Samstag, 14. Januar 2023

2 Beobachtungen, Theorien, Vermutungen zur Evolution von Kultur und Religion - Anmerkungen zur Postreihe (Update: 07.03.2023)

The Meeting von Wang Shugang (Installation in Vancouver BC, Kanada)
Dieser einleitende Post mit Vor- und Randbemerkungen befasst sich mit Metaperspektiven einer Postreihe über die Evolution von Kultur und Religion. Kultur und Religion bilden grenzenlose Themenfelder. Verschriftlichungen von Gedanken über diese Themenfelder erzwingen Grenzen zwischen vermeintlich vorrangig wichtigen und weniger bedeutenden Aspekten. Entscheidungen über Eingrenzungen resultieren aus volatilen Ständen eigenen Wissens, das notwendig begrenzt ist, sich in Schritten ungewisser Größe verändert und zur Bescheidenheit ermahnt. Posts dieser Serie sind temporäre Betrachtungen eines sich entwickelndes Work in Progress. An Posts jeweils angefügte Veränderungshistorien informieren über Inhalte und Zeitpunkte von Änderungen. Vielfalt und Unbestimmtheit der inhaltlichen Bedeutung von Bewusstsein, Kultur, Religion ruft in den Posts die kursive Schreibweise der Begriffe in Erinnerung.
 
Eigene soziologische Anmerkungen zum Themenfeld Religion streuen bisher über ältere Posts und Korrespondenz. Blicke auf einige Themen haben sich in der Zwischenzeit verändert. Die Postreihe über kulturelle Evolution verdichtet Kernfragen der Evolution von Kultur und Religion und fügt dieses Konvolut mit Ergänzungen zu einer Momentaufnahme ohne Anspruch auf Dauerhaftigkeit, deren Beschreibung sich aus Praktikabilitätsgründen über mehrere Posts verteilt. 
 
Vorliegender Post identifiziert basale Annahmen relevanter kulturwissenschaftlicher Perspektiven, benennt das eigene Verständnis von Wissenschaft, Erkenntnis, Fortschritt und erklärt eigene Motive der Entstehung dieser Reihe. Eine Aufstellungen der Postreihe Beobachtungen, Theorien, Vermutungen zur Evolution von Kultur und Religion zeigt Übersichten aller veröffentlichten sowie vorgesehener, aber noch nicht veröffentlichter Post. 
 
Gemäß persönlicher Ansichten verstellen Fortschrittsnarrative den Blick auf mäandernde Entwicklungen, die keinen Regeln linearer Prozesse folgen und von naiver Logik nicht erkannt oder als unsinnig abgelehnt werden. Kulturelle Evolution besteht bei genauerer Betrachtung aus zahlreichen Sub-Prozessen, deren Dynamiken und Richtungen keinen gemeinsamen Regeln folgen. Einige Sub-Prozesse scheinen mehr oder weniger durch Zeit und Raum zu mäandern. Die Identifizierung mäandernder Prozesse und deren Treiber motiviert neben weiteren Motiven Posts dieser Serie.
 
 
Inhaltsübersicht
 
1       Wissenschaftliche Aussagen und zwischen wissenschaftlichem Denken und Alltagsdenken mäandernde Prozesse 
1.1    Aussagearten 
1.1.1 Statistische Aussagen und Wahrscheinlichkeiten, wissenschaftliches Denken und Alltagsdenken
2       Struktur und Reichweite wissenschaftlicher Aussagen
3       Perspektiven der Analyse von Kultur
3.1    Kulturelle Pluralisierung und Fragmentierung
3.2    Naturalismus (Physikalismus) vs. Metaphysik vs. Konstruktivismus (Kulturalismus)  
3.3    Funktionalismus 
3.4    Strukturalismus 
4       Basale Annahmen zu Religion
5       Perspektiven ethnologischer Theorien
5.1    Theorien auf der Suche nach Universalien
5.1.1 Funktionale Erklärungen
5.1.2 Strukturalistische Erklärungen 
5.2    Theorien und Probleme der Vielfalt von Kulturen 
5.2.1 Kulturrelativistische Theorien
5.2.2 Interpretative Ethnologie
5.3    Positionen der Ethnologie in der Gegenwart
6       Konstruierte Realität
6.1    Sozialkonstruktivismus
6.2    Ethnomethodologie und radikaler Konstruktivismus
7       Statements zum eigenen Verständnis von Wissenschaft und Erkenntnisfortschritt
7.1    Persönliche Motivation
8       Änderungshistorie des Posts

 
1 Wissenschaftliche Aussagen und zwischen wissenschaftlichem Denken und Alltagsdenken mäandernde Prozesse
 
Perspektiven des Erfahrungshorizonts praktischen Alltagsdenkens teilen zwar mit wissenschaftlichen Perspektiven Schnittmengen gemeinsamen Wissens, aber prinzipiell schauen sie auf unterschiedliche Welten: 
  • Alltagsdenken betrachtet die Welt aus Sicht individueller Lebensbewältigung subjektiv und innerhalb des Horizonts eigener Erfahrung global. Art und Qualität von Fragestellungen und Antworten variieren über individuelle Erfahrungsräume.
  • Wissenschaften suchen in Ausschnitten der Realität zu ausgewählten Einzelfragen objektive Erkenntnis mit universaler Bedeutung. Da objektive Erkenntnis nicht mit rationalen Argumenten bewiesen werden kann, ist jegliches Wissen Vermutungswissen bzw. vorläufiges Wissen und mit Unsicherheit behaftet.(1)

    Als wissenschaftlich werden nur solche Aussagen akzeptiert, die mittels von der Community vereinbarten Methodenstandards zustande kommen. Um wissenschaftliche Fragestellungen formulieren und bearbeiten zu können, ist von wissenschaftlicher Community anerkannte Expertise erforderlich.
In der sozialen Realität sind Menschen sich selten bewusst, dass die Welt des Alltagsdenkens von Erfahrungshorizonten individueller Wahrnehmung begrenzt ist und sich Alltagsdenken prinzipiell vom wissenschaftlichen Denken unterscheidet.
 
Im Alltagsdenken sind zahlreiche wissenschaftliche Fragestellungen unbekannt. Wenn Informationen über wissenschaftliche Fragestellungen und Aussagen kursieren, erschließen sie sich dem Alltagsdenken oftmals nicht oder nur unvollständig und bleiben häufig unverstanden oder werden angezweifelt. Umgekehrt beschäftigt sich Wissenschaft mit Fragestellungen, die gewöhnlich außerhalb des Erfahrungshorizonts praktischen Alltagsdenkens liegen und teilweise für praktisches Alltagsdenken irrelevant sind. Wenn mitunter wissenschaftliche Erkenntnis aus Sicht des Alltagsdenkens abwertend als Idiotenwissen bezeichnet wird (gemeint ist wahrscheinlich für Alltagspraxis irrelevantes Schmalspurwissen), verweist dieser Sachverhalt auf eine tiefe Kluft zwischen unterschiedlichen Denkweisen.
 
