einer Begnadigung mit Sandbergers Läuterung und dessen mustergültigem Verhalten in der Haft. Auch Heuss blieb zunächst erfolglos. Im Mai 1958 entließen die Alliierten die letzten inhaftierten Kriegsverbrecher begnadigt aus der Haft in Landsberg. Gegen Sandberger anstehende weitere Strafverfolgungsverfahren wurden eingestellt. Bis zum Eintritt des Ruhestands war Sandberger Justiziar im baden-württembergischen Familienunternehmen Lechler.(36)   
 
Die ursprüngliche Absicht der Alliierten, Verbrechen der NS-Zeit nach elementaren Rechtsprinzipien eines Völkerrechts moralisch im Namen von Menschlichkeit zu sühnen, war innerhalb von 10 Jahren weitgehend vom Sumpf politischer Seilschaften absorbiert.
 
 
3 Restart mit Amnesie und Amnestie in runderneuerter politischer Kultur(37)
 
Größenordnungen materieller Kriegsschäden des Zweiten Weltkriegs sind in ihren Dimensionen historisch einzigartig. Von Kriegen verursachte materielle Schäden sind prinzipiell empirisch wahrnehmbar und messbar, aber materielle Schäden des Zweiten Weltkrieg sprengen jede Metrik und entziehen sich umfassenden Gesamtbewertungen. Kriege erzeugen und hinterlassen jedoch nicht nur individuelle und kollektive Schäden materieller Art. Kriege handeln auch konkurrierende politische und weltanschauliche Ideologien mit Mitteln von Gewalt aus.
 
Nach Kriegen zwischen Feinden ist eine beidseitig gewollte Versöhnung nur möglich, wenn ehemalige Aggressoren ihre Täterrolle anerkennen und sich gegenüber Opfern um Aufarbeitung von Schuld bemühen. Im Nachkriegsdeutschland war diese Bereitschaft in der Breite nicht vorhanden. Viel eher bestand die Auffassung, dass Gras über die Vergangenheit wachsen müsse, bis man ehemaligen Feinden wieder mit friedlichen Absichten begegnen könne.
 
Deutschland stand vor der Frage, wie mit Verantwortlichen der NS- und Kriegsverbrechen in Anbetracht der Beteiligung und des Mitwissens des Hauptteils der Bevölkerung umzugehen ist und ein Wiederaufbau des Landes mit Demokratisierung der Bevölkerung gelingen kann. Mit einem Volk von 60 Millionen zur Rechenschaft zu ziehenden Tätern war das nicht möglich. Andererseits waren Prozesse der Reinigung unumgänglich. 

Mangels Alternativen waren Eliten der NS-Zeit in Politik, Rechtsprechung, Wissenschaft, Wirtschaft, Kultur, Bildung der NS-Zeit für den Wiederaufbau unverzichtbar. Zur Rechenschaft wurde nur eine kleine Gruppe von Haupttätern und oft nur halbherzig gezogen. Der Hauptteil ehemaliger Eliten der NS-Zeit befand sich bald wieder in verantwortlichen Positionen. Wenn Eliten sich nicht verantworten mussten, konnte das Volk nicht abgestraft werden. Für die Paradoxie dieser allen ethischen Prinzipien widersprechenden Situation mussten Sprachregelungen gefunden werden.

Bischof und Kardinal Clemens August Graf von Galen dankte im Juni 1945 
unseren christlichen Soldaten, jenen, die in gutem Glauben, das Rechte zu tun, ihr Leben eingesetzt haben für Volk und Vaterland und auch im Kriegsgetümmel Herz und Hand rein bewahrt haben von Hass, Plünderungen und ungerechter Gewalttat“.(38)
Diese Sprachregelung war weder ein Freibrief noch ein Weg zur Versöhnung, aber sie bot überlebenden Kriegsteilnehmern eine Perspektive, mit der sie sich identifizieren konnten. Als christliche Soldaten haben sie im guten Glauben gehandelt. Herz und Hand blieben zwar nicht immer rein, aber was nicht vorzeigbar war, bedeckte Schweigen. 

Ein weltweit erinnerungswürdiges positives Symbol immaterieller deutscher Erinnerungskultur ist die Demutsgeste des Kniefalls von Willy Brandt 1970 in Warschau vor dem Mahnmal der Opfer des Warschauer Aufstands.(39,40) Ohne diese authentische Geste wäre die von der SPD-Regierung eingeleitete neue deutsche Ostpolitik der Versöhnung kaum möglich geworden. Konservative Politiker lehnten Brandts Ostpolitik ab und konservative Medien kommentierten Brandts Kniefall mit starker Ablehnung. Eine repräsentative Umfrage in der deutschen Bevölkerung ermittelte eine Mehrheit von Befragten, die den Kniefall als unangemessen oder übertrieben werteten.(38)
 
3.1 Schlussstrichpolitik unter Konrad Adenauer: „Man schüttet kein dreckiges Wasser aus, wenn man kein reines hat“(41)

Wie Deutschland seiner Verantwortung für NS- und Kriegsverbrechen gerecht wird und sich gleichzeitig als westlich geprägte Demokratie neu erfinden kann, war eine der zentralen politischen Fragen der Nachkriegszeit. Antworten liegen nicht auf der Hand. Schuldbekenntnisse hätten den Weg geebnet, aber sie hätten Konsequenzen erfordert. Umwege über Buße respektive Sühne hätten den Weg in die Zukunft auf nicht absehbare Zeit verbaut. Das Dilemma zwischen  Ausgrenzung und Integration von NS-Tätern löste deutsche Nachkriegspolitik im Interesse der nahezu gesamten in NS-Politik verstrickten Elite pragmatisch auf. Sie legte Priorität auf Zukunft und entschied sich für die Integration von NS-Tätern und gegen eine gründliche Aufarbeitung der Vergangenheit. Haupttäter mussten sich selbstverständlich verantworten, aber der größte Teil von Elite und Bevölkerung galt als Mitläufer. Grenzverläufe zwischen Täterschaft und Mitläufertum blieben unscharf und wurden je nach Bedarf geschmeidig angepasst.

