Montag, 10. März 2025

Erkenntnisse der Neurowissenschaft über prädiktive Mechanismen von Wahrnehmung im Denken erster Ordnung

Modell sprachliche Kodierung von Vorhersagen aus Umweltinteraktionen
Modell sprachlicher Kodierung von Vorhersagen
aus Umweltinformationen
Hirnforschung betrachtete Wahrnehmung lange als eine lineare Reiz-Reaktion-Prozesskette der Verarbeitung von Sinnesreizen. Detailreichtum und Komplexität der sensorischen Umgebung von Organismen lassen bezweifeln, dass Gehirne alle Informationen in kurzer Zeit verarbeiten können und motivieren Theorien der Informationsverarbeitung zum Paradigmenwechsel. 
In der Gegenwart verstehen kognitive Neurowissenschaften mentale Prozesse der Wahrnehmung als einen datengesteuerten aktiven Prozess. Teilweise empirisch bestätigte Hypothesen der Theorie prädiktiver Kodierung besagen, dass Gehirne Umweltinformationen mittels Sprache (=symbolische Repräsentation der Welt) kodieren und anhand gespeicherter Modelle (=Wissen) ständig Vorhersagen über Zustände der physischen Welt generieren. 
 
 
Systemmodelle von Neurowissenschaften nehmen an, dass biologisch implementierte universale Automatismen Organismen zur Erzeugung widerspruchsfreier Zustände im Sinne von Konsistenz und Kohärenz zwischen Kognitionen, Motivationen, Einstellungen, Verhalten zwingen. Neurologische Prozesse gleichen sensorische Informationen mit gespeicherten Vorhersagemodellen auf Konsistenz und Kohärenz ab und bewerten die Wahrscheinlichkeit von Prognosen. Von Vorhersagefehlern erzeugte kognitive Dissonanz lösen mentale Automatismen durch Anpassung von Vorhersagemodellen auf (=Lernprozess). 
 
Wahrnehmung versteht die Theorie der prädiktiven Kodierung als gegenläufige Prozesse über zwei Ebenen:
  • Bottom-up (von unten) empfängt ein Gehirn als Sinnesreize wahrgenommene Informationen seiner Umgebung.
  • Als sensorischen Input empfangene Informationen vergleicht das Gehirn Top-down (von oben) mit codierten Modellen der Welt, die als Wissen über Gesetzmäßigkeiten der Welt gespeichert sind und leitet aus dem Vergleich Vorhersagen (Prädikationen) ab.
  • Automatismen sparen Ressourcen, indem sie Unterschiede zwischen Vorhersagen und Informationen der physischen Welt bewusst machen und nur Vorhersagefehler an die jeweils nächste Verarbeitungsebene weitergeben. 
Aus der Theorie der prädiktiven Kodierung resultieren weitreichende Implikationen:
  • Bewusst nehmen wir nur Vorhersagefehler wahr. Was das Gehirn weiß, muss nicht bewusst wahrgenommen werden. Das bedeutet: Menschen sind nur sehr eingeschränkt freie Herren ihrer Gedanken.
  • Im Gehirn gespeicherte Vorhersagemodelle setzen sich zu vermeintlich konsistenten subjektiven Überzeugungen von Welt zusammen und prägen individuelle Wahrnehmung. Mit Vorhersagemodellen konsistente sensorische Informationen können Wahrnehmung durch Bestätigungsfehler verzerren.
  • An Wahrnehmungsprozessen beteiligte Überzeugungen, Vorurteile, kognitive Verzerrungen beeinflussen entscheidend, wie Menschen die Realität wahrnehmen (mit sensorischen Informationen abgleichen). Subjektive Überzeugungen sparen Ressourcen, erhöhen die Effizienz von Wahrnehmung und unterstützen das Konsistenzbedürfnis.
  • Aufgrund mentaler Mechanismen systematisch verzerrt verstandene Eigenschaften von Wahrnehmungsobjekten werden als kognitive Verzerrungen bezeichnet. Aus kognitiven Verzerrungen resultieren zahlreiche unbewusste Fehler der Beurteilung von Sachverhalten, Situationen, Personen. U.a. weisen wissenschaftliche sozialpsychologische Studien systematische Schätzfehler von Menschen nach. Unter Unsicherheit neigen Menschen dazu, kleine Häufigkeiten zu unterschätzen und große Häufigkeiten zu überschätzen. Daher ist oft unklar, ob verzerrte Meinungen auf Vorurteilen oder auf kognitive Mechanismen von Schätzfehlern beruhen.
Quellen:

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