Montag, 17. März 2025

Personalisierung von Politik in demokratischen Staaten

Olaf Scholz 2025 Angela Merkel 2023 Bundesarchiv_Bild_146-2005-0057,_Otto_von_Bismarck
 
            Angela Merkel 2023                                                          Olaf Scholz 2025                                               Otto von Bismarck 1890
© Raimond Spekking / CC BY-SA 4.0                               © Steffen Prößdorf, CC BY-SA 4.0                          
 
Politik autokratischer Staaten ist eine One-Man-Show politischer Helden, die an keine Regeln gebunden sind, sondern Recht des Stärkeren praktizieren. Anders als in autokratischen Staaten basiert Politik demokratischer Staaten auf freien Wahlen und Kontrolle demokratischer Regeln per Gewaltenteilung. Politik demokratischer Staaten ist wie Mannschaftssport als Teamarbeit organisiert und Regeln von Fair Play verpflichtet. Verantwortliche für Ressorts, politische Themen und Mannschaftsaufstellungen sind Team-Player und als solche keine Häuptlinge, sondern lediglich Sprecher. 
 
Das in Deutschland und etlichen anderen Ländern installierte parlamentarische Regierungssystem verhindert im Unterschied zu demokratischen Ländern mit präsidialen Regierungssystemen (USA; Frankreich, Lateinamerika, überwiegend in Afrika) Regierungsformen mit exklusiven präsidialen Rechten (BPB: Präsidialdemokratie / Präsidentielles Regierungssystem). In Deutschland ist darüber hinaus der Bundespräsident zwar formell das Staatsoberhaupt, aber nach Erfahrungen des Nationalsozialismus ist das Amt tagespolitisch eher bedeutungslos ausgestattet. Allerdings kommt es auch in Deutschland vor, dass gewählte Abgeordnete und Regierungsmitglieder aus welchen Gründen auch immer eine eigene Agenda verfolgen. Abgeordneten drohen Sanktionen mit Ausschluss von der Fraktion oder der Partei. Ausscherende Regierungsmitglieder bringen Regierungen ins Stolpern, wie unlängst das Beispiel Christian Lindner zeigte. 
 
Diese hier vielleicht überzeichnete Darstellung dient der Verdeutlichung von Prinzipien und ihrer verzerrten Wahrnehmung in der Öffentlichkeit, in der politische Sprecher Häuptlinge zu sein scheinen, die politische Schiffe als Kapitäne auf Kurs halten oder Kurse verfehlen. Politische Sprecher verstärken diese Anmutung durchaus bewusst, wenn sie sich in öffentlichen Medien als Macher, Ideengeber, Kämpfer für Wohlfahrt und Gerechtigkeit etc. produzieren und Expertise vermitteln, obwohl sie meistens keine Experten sind, sondern sich von Experten briefen lassen.
 
Beschriebene öffentliche Perspektiven zeichnen ein verzerrtes Bild demokratischer Politik, die in der Realität in nicht öffentlichen fachlichen Gremien stattfindet, die je nach Themenlage oft lange über unterschiedliche und widersprüchliche Interessenlagen und Zielkonflikte diskutieren und bei Bedarf wissenschaftliche Experten und Interessenverbände relevanter Wirtschaftsunternehmen beratend hinzuziehen. Legislative und exekutive Institutionen demokratische Staaten sind keinen weltanschaulich-programmatischen Einheitskursen, sondern Pluralismus verpflichtet. Politische Willensbildung demokratischer Staaten muss pluralistischen Werten gerecht werden und darf sich daher keinen Dogmen unterwerfen. Pluralistische Politik muss Kompromisse erarbeiten, deren Ergebnisse breit gestreute und eventuell auch widersprüchliche Interessen berücksichtigen und demokratischen Konsens ermöglichen, der individuell auch auf Ablehnung stoßen kann.
 
Die Bevölkerung demokratischer Staaten wählt ihre Vertreter periodisch in freien und geheimen Wahlen. Gewählte Vertreter sind keinem Mandat, sondern vermeintlich nur ihrem Gewissen und darüber hinaus vereinbarten politischen Leitlinien verpflichtet, was sicherlich nicht immer wörtlich zu nehmen ist, zumal in deutschen Parlamenten als Fraktionsdisziplin (Wikipedia) bezeichneter indirekter Fraktionszwang praktiziert wird. An der politischen Willensbildung sind bei Bedarf zahlreiche Berater und Vertreter von Interessenverbänden beteiligt. Möglichst unauffällig nehmen auch von relevanten Industrien finanzierte Lobbyisten Einfluss.  