Daten und Methoden sprechen nicht. Daten können methodisch gut oder schlecht erhoben sein, aber sie beantworten keine Fragen. Antworten beruhen auf Deutungen von Daten zu wissenschaftlichen Fragestellungen und müssen sich an der Qualität von Methoden ihrer Erhebung messen lassen. Aussagen liegen nicht auf der Hand und benötigen über Expertise hinaus Phantasie und Kreativität sowie ein geeignetes Umfeld für ihre Verbreitung. Mitunter erfordern wissenschaftliche Aussagen auch Mut, wenn nämlich wissenschaftliche Domänen besetzt sind und gegen neue Erkenntnisse verteidigt werden. Bei aller Expertise und Bemühung bleibt jedoch auch Wissen über Gegenstände wissenschaftlicher Forschung unsicher, weil wissenschaftliche Erkenntnisse und die Beweisbarkeit wissenschaftlicher Argumente prinzipiell unvollständig sind.
 
Wissenschaftliche Aussagen sind regelmäßig Gegenstand strittiger Diskurse. Wünschenswerter sachlicher Streit über wissenschaftliche Ansichten verhilft zu vertiefenden Erkenntnissen ohne Wahrheits- und Ewigkeitsanspruch. Wissenschaftliche Aussagen über Sachverhalte der Welt beruhen auf in Theorien verpackte Deutungen bzw. Ansichten, die immer nur vorläufiger Art sind, aber zumindest prinzipiell empirisch überprüfbare Aussagen enthalten müssen, die methodischen Kriterien gemäß Konsens der wissenschaftlichen Community genügen. Die Unterscheidung von richtig oder falsch ist nicht immer einfach, oftmals strittig und mitunter unmöglich.
 
Vermeintlich korrekte Deutungen scheinbar harter Daten können auf Irrtümern beruhen oder fehlerhaft sein und sind oftmals strittig. Selbst wenn über wissenschaftliche Aussagen Konsens besteht, ist Konsens kein Kriterium für die Gültigkeit von Aussagen, sondern lediglich ein Indikator für ihre Belastbarkeit. Erklärungsversuche sind bei unsicherer Datenlage und nur unvollständig verstandenen Sachverhalten der Welt hinsichtlich der Erfüllung wissenschaftlicher Kriterien deutlich schwieriger zu begründen als Deutungen harter Daten. In Richtung mikro- und makroskopischer Randbereiche der physikalischen Welt werden auch empirische Daten zunehmend weicher und wissenschaftliche Erklärungen spekulativer. Komplexe abstrakte Phänomene wie Bewusstsein, Kultur, Religion provozieren schwierige wissenschaftliche Fragestellungen, die zwar benannt werden können, aber bisher nur unvollständig verstanden und nicht gelöst sind. Im Post referierte Ansichten verdanken wir außerordentlich klugen Köpfen mutiger Wissenschaftler. Deren kontrovers diskutierte Beobachtungen, Theorien, Vermutungen spenden keinen unmittelbaren praktischen Nutzen, sondern dienen dem Verständnis unserer Lebenswelt und damit zugleich unserem Selbstverständnis.
 
Im Unterschied zu Wissenschaften verkünden Religionen ewige Wahrheiten, über die man nicht streiten kann. Man kann sie nur akzeptieren oder ablehnen. An der Entstehung von Religionen sind vermutlich unbewusste Muster menschlicher Denkweise der Kategorisierung und der  Kausalattribuierung beteiligt, auf die der Post Was ist Bewusstsein? eingeht. Das kognitive Muster der Kategorisierung erzeugt Ordnungen. Kausalattribuierung weist wahrgenommenen Ereignissen Bedeutung zu, indem es Ereignisse selbst dann mit angenommen Ursachen verknüpft, wenn Auslöser von Ereignissen unsicher oder unbekannt sind.(2) Vermutlich sind diese Denkmuster auch ein unbewusster Antrieb für die Ermittlung, Bewahrung und Weitergabe von Wissen und daher für die Entstehung von Kultur sowie für die Evolution von Wissenschaften als neuartiges Wissen produzierende Forschungswerkstätte. 
 
Mit der evolutionären Entwicklung von Prozessen der Abstrahierung, Intellektualisierung und Rationalisierung entfaltet sich eine kumulativ wachsende Wissensproduktion. Verwissenschaftlichung erzeugt einen von Max Weber als Entzauberung der Welt umschriebenen, Magie zerstörenden, dystopisch anmutenden Prozess, mit dem sich ein dem Alltagsdenken widersprechendes doppeltes Paradoxon einstellt:
  • Wachsender verfügbarer Wissensvorrat vergrößert die Distanz zu Zielen absoluter Wahrheiten. Hinsichtlich der großen Rätsel der Realität nehmen Ungewissheit zu und Gewissheit ab. Annahmen der Erreichbarkeit letzter Gewissheit erweisen sich als naiv. Den Genuss der Früchte vom Baum der Erkenntnis zahlten Adam und Eva mit der Vertreibung aus dem Paradies. In der Genesis entsteht Kultur als Strafe, die Gott den Menschen aufgrund ihrer Erbsünde mit der Vertreibung aus dem Paradies auferlegt.(3)
    Wissenschaftliche Suche nach Wahrheit zerstört, wonach sie sucht. Anlässlich des 100. Geburtstages von Thomas S. Kuhn schreibt der Wissenschaftsphilosoph Paul Hoyningen-Huene in einem Artikel der FAZ:
    "
    Die Normalwissenschaft weiß alle Antworten." (...) "Wir sollten die Wissenschaftsentwicklung als einen Prozess verstehen, der nicht auf ein Ziel hinstrebt („die“ Wahrheit), sondern sich vom gegenwärtigen Zu­stand durch steigende Differenzierung wegbewegt, genau wie die darwinsche Evolution."
  • Trotz Verwissenschaftlichung der Welt ist der über lange evolutionäre Prozesse entstandene kognitive Mechanismus der Kausalattribuierung weiter aktiv und bewirkt, dass der Prozess des Wissenszuwachses Menschen von tröstlicher Gewissheit spendenden religiösen metaphysischen Wahrheiten entfremdet, Menschen der Wissenschaft misstrauen und alternative irrationale metaphysische Sinnkonstrukte an Attraktivität gewinnen.
Unbewusste kognitive Denkmuster ermöglichen durch Filter, Vereinfachungen und sprachliche Ordnungssysteme schnelle Entscheidungen in komplexen Situationen und haben sich darum evolutionär erfolgreich bewährt. Vereinfachungen sind nützlich. Sie reduzieren Komplexität und vermitteln Verhaltenssicherheit. Der Preis für Sicherheit des Verhaltens besteht in Verfälschungen und Verzerrungen der Wahrnehmung, die u.a. komplexe netzwerkartige Beziehungsmuster als vermeintlich lineare Kausalbeziehungen erkennt und Kausalbeziehungen auch dort identifiziert, wo sie nicht vorhanden oder unsicher ist. Diese Sachverhalte bilden den Rahmen für den Post Was ist Bewusstsein?.
 
