Freitag, 7. März 2025

Beobachtungen erster und zweiter Ordnung

Beobacher erster und zweiter Ordnung Hanns Dieter Hüsch Halbwissen

Unzufriedenheit von Menschen resultiert aus Beobachtungen empirischer Sachverhalte. Was Menschen beobachten, ist indviduell unterschiedlich. Wie Menschen beobachten, ist biologisch bedingt ähnlich, aber sozialpsycholgoisch unterschiedlich. In diesem Post geht es um Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Beobachtungen auf zwei Ebenen der Erklärung von Beobachtungen:
  • Beobachtungen von Beobachtern (Beobachtung erster Ordnung), 
  • 
Beobachtung der Beobachter (Beobachtung zweiter Ordnung). 


Der literarische Kabarettist Hanns Dieter Hüsch war ein scharfer Beobachter. Hüschs Bobachtungen rankten sich häufig um Charaktere von Menschen in der Region des Niederrheins, an dem Hüsch aufgewachsen ist. Als Selbstbeobachter nannte sich Hüsch das schwarze Schaf vom Niederrhein. Am Niederrhein lebende Menschen nannte Hüsch Niederrheiner. Der Begriff Niederrheiner war für Hüsch eine Metapher für typisches Denken und Verhalten von Menschen in Zusammenhängen des Alltags. Hüschs Prototypen des Niederrheiners waren seine literarischen Figuren Hagenbuch (… hat jetzt zugegeben, dass die Erziehung seiner Kinder eine völlig verfahrene war) und Ditz Atrops (… sturzbesoffen, aber hochintelligent, de hätte ja alles werden können, de hätte sogar Papst werden können). 
 
Wissen des Niederrheiners beschrieb Hüsch mit den Worten:
Daß der Niederrheiner nix weiß, aber alles erklären kann, dat wissen se ja. Un oft genug weiß er nix Genaues un sacht dann einfach: So ähnlich jedenfalls. Wenn der Niederrheiner mal ausnahmsweise etwas weiß, dann weiß er dat aber auch ganz fest bis an sein Lebensende, bis in alle Ewigkeit. Auch wenn et gar nich stimmt. Un meistens stimmt et nich. Der Niederrheiner ist überhaupt zu allem unfähig. Er weiß nix, kann aber alles erklären. Umgekehrt: Wenn man ihm etwas erklärt, versteht er nichts, sagt aber dauernd: Is doch logisch. (Kulturmagazin Musenblätter: Das Wissen des Niederrheiners
 
Menschen unterscheiden im Alltag wie Hüschs Niederrheiner i.d.R. nicht zwischen Wissen und Meinung. Beobachter beobachten sich eher nicht selbst. Wahrnehmung, Denken, Deuten bilden eine unbewusste Einheit. Eigenbeobachtung im Sinn von Selbstreflexion ist eine andere Art der Beobachtung (Hüschs schwarzes Schaf), die aber hier ausgeblendet bleibt.
 
In alltäglichen Beobachtungen ihrer Lebenswelten nehmen sich Menschen gewöhnlich nicht als deutende Beobachter wahr und sind sich blinder Flecken und Verzerrungen ihrer Wahrnehmung nicht bewusst. Im Sinn eines naiven Realismus nehmen sie unbewusst an, dass die Dinge so sind, wie sie gesehen werden und Eigenschaften von Dingen in Wahrnehmung eindringen. In Wissenschaften bezeichnet Blinder Fleck Sachverhalte, die aufgrund individueller mentaler Verfassung nicht gesehen werden und ausgeblendet sind. Beobachtendes Sehen und Verstehen empirischer Sachverhalte benennen Wissenschaften als Beobachtung erster Ordnung, hier als Alltagsdenken bezeichnet. In Sozialisationsprozessen unbewusst vermittelte kulturelle Prägungen bilden im Alltagsdenken Rahmen für individuell erworbenes Wissen, subjektive Erfahrungen und durch biologische kognitive Mechanismen verursachte Einschränkungen und Verzerrungen mentaler Prozesse. 

Alltagsdenken ist nützliches Denken. Ob Wissen und Erkenntnis dieses Denkens richtig oder falsch sind, ist nicht relevant, solange Nutzen überwiegt. Trump, Musk, Putin etc. praktizieren dieses Denken prototypisch. In demokratischen Staaten werden sie nur darum als exotisch wahrgenommen, weil exzessives öffentliches Alltagsdenken in Positionen demokratischer Regierungen als unangemessen gilt und sorgfältig erwogenes Denken nützlicher ist.
 