Nach außen musste Politik Formen finden, die Eindrücke einer verantwortungsbewussten Auseinandersetzung mit der Vergangenheit symbolisch repräsentieren. Zahlreiche nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene und geförderte Museen, Gedenkstätten, Mahnmale, Gedenktafeln etc. sowie Gedenkveranstaltungen dienen dieser Aufgabe als Symbole einer kollektiven Erinnerungskultur an NS- und Kriegsverbrechen. Der Wert diese Erinnerungskultur wird fragwürdig bzw. als Alibi-Funktion offensichtlich, wenn kollektive Verantwortung auf prinzipielle Ablehnung stößt und Bereitschaft zur Übernahme individueller Verantwortung fehlt.
 
Politik der Regierung Adenauer folgte dem in Deutschland verbreiteten Schlussstrichdenken. Konrad Adenauer war kein Mitglied der NSDAP und eher ein Gegner der Nationalsozialisten, aber er war auch kein Mitglied des aktiven Widerstands, sondern er versuchte, sich mit der politischen Realität zu arrangieren. Diese Haltung und seine autoritär-patriarchalische Persönlichkeit prägten seine Politik nach 1945. Adenauer war klar, dass für den Wiederaufbau Deutschland Kompetenzen von Protagonisten der NS-Zeit benötigt werden. Daher geht dieses Schlussstrichdenken mit einer mehr als fragwürdigen Amnestiepolitik einher. Ob das Adenauer zugeschriebene Zitat „Nehmen Sie die Menschen wie sie sind, andere gibt es nicht“ authentisch ist, lässt sich nicht belegen, aber es charakterisiert Adenauers Denkweise. 1952 erklärte er im Bundestag:
"Ich meine, wir sollten jetzt mit der Nazi-Riecherei Schluss machen. Denn verlassen Sie sich darauf: Wenn wir damit anfangen, weiß man nicht, wo es aufhört."(42)
 
Im Sinne der von Adenauer betriebenen Politik benannte der Leitartikel "Die Gloriole der Kriegsverbrecher" der Frankfurter Allgemeinen vom 7.1.1952 politisch anvisierte Trennungslinien entlang von Klassengrenzen. 
"Für die NS-Verbrechen sollten, soweit von den Alliierten dingfest gemacht, die unmittelbaren Mörder und Schläger büßen, die dem gängigen Wunschbild zufolge aus der Unterschicht kamen, daneben vielleicht noch ein paar Aufsteiger, die sich die Hände schmutzig gemacht hatten. Die bürgerlichen Schreibtisch- und Gesinnugstäter aber, die Angehörigen der Funktionseliten und natürlich ganz generell die Soldaten sollten nun endlich vom Makel der Mitverantwortung befreit und aus der Haft entlassen werden."(43)
 
Damit nicht genug. Als Bundeskanzler machte Adenauer den Nazi Reinhard Gehlen zum Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes(44) und holte ausgerechnet den an der Ausarbeitung und Kommentierung von Rassegesetzen beteiligten Juristen Hans Globke 1949 in das Kanzleramt. Er machte Globke als graue Eminenz zu einem seiner wichtigsten Berater und von 1953 bis 1963 zum Chef des Bundeskanzleramts.(45) Globke und Gehlen arbeiteten eng zusammen und bildeten Adenauers Schutzschild gegen Nazi-Riecherei. Globke belastende Dokumente wurden bis zu dessen Tod im Jahr 1973 unter Verschluss gehalten. Recherchen zeigten nach 1973 dessen tiefe Verstrickung in NS-Vergangenheit.(46)
 
 
3.2 Haltung und Politik der Bundespräsidenten 1949 - 1994(47)
 
Die ersten Bundespräsidenten der Nachkriegszeit waren keine Mitglieder der NSDAP und fielen nicht als NS-Anhänger auf, aber eine lupenreine Weste hatten sie nicht und sie konnten sich nicht als Widerstandskämpfer ausgeben. Ihnen oblag die Aufgabe, rhetorisch verklausuliert Unmögliches zu leisten, Menschen für Demokratisierungsprozesse begeistern, ohne Verantwortung und Schuld auszublenden, aber sie auch nicht zuzuteilen. 

Theodor Heuss (1884-1963), erster Bundespräsident (1949-1959)(48), positionierte sich als Abgeordneter der Deutschen Staatspartei deutlich gegen die NSDAP, aber am 23.03.1933 hat er dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt, das die gesetzgebende Gewalt auf die Reichsregierung unter Hitler übertrug. Kurz nach der Ernennung zum Bundespräsidenten erklärte Heuss am 7.12.1949 in einer Rede:
 
„Es ist undenkbar, dass die Mehrheit aller Deutschen verdammt werden soll. Das würde der Billigung des Begriffes der Kollektivschuld gleichkommen. Und daraus würde logischerweise Massenbestrafung folgen, für die es keinen Präzedenzfall im Völkerrecht und keine Rechtfertigung in den Beziehungen zwischen den Menschen gibt.“ […] „Das Wort Kollektivschuld und was dahinter steht ist eine zu simple Vereinfachung. Aber etwas wie Kollektivscham ist aus dieser Zeit gewachsen und geblieben. Denken Sie, was der Hitler uns antat – und er hat uns viel angetan – ist doch dies gewesen, dass er uns in die Scham gezwungen hat, mit ihm und seinen Gesellen den Namen Deutsche zu tragen.“(49)