Der Preis für Sicherheit erzeugende soziale Sachverhalte besteht in Kontrolle des Denkens und Verhaltens. Kontrolle erfordert Wissen und erzeugt Dominanz. In kollektive Kontrollmechanismen eingebundenes geteiltes Wissen produziert einen als Kultur bezeichneten symbolisch vermittelten Rahmen des Verhaltens. Ausprägungen von Kultur variieren ethnisch, räumlich, zeitlich über konkurrierende Verständnisse von Kultur, die der Post Was ist Kultur? betrachte.
 
Unbewusste kognitive Denkmuster erschweren Menschen das Ertragen von Ungewissheit und erzeugen Sehnsucht nach Sinnhaftigkeit. Erkenntnisse der Ungewissheit eigener Existenz und Suchen nach Wahrheit treiben die evolutionäre Dynamik von Kultur und Religion. Gemäß soziologisch-funktionaler Perspektive entstanden mit der kulturellen Evolution Religionen aufgrund sinnstiftender, integrierender, stabilisierender Funktionen zwangsläufig. In einer Welt voller Ungewissheit und Risiken produzieren Religionen gedankliche und soziale Ordnung stiftende Gewissheit und damit Sicherheit. Qua Kultur entstandene Prozesse der Verwissenschaftlichung der Welt dekonstruieren jedoch traditionelle religiöse Systeme und bewirken als unbeabsichtigte Folge einen Verlust an Kontrolle und eine Renaissance irrationaler Denkweise. Dieses Themenfeld sichtet der Post Was ist Religion?
 
 
1.1 Aussagearten 

Im Unterschied zur Alltagssprache unterscheiden Sprachphilosophie und Sprachwissenschaften aus gutem Grund sprachliche Äußerungen aufgrund ihres inhaltlichen Gehalts. Klassifikationen von Aussagearten verhelfen zur Unterscheidung der Art und des Gehalts von wissenschaftlichen Aussagen im Vergleich zu Aussagen anderer Art.(4)
  • Deskriptive Aussagen liefern Beschreibungen (Protokollsätze) von Sachverhalten (wie etwas ist). Als wissenschaftliche Aussage müssen deskriptive Aussagen überprüfbar sein. Deskriptive Aussagen gelten als wahrheitsfähig.
  • Explikative Aussagen dienen der Erklärung kausaler Zusammenhänge unter Bezugnahme auf Gesetzmäßigkeiten, Theorien, Hypothesen, Vermutungen. Explikative Aussagen gelten als wahrheitsfähig.
  • Normative (präskriptive) Aussagen beschreiben, wie etwas sein sollte und umfassen Entscheidungen, Wünsche, Wertvorstellungen, Vorschriften. Normative Aussagen sind nicht empirisch überprüfbar und daher nicht wahrheitsfähig. Wissenschaften sind nicht frei von normativen Aussagen:
  • Wissenschaften benötigen Regeln ihrer Methoden. 
  • Wissenschaften finden in wertgeladenen kulturellen Kontexten statt.
Anforderungen der Prüfbarkeit sowie die Art und Weise der Verwendung von Werturteilen in normativen Aussagen unterscheiden wissenschaftliche von nicht-wissenschaftlichen Aussagen (siehe auch Kapitel 2):
  • An Wissenschaften wird die Anforderung gestellt, dass ihre Aussagen wertneutral und überprüfbar sein sollen. 
  • Lehrmeinungen weltanschaulicher Dogmen religiöser oder politischer Art produzieren definitorische Festlegungen und nicht prüfbare normative Aussagen.
  • Dogmen können sich verbreiten, weil übliches Alltagsdenken ebenfalls dogmatischen Charakter hat. Alltagsdenken unterscheidet nicht zwischen Aussagearten und macht Wertneutralität und Prüfbarkeit gewöhnlich nicht zum Prinzip von Behauptungen. Wenn mangels Kriterien Fähigkeiten zur Beurteilung der Qualität von Aussagen fehlen, werden fremde Ansichten prinzipiell bezweifelt, während eigene Überzeugungen als ausreichende Begründung für persönliche Ansichten gelten. Fundamentalistische, extremistische, esoterische persönliche Ansichten sowie kollektive Weltanschauungen und Verschwörungstheorien beruhen auf dogmatisch strukturierter Denkweise.
 
 
1.1.1 Statistische Aussagen und Wahrscheinlichkeiten, wissenschaftliches Denken und Alltagsdenken(5)

Unter 1.1 benannte Aussagearten beziehen sich auf Aussagen, die aus Wahrnehmung und Wissen über epistemische Einzelphänome bzw. Ereignisse gewonnen werden, von denen bekannt ist, dass sie auftreten bzw. möglich sind oder für möglich gehalten werden. Um zu ermitteln, wie variable Eigenschaften von Einzelphänomenen (z.B. Größe oder Gewicht) sich in einer Gesamtheit darstellen, sind mathematische Verfahren der Statistik erforderlich. Die Auswahl geeigneter Verfahren ist abhängig von Fragestellungen.
 
Beispielsweise ist der Erkenntniswert der durchschnittlichen Körpergröße oder des durchschnittlichen Körpergewichts aller Deutschen gering. Wenn man Vergleiche zwischen Nationen zieht, nimmt der Erkenntniswert zu. Vergleiche von Veränderungen über Zeitreihen steigern den Erkenntniswert, weil sich zeigt, dass die Körpergröße seit Jahrhunderten und das Körpergewicht seit Jahrzehnten zunehmen. Solche Befunde sagen jedoch nichts über Ursachen von Veränderungen über Zeit oder über lokale Schwankungen aus. 
 