Wissenschaftliche Beobachtungen sind Beobachtung zweiter Ordnung im Sinne von Beobachtung des Beobachters. Beobachtungen zweiter Ordnung wechseln die Perspektive von Inhalten (=Was?) zur Art und Weise (=Wie?) und machen blinde Flecken kognitiver Strukturen sowie Verzerrungen mentaler Prozesse sichtbar. Das Lesen von Texten oder das Betrachten von Bildern beobachtet ebenfalls aufgezeichnete Beobachtung eines anderen Beobachters. Zur Beobachtung zweiter Ordnung wird Wahrnehmung aber erst durch Perspektivwechsel erzielte Distanz (Hüschs schwarzes Schaf), die konstituierend für jede Art wissenschaftlicher Beobachtungen ist.
 
Wissenschaftliche Beobachtungen zweiter Ordnung machen in Beobachtungen erster Ordnung Denkmuster und blinde Flecken kognitiver Strukturen sowie Verzerrungen mentaler Prozesse sichtbar und erklärbar: 
  • In evolutionären Prozessen biologisch erworbene kognitive Mechanismen bewirken, dass Alltagsdenken breit gestreute Eigenschaften von Wahrnehmungsphänomenen vorzugsweise in zweiwertige Kategorien ordnet, z.B. Freund vs. Feind, gut vs. schlecht, nah vs. fern, schwarz vs. weiß etc. (Wikipedia: Kategorisierung)
  • In Prozessen mit sich wechselseitig beeinflussenden vernetzten Bedingungen überlagern sich Ursachen und Wirkungen. Solche Prozesse gelten als komplex. Komplexe Prozesse entziehen sich unmittelbarer Wahrnehmung und sind analytisch zu verstehen. Alltagsdenken bevorzugt Anschaulichkeit und hat daher Schwierigkeiten mit Verständnis komplexer Prozesse. Abhilfe schaffen unbewusste mentale Mechanismen, die Komplexität durch Umdeutung in lineare Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge auflösen, indem sie Ereignisse Ursachen zuordnen. Beteiligte Akteure sind scheinbar eindeutig als Verantwortliche oder Unzuständige, Täter oder Opfer, Gewinner oder Verlierer, Schuldige oder Unschuldige etc. identifizierbar. (Wikipedia: Kausalattribuierung)
  • An nicht-linearen komplexen Prozessen sind zahlreiche Bedingungen mit variierenden Einflüssen beteiligt und erzeugen eine nicht linear bestimmbare Menge möglicher Zustände. Alltagsdenken stellt Anschaulichkeit her, indem es komplexe Prozesse in linear-kausale Zustandsketten umdeutet.
  • Alltagsdenken ist sich gewöhnlich nicht bewusst, dass Wahrnehmung kulturell geprägt ist und diese Prägung Deutungsmuster als universell wertet, obwohl diese Muster kulturell verzerrt sind.
  • Prognosen zu Zuständen komplexer Prozesse mit Mengen interagierender Objekte und Bedingungen sind i.d.R. unsicher. Mit einer ausreichend großen Menge empirischer Daten können Prognosen über Zustände in Grenzen von Wahrscheinlichkeiten bewertet werden. Alltagsdenken überfordert  i.d.R. Verständnis von Zusammenhängen zwischen beobachtbaren empirischen Zuständen und Wahrscheinlichkeitsaussagen über Verteilungen von Eigenschaften in Mengen von Objekten.
  • Alltagsdenken hat i.d.R. keine Kenntnis über wissenschaftlich ungelöste Probleme von Erkenntnistheorie, Bewusstsein, Natur mentaler Zustände, Wahrnehmung, Wahrheit, Verallgemeinerung von Aussagen, Universalien (Wikipedia), weshalb sich Logiken und Ansprüche von Reichweiten zu Aussagen über Beobachtungen erster und zweiter Ordnung unterscheiden. Beobachtung zweiter Ordnung formulieren Erkenntnisse über Zustände der Realität skeptisch als Möglichkeiten und schließen Irrtümer nicht aus. Nur Beobachtungen erster Ordnung kennen sicheres Wissen über Zustände der Realität und bekennen sich ungern zu Irrtümern. Ditz Atrops wusste fast alles, nur nicht, woher sein Wissen kam. Hagenbuch hat immerhin Probleme der Erziehung seiner Kinder zugegeben.

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