Gemäß Rechtsempfinden eines großen Teils der Bevölkerung zog vermeintliche ‚Siegerjustiz’ Protagonisten der NS-Zeit zur Verantwortung. Aus Sicht der Bevölkerung war dieser Sachverhalt zwar völkerrechtlich fragwürdig, aber unvermeidbar und hinzunehmen, wenn anschließend ein Schlussstrich unter Fragen individueller Verantwortung gezogen würde. Mit Heuss konnten sich die meisten Deutschen arrangieren, weil sie dessen Argumente als ein Schlussstrich-Manöver des Umlenkens von Verantwortung auf Fremdscham bezüglich Hitler verstanden. Heuss wollte jedoch keineswegs das verbreitete Schlussstrichdenken fördern, sondern er dachte an Prozesse der Selbstreinigung, denen sich die Bevölkerung jedoch nicht aussetzen wollte. Daher sah sich Heuss veranlasst, am 30.11.1952 bei einer Ansprache in der KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen zu erklären: „Wir haben von den Dingen gewusst“.(50) Die Rede erzeugte großes Echo, bewirkte aber nichts.

Heinrich Lübke (1894-1972), Nachfolger als Bundespräsident 1959-1969, war bereits in der NS-Zeit eine ambivalente Figur.(51) 1934/35 saß Lübke 20 Monate wegen Vorwürfen von Korruption in Untersuchungshaft. Ab 1937 nahm er als Reserveoffizier an Übungen der Wehrmacht teil und wurde bis zum Hauptmann befördert. Beruflich arbeitete er als Vermessungsingenieur und Bauleiter einer Albert Speer unterstehenden Baugruppe, die Zwangsarbeiter aus KZs für ihre Arbeiten anforderte. Unter Lübke als Bauleiter errichtete die Baugruppe Baracken für die Unterbringung von Zwangsarbeitern aus KZs. Dokumente aus der DDR diffamierten Lübke als „KZ-Baumeister“. Die Echtheit der Dokumente ist strittig.(52) Als sicher gilt, dass sie Lübkes Rolle verfälschend überzeichnen und Lübke 1969 zum Rücktritt zwangen. Als Bundespräsident leistete Lübke keine substanziellen Beiträge zur Aufarbeitung der NS-Zeit und machte Entwicklungspolitik zu seinem Hauptanliegen.
 
Gustav Heinemann (1899-1976), Bundespräsident 1969-1974, war kein Mitglied der NSDAP, aber er war Mitglied in zwei NS-Organisationen, die er nicht angegeben hatte.(53) In der Nachkriegszeit engagierte sich Heinemann als Gegner der Wiederbewaffnung und der Atombewaffnung in der Friedensbewegung. Als Befürworter zahlreicher Reformen verschaffte sich Heinemann insbesondere in der kritischen Nachkriegsgeneration Respekt. Die Aufarbeitung der NS-Zeit war für ihn kein relevantes politisches Thema.
 
Beide Nachfolger, Walter Scheel (1919-2016), Bundespräsident 1974-1979(54), und Karl Carstens (1914-1992), Bundespräsident 1979-1984(55), waren Mitglieder der NSDAP. Beide machten durch Wanderungen in Deutschland auf sich aufmerksam. An Aufarbeitungen der NS-Zeit zeigten sie kein Interesse. Ohne Aufsehen zu erregen, erklärte Walter Scheel bereits 1975 in einer Rede zum Ende des Zweiten Weltkriegs: „Wir wurden von einem furchtbaren Joch befreit, von Krieg, Mord, Knechtschaft und Barbarei. […] Aber wir vergessen nicht, dass diese Befreiung von außen kam.“(56)
 
Erst Richard von Weizsäcker (1920-2015), Bundespräsident 1984-1994(57), leitete 1985 bezüglich Vergangenheitspolitik einen politischen Paradigmenwechsel ein. Anlässlich des 40. Jahrestags der Beendigung des Zweiten Weltkriegs sprach Weizsäcker im Bundestag in einer bis dahin beispiellosen Offenheit von der schweren, durch Vorfahren hinterlassenen Erbschaft. Er forderte von allen Deutschen die Annahme der Vergangenheit und erklärte: 
„Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“(58)
 
International fand diese Aussage große positive Resonanz. Umstritten war sie in der deutschen Kriegsgeneration und in konservativen Kreisen. Kritische Köpfe bemängelten Verkürzungen:(59)
  • 31 Abgeordnete der CDU und CSU blieben der Rede demonstrativ fern. Alfred Dregger und Franz-Josef Strauß widersprachen Weizsäcker und forderten Schlussstriche unter der Vergangenheitsbewältigung.
  • Der Historiker Ernst August Winkler merkte kritisch an, dass die Verantwortung von Eliten für die Zerstörung der Weimarer Demokratie und den Erfolg Hitlers unerwähnt blieb.
  • Der Historiker Henning Köhler kritisierte, dass Weizsäcker die Fiktion eines antifaschistischen befreiten Deutschlands geschaffen habe.
  • Der Kulturwissenschaftler Matthias N. Lorenz kritisierte an der Rede die Verengung von NS-Tätern auf Hitler und seine Führungsschicht.
Zum Zeitpunkt der Rede war öffentlich nicht bekannt, dass Weizsäcker ursprünglich beabsichtigte, sich zum Abschluss seiner Rede für die Begnadigung von Rudolf Heß einzusetzen, Hitlers Stellvertreter der NSDAP-Leitung und einer von 24 Hauptangeklagten des Nürnberger Prozesses, der als Hauptkriegsverbrecher zu lebenslanger Haft verurteilt war. Bereits Gustav Heinemann  hatte sich 1974 für dessen Begnadigung eingesetzt und die Bundesregierung hatte 1984 zu Heß’ 90. Geburtstag ein Gnadengesuch gestellt hatte.(60) Weizsäckers Berater und Redenschreiber konnte ihn buchstäblich im letzten Momente davon überzeugen, diesen Passus zu streichen, um die Wirkung der Rede nicht zu zerstören.(61) In seiner Weihnachtsansprache 1985 holte Weizsäcker das Gnadengesuch nach.(62) Die Sowjetunion verhindert per Veto die vorzeitige Entlassung aus dem Gefängnis. Heß starb 1987 im Gefängnis Spandau durch Suizid.(63)
 