Bi- und multivariate Statistik vermag Stärken von Zusammenhängen zwischen Variablen als mathematische Größe darzustellen. Hierbei handelt es sich um Korrelationen. Ob eine Korrelation einen zufälligen (stochastischen) oder einen kausalen Zusammenhang zeigt, ist einer Zahl nicht anzusehen. 

Um kausale Zusammenhänge zu ermitteln, sind Hypothesen erforderlich. Hypothesen machen keine Aussagen über empirische Phänomene, sondern über vermutete Zusammenhänge zwischen empirischen Phänomenen. In Wissenschaften müssen sich Hypothesen empirisch bewähren. Hierzu werden sie mit Methoden gemäß Regeln wissenschaftlicher Arbeitsweise untersucht und zur Überprüfung gegen statistische Daten abgeglichen.

Relevanz bestätigter Hypothesen entsteht erst in Kontexten ihrer Aussagen. 
 
Beispielsweise haben statistische Aussagen über durchschnittliche Körpergrößen und durchschnittliches Körpergewicht sowie Hypothesen über Ursachen ihrer Veränderung und Verteilung nur geringen oder keinen Praxisnutzen. Z.B. benötigen Kleiderfabrikanten Daten zu Verteilungen individueller Merkmale über Variablen wie Geschlecht und Alter. Mit geeigneten Methoden liefern statische Verfahren Aussagen und auch Vorhersagen zur Verteilung von Merkmalen über Zeitreihen (z.B. Alter) und in Teilmengen (Geschlecht). 
 
Gewöhnlich erfolgt die Ermittlung von Daten nicht über Gesamtmengen (weil das bei großen Gesamtmengen schwierig, teuer, zeitaufwendig oder mit begrenzten Zeit- und Kostenbudgets unmöglich wäre), sondern mit Hilfe von Stichproben (Panels). In besonderen Fällen finden auch Erhebungen von Daten in Gesamtmengen oder großen Ausschnitten von Gesamtmengen statt, z.B. im Rahmen von Volkszählungen oder Schulleistungserhebungen (PISA).
 
Statistische Aussagen sind Induktionsschlüsse, die von einer begrenzten Menge an Beobachtungen (Stichprobe) auf eine Gesamtheit schließt. Bekanntlich besagt das Induktionsproblem, dass aus Einzelfällen keine gültigen Gesetzte abgeleitet werden können. Statistische Aussagen sind daher prinzipiell Wahrscheinlichkeitsaussagen, die keine zu 100 % gültigen Aussagen liefern können, aber immerhin Aussagen von ausreichender Genauigkeit mit verbleibender Restunsicherheit gestatten. Die Bestimmung von Genauigkeiten erfolgt mit mathematischen Methoden der Wahrscheinlichkeitstheorie. Je nach Bedarf an Genauigkeit werden aufgrund von Methoden der Wahrscheinlichkeitstheorie geeignete Parameter von Erhebungen bestimmt.

Kategoriale Unterschiede von Aussagearten sind im Alltagsdenken gewöhnlich ebenso unbekannt oder unverstanden wie das Induktionsproblem oder das Universalienproblem, in dem es um die nicht entscheidbare Frage geht, ob Allgemeinbegriffe (Universalen) tatsächlich existieren (Position des Realismus) oder ob es sich um gedachte abstrakte Konstrukte handelt (Position des Nominalismus).(6) Im Gegenteil verstehen Menschen die Welt gewöhnlich im Sinne des Realismus und neigen zu Induktionsschlüssen, d.h. sie verallgemeinern Eigenschaften von Einzelbeobachtungen im Sinne von Gesetzmäßigkeiten. Im Alltagsdenken ist daher schwer nachvollziehbar, dass aus statistischen Aussagen über Verteilungen von Merkmalen in Mengen keine exakten Aussagen über individuelle Merkmale ableitbar sind und umgekehrt individuelle Merkmale keine gültigen Widersprüche zu statistischen Aussagen darstellen. 
 
Beispielsweise ist statistisch bestimmbar, welche Körpergröße Männer und Frauen in welchem Alter durchschnittlich erreichen. Daraus lässt sich keine Aussage darüber ableiten, wie groß eine Person X oder Y tatsächlich ist. Aufgrund wahrscheinlichkeitstheoretischer Methoden lässt sich jedoch bestimmen, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine Person wie groß, wie schwer, wie alt etc. ist oder wird. Diese Wahrscheinlichkeit ist immer kleiner als 1 bzw. 100 %. Abweichungen von Maximalwerten in Verteilungen werden als Streuung bezeichnet. Statistische Aussagen über Verteilungen von Merkmalen haben immer eine Streuung, die je nach Untersuchungsbereich und verwendeten Methoden größer oder kleiner ausfällt. Weil Zusammenhänge zwischen statistischen Werten und individuellen Ausprägungen nur mit Wahrscheinlichkeit bestimmbar sind, widerlegen individuelle Ausprägungen keine statistischen Aussagen. Statistiken zeigen u.a. prognostisch den Einfluss von Lebensstilen auf Zeiträume von Lebenserwartungen, können aber keine individuellen Lebenserwartungen vorhersagen. Dass der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt als Kettenraucher fast 97 Jahre alt wurde, beweist daher nicht die Ungefährlichkeit des Rauchens.

