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Modell sprachlicher Kodierung von Vorhersagen aus Umweltinformationen |
Hirnforschung
betrachtete Wahrnehmung lange als eine lineare
Reiz-Reaktion-Prozesskette der Verarbeitung von Sinnesreizen.
Detailreichtum und Komplexität der sensorischen Umgebung von Organismen
lassen bezweifeln, dass Gehirne alle Informationen in kurzer Zeit
verarbeiten können und motivieren Theorien der Informationsverarbeitung
zum Paradigmenwechsel.
In der Gegenwart verstehen kognitive
Neurowissenschaften mentale Prozesse der Wahrnehmung als einen datengesteuerten
aktiven Prozess. Teilweise empirisch bestätigte Hypothesen der Theorie
prädiktiver Kodierung besagen, dass Gehirne Umweltinformationen mittels Sprache (=symbolische Repräsentation der Welt) kodieren und anhand gespeicherter
Modelle (=Wissen) ständig Vorhersagen über Zustände der physischen Welt
generieren.
Systemmodelle von Neurowissenschaften nehmen an, dass biologisch implementierte universale Automatismen Organismen zur Erzeugung widerspruchsfreier Zustände im Sinne von Konsistenz und Kohärenz zwischen Kognitionen, Motivationen, Einstellungen, Verhalten zwingen. Neurologische Prozesse gleichen sensorische Informationen mit gespeicherten Vorhersagemodellen auf
Konsistenz und Kohärenz ab und bewerten die Wahrscheinlichkeit von Prognosen. Von Vorhersagefehlern
erzeugte kognitive Dissonanz lösen mentale Automatismen durch Anpassung von Vorhersagemodellen auf (=Lernprozess).
Wahrnehmung versteht die Theorie der prädiktiven Kodierung als gegenläufige Prozesse über zwei Ebenen:
- Bottom-up (von unten) empfängt ein Gehirn als Sinnesreize wahrgenommene Informationen seiner Umgebung.
- Als sensorischen Input empfangene Informationen vergleicht das Gehirn Top-down (von oben) mit codierten Modellen der Welt, die als Wissen über Gesetzmäßigkeiten der Welt gespeichert sind und leitet aus dem Vergleich Vorhersagen (Prädikationen) ab.
- Automatismen sparen Ressourcen, indem sie Unterschiede zwischen Vorhersagen und Informationen der physischen Welt bewusst machen und nur Vorhersagefehler an die jeweils nächste Verarbeitungsebene weitergeben.
Aus der Theorie der prädiktiven Kodierung resultieren weitreichende Implikationen:
- Bewusst nehmen wir nur Vorhersagefehler wahr. Was das Gehirn weiß, muss nicht bewusst wahrgenommen werden. Das bedeutet: Menschen sind nur sehr eingeschränkt freie Herren ihrer Gedanken.
- Im Gehirn gespeicherte Vorhersagemodelle setzen sich zu vermeintlich konsistenten subjektiven Überzeugungen von Welt zusammen und prägen individuelle Wahrnehmung. Mit Vorhersagemodellen konsistente sensorische Informationen können Wahrnehmung durch Bestätigungsfehler verzerren.
- An Wahrnehmungsprozessen beteiligte Überzeugungen, Vorurteile, kognitive Verzerrungen beeinflussen entscheidend, wie Menschen die Realität wahrnehmen (mit sensorischen Informationen abgleichen). Subjektive Überzeugungen sparen Ressourcen, erhöhen die Effizienz von Wahrnehmung und unterstützen das Konsistenzbedürfnis.
- Aufgrund mentaler Mechanismen systematisch verzerrt verstandene Eigenschaften von Wahrnehmungsobjekten werden als kognitive Verzerrungen bezeichnet. Aus kognitiven Verzerrungen resultieren zahlreiche unbewusste Fehler der Beurteilung von Sachverhalten, Situationen, Personen. U.a. weisen wissenschaftliche sozialpsychologische Studien systematische Schätzfehler von Menschen nach. Unter Unsicherheit neigen Menschen dazu, kleine Häufigkeiten zu unterschätzen und große Häufigkeiten zu überschätzen. Daher ist oft unklar, ob verzerrte Meinungen auf Vorurteilen oder auf kognitive Mechanismen von Schätzfehlern beruhen.
Quellen:
- Stangl, W.: Predictive Coding-Theorie. Online Lexikon für Psychologie & Pädagogik
- Dorsch Lexikon der Psychologie: Prädiktive Modellierung
- Spectrum: Predictive Coding: Die Kristallkugel im Kopf
- Spectrum: Predictive Coding – Wie innere Vorhersagen unser Leben bestimmen
- Das Gehirn: Wie unser Gehirn die Welt vorhersagt
- Christiane Kiese-Himmel: „Predictive Coding“– ein Mechanismus zur Wahrnehmung? (PDF)
- SZ, 02.04.2025: Psychologische Verzerrung beeinflusst Wahrnehmung von Minderheiten
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