Hinsichtlich seiner undurchsichtigen und historisch weitgehend unaufgearbeiteten Vergangenheit als Offizier der deutschen Wehrmacht blieb Weizsäcker verschwiegen. Aussagen bekannter Persönlichkeiten vermitteln Skepsis gegenüber Weizsäckers Persönlichkeit:(64)
  • Weizsäckers Sohn Fritz erklärte 2010 in einem Interview, dass sich sein Vater nur an das erinnere, an das er sich erinnern wolle, und an das andere nicht.
  • Marcel Reich-Ranicki erklärte in einem Gespräch mit Frank Schirrmacher, ihm sei immer klar gewesen, dass die Weizsäckers mehr „braunen Dreck am Stecken“ hätten, als sie zugäben. Im gleichen Gespräch stellte Frank Schirrmacher die „Glaubwürdigkeit des Unschuldsengels Richard von Weizsäcker“ infrage.
  • Publizist, Filmemacher und Moderator Roger Willemsen stellte 1990 in einem Beitrag der Zeitschrift Konkret fest, Weizsäcker sei „unerreichbar für Einwände und in seinen Antworten auf rare kritische Fragen schnell scharf“.
  • Die Journalistin Martina Fietz bezeichnete Weizsäcker als Symbol der Ambivalenz weiter Teile seiner Generation.
  • Helmut Kohl beschrieb Weizsäcker 2002 in einem Interview als einen „der größten Anpasser in der Geschichte der Republik“.

3.3 Amnestie-Politik nach 1945

Fehlende Einsichten in Schuld und Verantwortungen korrespondieren mit Forderungen nach Schlussstrichen bzw. nach Tabula rasa und legitimieren politisch nach 1945 mehrere Amnestie-Wellen. Amnestien können je nach politischem und verfassungsrechtlichem Kontext eine rechtsstaatliche Demokratie stärken, aber auch aushöhlen. In der sozialen Realität verbreiteten sich beide Effekte.(65) Ob Amnestien alternativlos waren, ist eine diskutierbare Frage. Dass Amnestien zum politischen und wirtschaftlichen Neuaufbau beigetragen haben, ist nicht von der Hand zu weisen. Offenkundig ist auch, dass die Amnestie-Politik nach 1945 einen mentalen Neuaufbau zugunsten aufgeklärter Demokratie sowie die Glaubwürdigkeit von Erinnerungskultur an NS-Zeit be- und auch verhinderten.
  • Im Dezember 1949 brachte die Adenauer-Regierung ein erstes Amnestiegesetz mit der Begründung auf den Weg: „Wir haben so verwirrte Zeitverhältnisse hinter uns, dass es sich empfiehlt, generell Tabula rasa zu machen.“ Das Straffreiheitsgesetz trat am 1.01.1950 in Kraft. Bis zum 31.01.1951 wurden 792.176 Personen amnestiert.(66) Vordergründig ging es um bestraftes illegales Verhalten nach der Kapitulation wie Schwarzschlachten, Schwarzbrennen von Schnaps, Schwarzmärkte, Diebstahl von Lebensmitteln. Tatsächlich zielte das Gesetz auf das Beenden alliierter Entnazifizierungspolitik ab und bezog auch Straftäter der Kriegs- und Vorkriegszeit ein. Wieviele Täter der NS-Zeit von dem Gesetz profitierten, wurde nicht dokumentiert.(67)
  • Eine andere Initiative der Adenauer-Regierung ermöglichte die Wiedereinstellung von 160.000 Beamten der NS-Zeit, die von Alliierten wegen ihrer Vergehen aus Staatsdiensten entfernt worden waren.(68)
  • Das zweite Straffreiheitsgesetz von 1954 ging deutlich weiter als das erste Straffreiheitsgesetz und amnestierte weitere 400.000 Straftäter, darunter erneut NS-Täter mit schweren Vergehen. Das Gesetz zog im Sinne von Selbstrehabilitation und -legitimation der Bundesrepublik einen Schlussstrich unter Entnazifizierungsverfahren. Es erlaubte Tätern, sich auf einen Befehlsnotstand zurückzuziehen und verhinderte weitgehend neue Ermittlungsverfahren.(69) Auswirkungen des Gesetzes beschreibt der Politikwissenschaftler Joachim Perels. U.a. amnestierte das OLG Hamm Mitarbeiter unterer Ränge der Gestapo, die Kriegsgefangene erschossen hatten, weil das Gericht die Nichtausführung der Tötung als unzumutbar wertete.(70)
  • Auf weitere Amnestieregelungen verweist der Politikwissenschaftler Joachim Perels in einem 1995 in der Zeitschrift Kritische Justiz veröffentlichten Beitrag.(71)