Im Alltagsdenken verbreitete unsinnige Behauptungen wie "jede Statistik lügt" oder Ansichten über unglaubwürdige Statistiken ("glaube nur der Statistik, die du selbst gefälscht hast") zeugen von Missverständnissen, die aus mehreren Sachverhalten resultieren, aber auch einen wahren Kern enthalten:
  • Die Bedeutung von Wahrscheinlichkeitsaussagen bleibt unverstanden:
    Alltagsdenken bezieht sich gewöhnlich auf extern beobachtete oder intern verspürte Wahnehmungen von Sinnesempfindungen. Ähnlich wie Zahlen sind Wahrscheinlichkeiten jedoch keine Eigenschaften wahrnehmbarer Phänomene, sondern Bezeichnungen für abstrakte Konstrukte mathematischer Art.
  • Erklärungen zu Ursachen der Verteilung von Merkmalen werden missverstanden: Statistische Daten bzw. Größen und Verteilungen statistischer Merkmale sind nicht selbsterklärend. Erklärungen kausaler Ursachen von Größen und Verteilungen statistischer Merkmale beruhen auf Annahmen und Deutungen (Theorien, Hypothesen) die mehr oder weniger korrekt, aber auch fehlerhaft sein können. Deutungen enthalten prinzipiell Unsicherheiten. Weitere Unsicherheiten resultieren aus dem Design von Studien. Seriöse Studien benennen Unsicherheiten. 
  • Erklärungen zu Ursachen statistischer Verteilungen von Daten können Artefakte produzieren. Das Alltagsdenken kennt jedoch keine Artefakte und versteht sie daher nicht.
  • Ein bedeutender Grund für Zweifel an statistischen Aussagen entsteht aufgrund von unseriös manipulierten Aussagen auf Seiten der Produzenten von Aussagen. Unseriöse Aussagen nutzen Statistiken, um eigene Interessen oder Interessen von Auftraggebern mit Hilfe verfälschter Deutungen statistischer Verteilungen durchzusetzen. Mehrere Taktiken ermöglichen das Verbergen von Manipulation:
    • Auswahl unbrauchbarer Studiendesigns,
    • Intransparenz von Studiendesigns,
    • Verschleierung oder Eliminierung unerwünschter Daten,
    • manipulierte Deutungen von Studienergebnissen mit Hilfe interessengeleiteter Hypothesenbildungen.
Erwähnt sei, dass Statistik neben zuvor beschriebenen Methoden für Laien schwer verständliche komplementäre Methoden der mathematischen Modellierung zufälliger Ereignisse umfasst, die aus zufällig auftretenden empirischen Ereignissen Vorhersagemodelle ableiten. Verwendung finden solche Verfahren z.B. in der 
"Klimaforschung, Qualitätskontrolle, Wettervorhersagen (es regnet mit Wahrscheinlichkeit 70%), Versicherungswesen (Prämienkalkulation), Verkehrswesen (Studium von Warteschlangen - Ampelsteuerung), Epidemiologie (Modelle für die Ausbreitung von Krankheiten), Meinungsforschung, Bankwesen (Portfolio-Analyse, Marketing Strategien), Telekommunikation (Modellierung von Verteilungen von Gesprächsdauern) oder Quantenphysik."(7)
 
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  1. Ein von Daniel Lommes veröffentlichtes Vorlesungsskript, verdichtet erkenntnistheoretische Positionen in einer Übersicht: Zusammenfassung WS08-09 “Einführung in die theoretische Philosophie” (Daniel Lommes) (PDF)
  2. Unbewusste kognitive Muster des Entscheidungsverhaltens betrachtet der Post Was ist Bewusstsein?
  3. Bibelserver Einheitsübersetzung 2016: 1. Mose 3   
  4. Wikipedia: Aussagenart 
  5. Weiterführende Quellen:
  6. Vgl. Kapitel 3.1 des Posts Was ist Bewusstsein?
  7. Ruhr-Universität Bochum: Was ist Stochastik? 
 
 
2 Struktur und Reichweite wissenschaftlicher Aussagen

Empirische Sachverhalte erklären sich nicht selbst. Zum Sprechen bringen sie Zuweisungen von Bedeutungen. Deutungen mit Anspruch auf Wissenschaftlichkeit sind von kulturellen Kontexten beeinflusst, die selbst als Ergebnisse von Deutungsprozessen aufzufassen sind. Diese Gemengelage sowie die Qualität von Objekten, Untersuchungsmethoden und fachlicher Expertise bringen zwangsläufig unterschiedliche wissenschaftliche Verständnisse von Welt und konkurrierende Theorien hervor.  

Wissenschaftliche Aussagen verkünden keine Wahrheiten, sondern Erkenntnisse, die unter nachvollziehbaren Bedingungen (Theorien, Versuchsanordnungen, Messmethoden etc.) zustande kommen. Wissenschaftliche vs. nicht-wissenschaftliche Aussagen unterscheiden sich nicht notwendig inhaltlich, sondern methodisch:
  • Wissenschaftliche Aussagen sind Überprüfungen verpflichtet und benennen Bedingungen, unter denen sie zustande gekommen sind, um Nachvollziehbarkeit zu ermöglichen.
  • Wissenschaftliche Veröffentlichungen sind verpflichtet, von außen auf Untersuchungen einwirkende Interessen zu benennen (Auftraggeber und Sponsoren).
  • Weil wissenschaftliche Aussagen keine Dogmen sind, müssen sie sich gegenüber Kritik öffnen und bewähren.
Als wissenschaftlich betrachtet diese Postserie Aussagen, 
  • die sich auf empirische Sachverhalte beziehen, 
  • Phänomene der realen Welt ausschließlich physikalisch erklären,
  • formal-logische Anforderungen des deduktiv-nomologischen Modells wissenschaftlicher Erklärung berücksichtigen, gemäß der wissenschaftliche Aussagen empirisch überprüfbar und prinzipiell widerlegbar sein müssen.
Naturwissenschaftler vertreten überwiegend ein strenges empirisch-analytisches Verständnis von Wissenschaft. In sog. Geisteswissenschaften bestehen zwei Hauptlager, zwischen denen die Kommunikation oft schwierig ist:
  • Das eine Lager vertritt die beschriebene empirisch-analytische Position.
  • Das andere Lager vertritt phänomenologische Positionen und nimmt an, dass ein angemessenes Verständnis von Phänomenen nicht-materieller Art nur deskriptiv möglich ist.
Vertreter der empirisch-analytischen Positionen lehnen phänomenologische Aussagen nicht ab, sondern nutzen sie ebenfalls zur Bildung von Hypothesen, Modellen, Theorien. Solange diese Aussagen nicht gemäß Anforderungen analytischer Wissenschaft überprüfbar sind, handelt es sich um Narrative. Als wissenschaftlich werden Aussagen erst dann aufgefasst, wenn sie überprüfbar sind. Für Vertreter dieser Position genügen Aussagen über Entstehung, Dynamik und Relevanz von Bewusstsein, Kultur, Religion mangels empirischer Evidenz nicht den Anforderungen wissenschaftlicher Erklärungen und sind daher im strengen Sinn keine wissenschaftlichen Aussagen. 
 
Verständnisse von Bewusstsein, Kultur, Religion stützen sich zwar auf wissenschaftlich bewährten evolutionstheoretischen Erkenntnissen und nutzen kulturelle Artefakte als Indizien für die Formulierung dynamischer Gesetzmäßigkeiten von Prozessen, aber sie bleiben spekulativ. Spekulativ bedeutet nicht nutzlos oder sinnlos, sondern besagt, dass eine empirisch nicht überprüfte oder nicht prüfbare Aussage als Vermutung zu betrachten ist, diese nicht als wissenschaftliche Aussagen gelten, aber der wissenschaftlichen Erkenntnis dienen. 
 
Allerdings stellt sich der Sachverhalt nicht so klar da, wie es den Anschein hat. Seit der Diskussion über wissenschaftliche Paradigmen (Vgl. Post: Was ist Kultur?, Kapitel 3.3.2) hat sich ein Verständnis von Wissenschaft durchgesetzt, gemäß dem wissenschaftliche Aussagen ebenfalls auf nicht prüfbaren Axiomen basieren. Innerhalb von Normalwissenschaft bleiben Axiome jedoch unhinterfragt und gelten als wahr.
 