Deutlich lauter üben Medien Einflüsse aus. Ausgeschlossen von politischer Willensbildung ist jedoch die Bevölkerung, je nach Staat mal mehr, mal weniger. In Deutschland ist sie auf Bundesebene trotz anderer Absichten bisher ausgeschlossen. 

Die Funktionsweise der Entstehung politischer Entscheidungen ist komplex. In der Außensicht sind Entscheidungsprozesse intransparent und beteiligte Akteure anonym. Komplexität der Prozesse und Anonymität politischer Entscheidungen wecken Verdacht auf verheimlichte Manipulationen zugunsten partikularer Interessen. Für Alltagsdenken sind nur Entscheidungen verständlich und glaubwürdig, die politischen Akteuren vermeintlich kausal zugeordnet werden können. Deutsches Wahlrecht berücksichtigt diese Denkweise mit Direktmandaten als Erststimme. Relevant für die Regierungsbildung sind jedoch per Zweitstimme gewählte Parteien. Direktmandate müssen von Zweitstimmen der Parteienwahl gedeckt sein (Bundesregierung: Warum hat jeder zwei Stimmen?). Da Komplexität der Realität und Sachzwänge von Politik für die meisten Menschen überwiegend unverständlich sind, soll Personalisierung von Politik im Prozess der Vermittlung politischer Entscheidungen zur Bevölkerung Vertrauen ermöglichen.
 
Personalisierung politischer Prozesse und Entscheidungen via öffentlicher Medien reduziert Komplexität. Sie wirbt für Konsens und stellt vermeintlich Transparenz her, indem sie Anonymität hinter Gesichtern verbirgt. Öffentliche Debatten, Talk-Runden, Interviews, politische Statements etc. via Medien sind jedoch vor allem inszenierte rhetorische Shows. Wenn diese Shows stattfinden, sind Absprachen gewöhnlich bereits in langen Sitzungen ausgehandelt worden und Entscheidungen gefallen. Wenn Beschlüsse dem Parlament zur Entscheidung vorgelegt werden, ist i.d.R. bekannt, wer wie abstimmt und welche Empfindlichkeiten zu berücksichtigen sind.
 
Sprecher nutzen Mechanismen öffentlicher Wahrnehmung, um sie der Bevölkerung zu vermitteln. Als vermeintliche politische Häuptlinge mit Expertise beschreiben Sprecher, wie sie angeblich energisch und mutmaßlich zum Gemeinwohl Entscheidungen durchgesetzt haben. Tatsächlich geht es jedoch darum, Intransparenz der Willensbildung zu verbergen und Akzeptanz der Bevölkerung zu bewirken. Weil Politikern diese Zusammenhänge bekannt sind, spielen sie ihre Rollen mit der Absicht, politische Kompetenz und heldenhaftes Handeln zu demonstrieren. Teile der Bevölkerung honorieren solche Auftritte mit Zustimmung. Gleichzeitig verhelfen diese Auftritte zu positivem öffentlichem Ansehen und damit zum Ausbau individueller Machtpositionen.

Politische Rollenspiele enthalten nicht unerhebliche Risiken:
  • Unbequeme politische Entscheidungen gelten als handwerkliche Fehler.
  • Individuell als soziale Ungleichheit und soziale Ungerechtigkeit empfundene Zustände verletzen politisch nicht zu rechtfertigende Gleichstellungsprinzipien und werden Politikern als Parteilichkeit vorgeworfen. 
  • Vertrauensverluste der Bevölkerung gegenüber Regierungen nutzen populistische Alternativen für die Ausbreitung der eigenen politischen Agenda.
  • In parlamentarischen Regierungssystemen verstärkt die Personalisierung von Politik in der breiten Öffentlichkeit bestehendes Unverständnis des Funktionierens von Politik und vermittelt Irrtümer, die das Regierungssystem schwächen und demokratischen Pluralismus in politische Polarisierung umwandeln. 
  • Politisches Scheitern beschädigt das öffentliche Bild von Sprechern der Regierungspolitik und darüber hinaus das persönliche Selbstbild. Wenn Politik scheitert, sind vermeintliche Macher i.d.R. für die Zukunft verschlissen. Für Politiker sind Risiken aufgrund großzügiger Ruhestandbezüge und alternativer Karriereoptionen materiell überschaubar.

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