3.4 Der Verjährungsskandal 1969 der Großen Koalition unter Kanzler Kurt Georg Kiesinger
 
Eine Regierungskrise bewirkte 1966 das Auseinanderbrechen der Regierungskoalition CDU/FDP mit Ludwig Erhard als Kanzler. Erhard war kein Mitglied der NSDAP. Der Jurist Richard Jaeger, Justizminister der Regierung Erhard, war Mitglied der NSDAP und der SA. 1951 sprach sich Jaeger für eine Begnadigung aller zum Tode verurteilten deutschen Kriegsverbrecher aus, trat aber selbst für die Todesstrafe ein, weshalb Herbert Wehner ihn als „Kopf-ab-Jaeger“ bezeichnete.(72)

Ab 1966 bildeten CDU und SPD eine Regierungskoalition mit dem Juristen Kurt Georg Kiesinger als Kanzler.(73) Kiesinger war Mitglied der NSDAP und galt zur NS-Zeit als begeisterter Anhänger der NS-Politik, was er selbst bestritt. Kiesinger wurde als Mitläufer mit 18 Monaten Haft entnazifiziert und auf eigenes Betreiben 1948 entlastet. 1968 besuchte Kiesinger die faschistischen Diktatoren Caetano in Portugal sowie Franco in Spanien und kommentierte seine Besuche mit positiven Eindrücken:(74)
  • Zu Caetano soll Kiesinger erklärt haben: „Ich bin glücklich, daß ich in hohem Maße mit Ihrer Auffassung übereinstimme.“ 
  • Bei Franco beeindruckte Kiesinger "die präzise Analyse und die Klarheit seiner Gedanken".
Unter der Regierung Kiesinger wurde im Kontext einer Strafrechtsreform 1968 das Ordnungswidrigkeitengesetz durch das Einführungsgesetz zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten (EGOWiG) neu geregelt.(75) Hauptverantwortlich für den Entwurf des Gesetztes war der Jurist und hohe Ministerialbeamte Eduard Dreher. Dreher war Mitglied der NSDAP und wirkte in der NS-Zeit als Staatsanwalt und war als einer von Hitlers blutigen Schergen berüchtigt.(76) Entgegen der beabsichtigten Entkriminalisierung von Bagatelldelikten bewirkten juristisch verklausulierte Neuregelungen, dass der überwiegende Teil aller an Morden beteiligten, aber bisher unbestraften NS-Täter in den Genuss von Verjährung kamen, was erst journalistische Medien als „Verjährungsskandal“ bzw. „kalte Amnestie“ aufdeckten.(77)

Unsicher ist, ob allen Parlamentariern bei ihrer Zustimmung Konsequenzen der Neuregelung bewusst waren oder ob es einen Konsens des Schweigens gab. Als sicher gilt, dass die Neuregelung keine „Panne“ war, sondern von Dreher bewusst in der Neuregelung versteckt wurde. Die historische Forschung nimmt an, dass Dreher vom Juristen Ernst Achenbach angestiftet wurde, Politiker des rechten Flügels der FDP nach 1945.(78) Zur NS-Zeit war Achenbach in Frankreich an Judenverfolgungen beteiligt. Als Parlamentarier pflegte er zusammen mit Friedrich Middelhauve Kontakte zu einer Gruppe ehemaliger Nationalsozialisten um Werner Naumann, ehemals Staatssekretär von Hitlers Reichspropagandaleiter Joseph Goebbels.(79)

 
4 Schlussbetrachtung
 
4.1 Was war?
 
Die eigenen Eltern waren überzeugte Anhänger der parlamentarischen Demokratie und haben sich regelmäßig per Tageszeitung, Rundfunk, Fernsehen politisch informiert. Sie haben keine Wahl ausgelassen und klassenbewusst prinzipiell SPD bzw. Kandidaten der SPD gewählt. Vermutlich zur eigenen Rechtfertigung vermittelten die Eltern mitunter dennoch, dass der Nationalsozialismus keineswegs nur schlecht war. Positiv hoben Eltern hervor, dass Hitler nach der Krise der Weimarer Zeit für einen wirtschaftlichen Aufschwung mit Vollbeschäftigung sorgte, soziale Ordnung herstellte und Deutschland aus von Siegermächten des Ersten Weltkriegs aufgezwungener Demut befreit wurde. Der Angriff auf Russland galt jedoch als Fehler. Ohne diesen Fehler hätte Deutschland seine Macht in Europa ausbauen können. Ob ein Leben als „Herrenmenschen“ besser und einfacher geworden wäre, sei jedoch mehr als fraglich. 
 
Judenvernichtung und Euthanasie verurteilten die Eltern uneingeschränkt, gewusst hätten sie jedoch über diese Vorgänge nichts. Euthanasie habe heimlich stattgefunden. Dass Juden verachtet, angegriffen, verfolgt und deportiert wurden, habe zwar jeder mitbekommen, aber die Vernichtung von Juden sei erst von Besatzungsmächten aufgedeckt worden. Vorher seien lediglich Gerüchte kursiert. Zu eigener Schuld und eigenem Versagen haben sich die Eltern nicht bekannt. Sie seien nur kleine Lichter gewesen. Die Politik habe an anderer Stelle hinter Kulissen stattgefunden. In Erzählung der Eltern über die NS-Zeit war immer ein Schamgefühl spürbar.
 