Ob Bewusstsein (Geist) als eine eigenständige Entität oder als eine in der Evolution entstandene komplexe Funktion physikalischer Prozesse aufzufassen ist, bildet als Frage den Kern der Leib-Seele-Diskussion zwischen Vertreten von zwei Hautlagern mit jeweils mehreren Unterlagern. Aus Sicht der materialistisch-physikalischen Position entstehen Fähigkeiten des Bewusstseins und Erkenntnis als nützliche Illusionen. Von einer Entscheidung ist diese Diskussion weit entfernt und es ist fraglich, ob eine Entscheidung prinzipiell möglich ist. Trotzdem sollte diese Diskussion nicht ignoriert werden, weil unterschiedliche Auffassungen über Axiome wissenschaftlicher Erklärung auf wissenschaftliche Aussagen einwirken.
 
Je weiter Erklärungen zeitlich zurückreichen, desto dürftiger sind empirische Belege zur Evolution des Menschen und seiner Fähigkeiten und umso spekulativer geraten sich auf dürftige Belege stützende Annahmen und Deutungen. Zahlreiche archäologische Funde des 19. und 20. Jahrhunderts legen Spuren in die Vergangenheit, die aber erst mit aktuellen technischen Methoden verlässlich datiert werden können. Dank Genanalysen fallen neuerdings Datierungen fossiler Funde und Überprüfungen von Theorien zu empirischen Sachverhalten erheblich genauer aus. Zahlreiche Theorien sind inzwischen verworfen, weil sie neueren Erkenntnissen nicht standhalten. 
 
Ein detaillierter Nachvollzug dieses wissenshistorischen Prozesses ist kein Anliegen dieser Reihe. Der wissenshistorische Prozess macht jedoch Unsicherheiten und die Vergänglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis deutlich. Was heute als Stand von Wissenschaft gilt, ist morgen historischer wissenschaftlicher Stand. Dieser Situation entkommt niemand, auch nicht diese Postreihe, die den aktuellen Stand der Erkenntnis zur Evolution von Kultur und Religion sichtet und zu ordnen versucht. Erst mit der Identifizierung und Beschreibung struktureller Zusammenhänge entsteht ein Bild, das den Prozess der Evolution von Religion im Kontext der Evolution von Kultur plausibel macht, jedoch nicht beweist. Irrtümer sind nicht nur möglich, sie sind wahrscheinlich. Neue Erkenntnisse werden voraussichtlich Korrekturen dieses Bildes einfordern. Vielleicht muss es auch neu gezeichnet werden.
 
 
 
3 Perspektiven der Analyse von Kultur
 
Wahrnehmung von Welt sowie implizite und explizite Bewertungen der Wahrnehmung von Welt beruhen auf evolutionär entwickelten Fähigkeiten eines biologischen kognitiven Apparates, der bei höheren Arten komplexe soziale Funktionen wie sprachliche Kommunikation und soziale Kooperation herausgebildet hat. 
 
Als sich selbst organisierende offene Systeme verfügen lebende biologische Organismen über Fähigkeiten der Plastizität, die biologischen Organismen über die gesamte individuelle Lebenszeit im Austausch mit der Umwelt Anpassungen an dynamische Lebensbedingungen ermöglichen. Biologische Funktionen des kognitiven Apparates entwickelten sich über lange Zeiträume in Jahrmillionen.
 
Kognitive Apparate ermöglichen Verhalten und Überleben in chaotischen Lebensumgebungen, indem sie Komplexität einer chaotischen Welt reduzieren. Die Reduzierung von Komplexität gelingt mittels unbewusster mechanischer Wahrnehmungsfilter von Sinnesorganen sowie mittels intelligenter Wahrnehmungsfilter des kognitiven Apparates, die unbewusst Muster bilden und Verhaltensoptionen erzeugen.(1)
 
Soziale Funktionen sind ebenfalls allmählich entstanden, aber in erheblich kürzeren evolutionären Prozessen und unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Reproduktionsgeschwindigkeit deutlich von biologischen Funktionen. Aufgrund kurzer Reproduktionszyklen mutieren soziale Funktionen unter veränderten Lebensbedingungen schnell und bilden in kurzer Zeit nicht nur veränderte Funktionen, sondern erzeugen durch Ausdifferenzierung zusätzliche Varianten.
 
Soziales Verhalten ist kein Privileg von Menschen. Alle höhere Tierarten verfügen über erlerntes soziales Verhalten. In Verbänden lebende Tierarten zeigen Verhaltensweisen, die ebenfalls auf kollektiven Mustern beruhen und als rudimentäre Kulturen gelten können. Die Spezies Mensch benötigt für ihr Überleben soziale Funktionen höherer Komplexität. Diese kommen mit Hilfe durch Symbole (Bedeutungsträger von Zeichen und Sprache) repräsentierte einvernehmliche Verständnisse über Sinnhaftigkeit zustande. Um sinnhafte Verhaltensprinzipien zu entwickeln und diese zum Zweck ihrer Anwendung mit Symbolen zu repräsentieren und kommunizieren, sind Fähigkeiten abstrakten Denkens erforderlich, über die in dieser Qualität keine höheren Tierarten verfügen. Menschliches soziales Verhalten beruht auf einer Mischung von genetisch programmierten Verhaltensweisen mit Mustern kulturell geprägter kollektiver Verständnisse von Welt.  
 
Da Kultur lokal oder regional entsteht, besteht und mutiert, unterscheidet sich Kultur zwangsläufig interkulturell hinsichtlich Bedeutungen ihrer Kategorien, begrifflichen Ordnungen, Symbolen, Traditionen, Narrativen sowie hinsichtlich deren Verbindlichkeitsgrade. Kulturwissenschaften wie Soziologie, Sozialanthropologie und Ethnologie erschließen diese Sachverhalte analytisch. 