Die öffentliche Aufarbeitung von Unrecht der NS-Zeit beschränkt sich überwiegend auf wenige Haupttäter, von denen einige recht glimpflich verurteilt und teilweise nach einer Schamfrist amnestiert wurden. Trotz aller ehemaligen Begeisterung für den Nationalsozialismus und der Mitwirkung an der Umsetzung von NS-Zielen betrachtet sich die Kriegsgeneration überwiegend entweder als unschuldig und beruft sich auf Unwissen oder sie sieht sich als Opfer von NS-Politik, das unter Androhung oder Befürchtung harter Konsequenzen zu Handlungen gezwungen worden ist, denen es bei freiem Willen nie zugestimmt hätte. 
 
Wirtschaftseliten hatten selbstverständlich mit dem Nationalsozialismus kooperiert. Ihre führenden Köpf sahen sich jedoch als unantastbar, weil sie wussten, dass sie für den Wiederaufbau benötigt werden. Sie kamen nicht völlig ungeschoren davon und mussten sich zumindest der Entnazifizierung stellen, aber prinzipiell täuschten sie sich nicht. Sie waren bald wieder in Spitzenfunktion und konnten ihre Karrieren vorantreiben. Eine Auswahl der prominentesten Namen umfasst Herrmann Josef Abs, Friedrich Karl Flick, Reinhard Höhn, Josef Neckermann, Hans-Günther Sohl.(80) 
 
Insbesondere haben sich NS-Juristen schuldig gemacht, indem sie nicht Recht, sondern Unrecht gesprochen haben. Ab 1933 bis zum Kriegsende wurden Tatbestände der Todesstrafe von 3 auf 46 ausgeweitet und Strafmaße mit dem Ziel „rassischer Auslese“ immer mehr verschärft, sodass bereits für Bagatellvorfällen wie einfacher Diebstahl bereits die Todesstrafe verhängt wurde. Zivilgerichte sprachen in diesem Zeitraum 17.000 Todesurteile.(81) Wehrmachtsgerichte verhängten weitere 50.000 Todesurteile überwiegend wegen vermeintlicher Wehrkraftzersetzung oder Desertation.(82) Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die meisten der NS-Juristen bald wieder in Positionen der NS-Zeit und sprachen sich von jeder Schuld frei oder sie amnestierten sich rasch im Fall strafrechtlicher Verurteilungen. 

Der renommierte Historiker Norbert Frei spricht von einem "verlogenen Selbstbild", mit dem sich die juristische Elite in der Bonner Ministerialverwaltung und im Bundestag Einfluss verschaffte(83) sowie von der "Unverfrorenheit der Selbstbegünstigung in Gestalt von Freisprüchen für NS-Juristen", die "über Jahrzehnte hinweg nichts anderes als ein einziger politischer und moralischer Skandal" waren.(84) Unwidersprochen reklamiert Norbert Frei, dass sich "im Justizministerium [...] ganze Seilschaften einstiger Kriegs- und Sonderrichter [...] um die vergangenheitspolitischen Interessen ihrer Kollegen und um die Amnestierungsbedürfnisse hochrangiger SS-Täter kümmerten."(85)
 
Ähnlich wie Juristen, wenn auch etwas unauffälliger, leistete die Medizin ihren spezifischen Anteil an Verbrechen der NS-Politik. Ab 1933 verrieten Mediziner ihr ehemals humanistisches Menschenbild und stellten sich in den Dienst von NS-Politik. 1933 postulierte der NS-Ärztebund einen Paradigmenwechsel, gemäß dem nicht mehr die Gesundheit von Menschen, sondern das "Heil der arischen Rasse" von zentraler Bedeutung sei.(86) Nach 1945 schützte die "benachbarte Funktionselite" NS-verseuchter Juristen "in höchstem Feingefühl" die Ärzteschaft gegen rechtsstaatliches Vorgehen durch Verschleppung.(87)
 
Nur ein kleinerer Anteil der Kriegsgeneration ist ehrlich genug, um zuzugeben, dass ihn Opportunismus, Verblendung und Irrtümer zum Mitläufer gemacht haben. Ein noch kleinerer Anteil hat der NS-Politik nicht zugestimmt und hat aktiven Widerstand geleistet oder er ist emigriert oder, wenn das nicht möglich war, in die innere Emigration geflüchtet. Belastbare quantitative Bewertungen von Verteilungen sind kaum möglich, weil Aufarbeitungen der NS-Zeit nur für einige Organisationen, aber nie in der Breite stattgefunden haben. 

Aus öffentlichen Mitteln finanzierte Gedenkstätten, Museen, Mahnmale, Veranstaltungen etc. vermitteln scheinbar das Bild der Aufarbeitung von Unrecht der NS-Zeit und ernsthafter Erinnerungskultur. Tatsächlich handelt es sich jedoch um Symbolpolitik, die Mängel individuellen Unrechtsbewusstseins im öffentlichen Raum wie Feigenblätter verhüllt. Auszunehmen sind von diesem Verdikt mehr als 100.000 von Günter Deming seit 1992 verlegte Stolpersteine, die überwiegend durch private Patenschaften finanziert werden.(88)

Integrationsstrategien von Regierungen und Bundespräsidenten der Nachkriegszeit waren alternativlos und wären den Akteuren nicht vorzuwerfen, wenn Abgrenzungen zwischen nicht oder nur gering belasteten und stärker belasteten Personen stattgefunden hätten. Aber das war oft nicht möglich oder nicht gewollt. 
 