 
3.1 Kulturelle Pluralisierung und Fragmentierung 
 
In der Gegenwart haben sich komplexe Sozialsysteme zu pluralistischen Kulturen mit zahlreichen Subkulturen ausdifferenziert, die sich hinsichtlich Wertvorstellungen und sozialer Normen mehr oder weniger stark unterscheiden. Pluralisierung von Kultur resultiert aus der Fragmentierung in Subkulturen. Pluralisierung ermöglicht Persistenz fragmentierter Kulturen. Allerdings haben Pluralisierung und Fragmentierung einen Preis. Sie schwächen Resilienz und erhöhen Vulnerabilität sozialer Ordnungen.
  • Pluralisierung erhöht Komplexität sozialer Ordnungen und vermindert deren Transparenz.
  • Fragmentierung erweitert den Umfang individueller und kollektiver Freiheiten auf Kosten von Konfliktpotentialen. 
  • Handlungsoptionen nehmen zu. Gleichzeitig nehmen Orientierung und Verhaltenssicherheit ab. Lebenszusammenhänge werden undurchschaubarer.
  • Relativierung und Pluralisierung kultureller Werte reduzieren Verbindlichkeiten sozialer Normen. Mechanismen der Verhaltenskontrolle werden schwächer.
  • Mit abnehmender Stabilität beschleunigt sich die Dynamik sozialer Ordnungen.
  • Harmonisierungsbedarf von Konfliktpotentialen stellt hohe Anforderungen an die Integrationsfähigkeit und Resilienz sozialer Ordnungen und erfordert konsensfähige Supermuster eines ebenso stabilen wie flexiblen kulturellen Rahmens.
  • Etablierung und Pflege konsensfähiger Supermuster sind vordringliche Aufgaben des politischen Systems pluralistischer Kulturen.

3.2 Naturalismus (Physikalismus) vs. Metaphysik vs. Konstruktivismus (Kulturalismus)

Dieses Kapitel skizziert Grundannahmen gegensätzlicher wissenschaftlicher Positionen, ohne Feinheiten und Varianten zu berücksichtigen.(2)

Physikalistische Positionen fassen die Welt im Sinne von Naturalismus als Geschehen der Natur auf und nehmen eine vom Menschen unabhängige Realität an, die mit wissenschaftlichen Methoden erforscht und erklärt werden kann. Ihrem Handwerk nachgehende Naturwissenschaftler beschäftigen sich i.d.R. vermeintlich ausschließlich mit Fakten und nehmen an, dass in der Realität auftretende Sachverhalte auf natürlichen Ursachen beruhen, deren Ursachen mit Mitteln empirischer Forschung erklärt werden können. Die Existenz metaphysischer Entitäten schließen sie implizit oder explizit aus.
 
Da Naturalismus alle Objekte und Prozesse der Welt auf Materie und deren physikalische Gesetzmäßigkeiten zurückführt, wird er auch als Materialismus oder als Physikalismus bezeichnet. Diese Position kennt nur eine Substanz und gilt daher als Monismus, von dem sich dualistische oder pluralistische Position unterscheiden. Die Perspektive des Naturalismus erklärt Denken und Emotionen als Prozesse von Materie. Geist und Bewusstsein gelten als Fiktionen. 
 
Der postulierte Reduktionismus gelingt bisher jedoch nicht oder nur unbefriedigend. Bei genauer Betrachtung sind Operationen wie Beobachten, Experimentieren, Erklären und Überprüfungen von Theorien jedoch nicht metaphysisch voraussetzungsfrei möglich. Da aus wissenschaftstheoretischer Sicht jegliches Wissen Vermutungswissen bzw. vorläufiges Wissen ist, bestehen gegen Naturalismus gewichtige Einwände. Versuche der Auflösung kontroverser Positionen werden als metaphysischer Naturalismus diskutiert (siehe Verweise der Anmerkung 2).

Während analytisch-nomologische Wissenschaftsauffassung von der Existenz universaler Naturgesetze ausgehen, fassen interpretativ-interaktionistische Wissenschaftsauffassungen Erkenntnis als Konstrukte sozialer Deutungsprozessen auf.(3) Damit ist nicht behauptet, dass keine Realität existiert, sondern lediglich ausgesagt, dass keine beweisbaren Aussagen über Realität möglich sind. In ihrer radikalen Version nehmen Positionen des Konstruktivismus nehmen, dass über objektive Realität keine logisch sinnvollen Aussagen möglich sind und Annahmen über Realität auf Konstrukten des kognitiven Apparates beruhen, die in sinnstiftenden Prozessen zustandekommen. Kontroverse Positionen des Monismus und Dualismus beruhen aus dieser Sicht auf unterschiedlichen Sprachspielen, von denen keines Gültigkeit beanspruchen kann (siehe Kapitel 6).


3.3 Funktionalismus

Funktionale Erklärungen suchen nicht nach speziellen Eigenschaften bzw. dem Wesen oder der Substanz eines Phänomens, sondern beschreiben die nicht nur zufällig oder singulär auftretende Existenz eines erklärungsbedürftigen Phänomens durch seinen Zweck (funktionale Notwendigkeit), den es für ein übergeordnetes Ganzes erfüllt. Funktionale Erklärungen sind aufgrund ihres impliziten kausalen Musters und ihrer empirischen Zugänglichkeit für das Verständnis systemischer Zusammenhänge hilfreich und daher in etlichen naturwissenschaftlichen Disziplinen verbreitet und ebenso in geisteswissenschaftlichen Fachrichtungen der Soziologie, Ethnologie, Psychologie und Philosophie anzutreffen.(4)
 
Funktionalistische Positionen gehören zum physikalischen Monismus.(5) Aus monistischer Perspektive sind eine wie ein menschliches Gehirn denkende Maschine bzw. Künstliche Intelligenz prinzipiell möglich. Wissenschaftlich ist diese Annahme strittig. Allerdings ist einzuräumen, dass sich der Zuwachs an Wissen in vergangenen Jahrzehnten enorm beschleunigt hat und weiter beschleunigt. Da wir nicht wissen, wohin dieser Wissenszuwachs führt, ist die Möglichkeit vollwertiger KI nicht auszuschließen.
  • Für monistische Annahmen spricht das allgemeine Verständnis des Anspruchs von Wissenschaft, gemäß dem Naturgesetze für die gesamte Realität gelten und frei von Widersprüchen sind.
  • Gegen monistische Annahmen spricht, dass bedeutende theoretische Modelle der Physik (Quantenmechanik und allgemeine Relativitätstheorie) und der Philosophie (Leib-Seele-Problem) bisher nicht widerspruchsfrei vereint werden können und darum vermutlich fehlerhaft sind.
Als Klassiker der Soziologie und Begründer des soziologischen Funktionalismus gilt der französische Soziologe Èmile Durkheim (1858-1917). Durkheim nahm an, 
  • dass soziale Ordnungen strukturiert sind, 
  • Strukturen funktionale Bedeutung für den Erhalt der sozialen Ordnung haben, 
  • Strukturen von außen auf Denken und Verhalten von Menschen unbewusst einwirken,
  • Strukturen durch ihre sich im Verhalten von Menschen ausprägenden Funktionen identifiziert und analysiert werden können.  
 