In dieser Situation ist die Nachkriegsgeneration unter traumatisierten Eltern in einem Klima der Verschwiegenheit und Verlogenheit aufgewachsen. Das Klima zwischen den Generationen war vergiftet und hat alle Beteiligten nachhaltig belastet und beschädigt. Der Aufstand der 68er-Generation gegen eigene Vorfahren bzw. gegen Hüter von Recht, Moral, Sitte, Anstand war unvermeidbar und als Befreiung von Altlasten alternativlos. Eine überwiegend pazifistisch ausgerichtete kritische Nachkriegsgeneration engagierte sich in der Friedensbewegung und kämpfte mit gewaltfreien Protestaktionen gegen geheimbündlerische Netzwerke eines korrumpierbaren Establishments. Altvordere reagierten gerne mit der Aufforderung: „Geh doch nach drüben, wenn es dir hier nicht gefällt.“ „Drüben“ war die DDR. Neben Generationskonflikten drohten dort zusätzlich Versorgungsprobleme und politische Repressionen. Diese Option war nur für wenige Menschen relevant, u.a. für Wolf Biermann. In Gegenrichtung von Ost nach West waren Migrationsbewegungen deutlich stärker und vermittelten der jungen Generation, zwar gegen zahlreiche Defizite agieren zu müssen, aber trotzdem im besseren Teil der Welt zu leben. 
 
Restitution von Eliten aus Ressourcen der NS-Zeit ließ gewaltbereite linksextreme Gruppen die Notwendigkeit eines mit Gewaltmitteln herbeizuführenden revolutionären Umsturzes annehmen. Die erfolglosen Versuche provozierten staatspolitische Gegenreaktionen, die Vertrauen einer pazifistischen Jugend in staatliche Ordnungspolitik eintrübten und einen Politisierungsschub zündeten, mit dem erst von Politik und Justiz weitgehend versäumte Aufarbeitung von Unrecht der NS-Zeit einsetzte.(89) 

Grundlegend geändert haben sich im Kontext NS-Zeit Rollen von Kircheninstitutionen. Kirchen sind durch ihr Versagen weitgehend marginalisiert. Selbst wollen sie das nicht wahrhaben und deuten Kirchenkritik fälschlich als Feindseligkeit gegenüber Religion, was ich als Unsinn werte. Eine weitere grundlegende kulturelle Veränderung betrifft die Frauenbewegung, die sich erst mit Auflösungsprozessen traditioneller Ordnungsstrukturen entfalten konnte. Ziele der Befreiung aus patriarchalischer Kontrolle und Unterwerfung sind noch nicht erreicht, aber sie rücken näher. Ob Gendern von Sprache einen substanziellen Beitrag leistet, bleibt zu Recht strittig.


4.2 Was ist? 
 
Seit 1945 liegt eine Zeitstrecke von mehr als 75 Jahren bzw. liegen ca. drei Generationen hinter uns. In dieser Zeit haben umfassende soziale, kulturelle und materielle Veränderungen stattgefunden, die als Transformationen aufgefasst werden, was nicht gleichbedeutend mit Fortschritt ist, sondern auch Seitwärtsbewegungen und Regressionen bzw. Rückschritte umfasst. Abbau des Kalten Kriegs, Zusammenbruch der Sowjetunion, deutsche Wiedervereinigung und Etablierung der EU erzeugten Euphorie und vermittelten Visionen eines demokratischen Modells westlicher Prägung auf dem Siegeszug zur globalen Ausbreitung. 

Bezüglich Fragen nach Lernerfahrung aus der NS-Zeit unterscheidet der Soziologe Mario Rainer Lepsius Arten des Umgangs mit der NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik, Österreich, DDR mit den Begriffen Internalisierung, Externalisierung und Universalisierung:(90) 
"In der Bundesrepublik wurde die NS-Vergangenheit nach langem Beschweigen als Teil der eigenen Geschichte anerkannt und somit internalisiert. In Österreich betrachtete man sich lange als erstes Opfer des Nationalsozialismus, der somit als externes Phänomen beschrieben wurde. Die DDR sah ihn als Faschismus an, also als Ausfluss des weltweit tätigen Kapitalismus. Daher schienen seine Wurzeln nicht nur in der deutschen Geschichte zu liegen, sondern im universalen Kampf zwischen Kapitalismus und Sozialismus, der mit naturgesetzlicher Notwendigkeit siegen werde."(91)
 
Lepsius will sagen, dass Deutschland durch Nationalsozialismus erteilte Lektionen gelernt und Menschen demokratische Denkweisen verinnerlicht haben. Fairerweise ist zu erwähnen, dass diese Aussage aus der Phase der Euphorie vor mehr als 10 Jahren stammt. Ohne Details oder pauschale Plattheiten zu nennen, ist erkennbar, dass diese Euphorie verflogen ist und kollektive Krisen keineswegs abgenommen haben, sondern in der Gegenwart eher zunehmen.

Der Leichenkeller ist längst nicht vollständig ausgeleuchtet, erforscht, dokumentiert, aufgeräumt. Immerhin ist zu Fragen nach Methoden und Verantwortung der Verhinderung von Aufarbeitung des Unrechts und des Schutzes von Tätern mehr Transparenz entstanden. Prinzipien politischer Gestaltung blieben jedoch unverändert und sind bis bis heute weitgehend identisch. In der Realität entstehen politische Strategien unter Einflüssen mächtiger Lobbygruppen der Wirtschaft in Hinterzimmern. Nach außen projiziert Politik Fiktionen funktionierender Demokratie. Mut zur Aufweichung formaler Demokratie zugunsten lebendiger Demokratie fehlt. Direkte Demokratie bedroht Machtmonopole und wird abgewehrt, als illegal ausgeschlossen und kriminalisiert. 
 
Wie ist dieser Sachverhalt zu erklären? Zwei Hauptgründe sind identifizierbar:
  • Interessen von Machteliten blockieren Modelle lebendiger Demokratie.
  • Das Denken eines Großteils aller Menschen ist nicht nur in Deutschland, sondern in zahlreichen globalen Kulturen, insbesondere aber im westeuropäischen Kulturraum von tief verwurzeltem, latent toxischem Rassismus beeinflusst. Deutungen europäischer Kultur als globales Fortschrittsprogramm sind rassistisch verseucht. Europäische Kultur ist eine durch kontingente Umstände seit dem 15. Jahrhundert entstandene egoistische Ausbeuterkultur, die Wohlstand auf Kosten ausgebeuteter Kulturen produziert.

4.3 Was bleibt? 
 
Die Kriegsgeneration hat sich stark darum bemüht, eigenen Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen als sie es selbst erfahren haben. Unbewusst haben sie jedoch auch Erfahrungen eigener Sozialisation unter Bedingungen der NS-Zeit weitergegeben, ohne sie offen anzusprechen. Tabuzonen der Sprachlosigkeit haben das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern nachhaltig belastet. Den Eltern fiel es schwer, eigene Kinder mit emotionaler Wärme zu umgeben, Potentiale ihrer Kinder positiv zu verstärken und ihren Kindern zu vertrauen. Umgekehrt verhinderte Verhalten von Eltern, dass Kinder ihnen vertrauen konnten. Erst nach ca. 30 Jahren Abstand zur NS-Zeit und dem erfolgreichen eigenem Studium entspannte sich in der eigenen Familie das Verhältnis zu den Eltern. Beide Seiten wurden toleranter, einsichtiger, gegenseitig wertschätzender. Diese Entwicklung setzte leider erst spät ein, aber immerhin setzte sie überhaupt ein und ermöglichte eine Neuausrichtung des Eltern-Kinder-Verhältnisses, die positive Erinnerungen hinterlässt.
 
Europäischer Wohlstand hat eine Bildungsexplosion bewirkt, Wissenschaften etabliert, Lebens- und Erziehungsstile verändert. Bildung und Wissenschaften befähigen zu kritischen Analysen und ansatzweisen Verständnissen von Komplexität. Sie zeigen aber auch Grenzen des Verstehens und ermöglichen das Erkennen von Erklärungen ohne empirische Evidenz, Irrtümern, Lügen, Unsinn. Wissenschaftliches Denken gestattet Modellierungen und Tests von Szenarien mit Zielen der Bewältigung von Krisen und der Realisierung alternativer Lebensmodelle zum Wohl nicht nur einer Elite, sondern der Menschheit. 
 
In westlichen Kulturen leben jedoch viele, vermutlich die meisten Menschen ohne ethischen Kompass mit anscheinend nachlassendem Bildungshunger vor allem für den eigenen, oftmals überflüssigen und weitgehend sinnfreien Konsum von Waren, Dienstleistungen, Drogen, Shows, Medien, Sex etc. und deren quantitative und/oder qualitative Maximierung. Das war schon vor der NS-Zeit so, pervertierte in der NS-Zeit, ist in der Gegenwart so und wird sich kurzfristig kaum ändern, solange ethische Ziele fehlen oder unverbindlich bleiben und Konsumoptionen erreichbar sind. Es gibt aber auch Menschen, die sich nicht um ihre eigene Wohlfahrt sorgen, sondern auch um das Gemeinwohl. Eigene Individualität ist nicht als prinzipiell defizitär aufzugeben, sondern sie sollte sich an solchen kollektiven ethischen Zielen ausrichten, die der Wohlfahrt einer Mehrheit dienen. So denkende und handelnde Menschen sind Hoffnungsträger unserer Kultur.
 
 
4.4 Was wird?

Wie sich die Realität unserer Lebenswelt in einigen Jahren darstellt, kann niemand vorhersagen. Trends sind erkennbar. Globales Bevölkerungswachstum und Klimawandel, global zunehmende politische Konflikte und Migrationsströme, Verwahrlosung kollektiver Güter, Erosion von Bildung etc. machen wahrscheinlich, dass bestehende Krisen zunehmen werden und nicht zu erwarten ist, dass das bereits mit dem Management dieser Krisen überforderte Modell westlicher Demokratie diese Herausforderung unter politische Kontrolle bringt, weil es selbst in einer Krise steckt.
 
Mit zunehmender Größe von Herausforderungen nehmen Kontrolle von Lebensbedingen und Vertrauen in politische Fähigkeiten von Regierungen westlicher Demokratien ab. Da ein hoher Anteil Menschen westlicher Kulturen ohne ethische Orientierung lebt, Bildungsanstrengungen vermeidet und unter Einflüssen von Werbeindustrie Sinn des Lebens im Konsum sucht und vermeintlich findet, können rechtsextreme und populistische Bewegungen dieses Vakuum besetzen und Einfluss, Durchsetzungsvermögen, Dominanz gewinnen. Autoritäre politische Systeme vermitteln scheinbar sinnstiftende Ziele, Richtungen, Wege. Was das bedeuten kann, zeigt die jüngere deutsche Geschichte. Allerdings handelt es sich nicht um ein deutsches Problem, sondern um ein Problem von Demokratiemodellen westlicher Prägung, die global durch sich ausbreitende autoritäre politische Systeme zunehmend in die Defensive geraten. Der Kampf um die Weltordnung läuft bereits. Der Ausgang ist offen, aber eine Reihe von Indizien signalisiert, dass das Verfallsdatum goldener Zeiten westlicher Demokratien in Sichtweite gerät.

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