3.4 Strukturalismus 
 
Der Begriff Strukturalismus bezeichnet Forschungsprogramme, die davon ausgehen, dass menschliches Denken und Handeln von Regelwerken kultureller Symbolsysteme beeinflusst ist. Strukturalistische Erklärungen analysieren und klassifizieren Strukturen und Mechanismen dieser als Systeme aufgefassten Regelwerke. Zeichensysteme der Sprache verstehen Strukturalisten als Grundtyp jeder Ordnung von Realität. Als Begründer strukturalistischer Denkweise gilt der Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure (1857-1913), der Sprache als eine systemische Struktur beschreibt, die zur Verständigung Kontinuität in der Zeit erfordert (synchronische Perspektive) und zugleich permanenter Transformation unterworfen ist (diachronische Perspektive). Darüber hinaus zeigen sprachliche Symbolsysteme gleichzeitig soziale wie auch individuelle Ausprägungen, deren Analyse kulturelle Weltverständnisse erschließen.(6,7)
 
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  1. Vgl. Post: Architektur von Erinnerung, Wissen, Wahrheit - interdisziplinär betrachtet, Kapitel 5: Individualismus, Identität und Persönlichkeit
  2. Aussagen des Kapitels 3.2 stützen sich auf 2 Rezensionen einer Veröffentlichung von Martin Mahner: Naturalismus. Die Metaphysik der Wissenschaft, Aschaffenburg 2018
  3. Uni Oldenburg: Konzepte und Definitionen im Modul Wissenschafts- und erkenntnistheoretische Grundlagen
  4. Funktionalismus in Sozialwissenschaften ist nicht identisch mit Positionen in der Philosophie des Geistes, die mentale Zustände als funktionale Zustände verstehen. Dieser Post bezieht sich auf Funktionalismus in Sozialwissenschaften.  
  5. Einen Überblick über wissenschaftstheoretisch konkurrierende grundlegende Positionen gibt Anmerkung 1 zu Kapitel 1 des Posts Evolution, kognitive Revolution und die Folgen.
  6. Wikipedia: Strukturalismus
  7. Spektrum: Strukturalismus


4 Basale Annahmen zu Religion
  1. Mit der Homonisation und der kognitiven Evolution des frühen Homo sind Kultur und Religion entstanden. Kultur und Religion beschreiben als Begriffe Dispositionen von Eigenschaften, die sich in der Evolution des Homo sapiens als komplexes soziales Verhalten entfalten. Kultur und Religion ermöglichen kausal die Entstehung und das Überleben als biologische Art. 
  2. Gemäß funktionalistischer Denkweise ist Religion als eine notwendig entstandene Ausprägung von Kultur aufzufassen.
  3. Phänotypen von Religion variieren kontingent über Ausprägungen von Kultur.   
  4. Ausprägungen von Kultur variieren kontingent. Über Treiber kultureller Kontingenz und Dynamik besteht kein Konsens. 
  5. Kultur und Religion stellen sich analytisch diffus und vielgestaltig dar und sind weder im allgemeinen noch im wissenschaftlichen Denken exakt bestimmbar. Definitionen und Verständnisse dieser sozialen Sachverhalte streuen intra- und interkulturell über ein breites Spektrum. Offenbar manifestieren Kultur und Religion ihre kausale Rolle für das Überleben der Art Homo sapiens nicht auf eine bestimmte, sondern auf unterschiedliche und nicht unmittelbar einsichtige Arten.
Die Annahme, dass Kultur und Religion für die Entstehung und das Überleben von Homo sapiens kausale Bedeutung haben, wäre aussagenlogisch eine Pseudoerklärung, solange nicht kausale Mechanismen unabhängig vom zu erklärenden Phänomen beschrieben werden können. Fragestellungen nach der Art kausal wirksamer Mechanismen geht der Post Was ist Religion? nach.

 
 
5 Perspektiven ethnologischer Theorien(1)
 
In einer unüberschaubaren Vielfalt verbreitete ethnologische Theorien können hier nicht im Detail vorgestellt werden. Wie auch immer sich ethnologische Theorien unterscheiden, lassen sie sich zwei Hauptrichtungen zuordnen:(2)
  • Theorien, die trotz Vielfalt menschlicher Kulturen auf einheitliche Prinzipien verweisen (Universalien),
  • Theorien, die Gründe für eine vermeintliche unendliche Vielfalt menschlicher Kulturen aufzeigen oder darüber hinaus aufgrund der Vielfalt menschlicher Kulturen eine prinzipielle Unvergleichbarkeit von Kulturen postulieren.
 
5.1 Theorien auf der Suche nach Universalien

Abgesehen von historisch überholten oder speziellen Blüten sind aktuell zwei ernstzunehmende Modelle relevant.


5.1.1 Funktionale Erklärungen
 
Bronisław Malinwoski (1884-1942), in England und USA lebender polnischer Sozialanthropologe, orientierte sich an naturwissenschaftlichen Konzepten des biologischen Organismus und des physikalischen Systems und entwickelte das funktionalistische Modell zunächst zu einem empirisch-methodischen Konzept seiner Feldforschungen, das er später zu einer allgemeinen Theorie von Kultur ausbaute. Kultur betrachtete Malinowski als eine sekundäre Umwelt, die Menschen als Mittel zum Zweck der Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse erschaffen.
 
Da die Natur des Menschen im Wesentlichen biologisch determiniert ist, konnte Malinowski erklären, warum unterschiedliche Kulturen im Großen und Ganzen ähnliche Institutionen ausbilden, die insgesamt den gleichen Grundbedürfnissen dienen. Die Vielfalt von Kulturen löste Malinowski durch biologischen Fundamentalismus auf.
 
Alfred Radcliffe-Brown (1881-1955) britischer Sozialanthropologe und Mitbegründer des Strukturfunktionalismus argumentierte ebenfalls funktionalistisch, er fokussierte jedoch auf soziale Beziehungen und ihren Wechselwirkungen. Institutionen und kulturelle Traditionen dienen gemäß Radcliffe-Brown der Persistenz sozialer Ordnungen in unterschiedlichen funktional relevanten Ausprägungen.
 
Talcott Parsons (1902-1979), Schüler von Malinowski, leistete wesentliche Beiträge zur Entwicklung des Strukturfunktionalismus sowie der soziologischen Systemtheorie und übte bis Ende der 1970er Jahre großen Einfluss auf die Soziologie insgesamt aus. Zu Parsons Schülern zählen u.a. Robert Bellah und Niklas Luhmann. Aus Sicht empirisch orientierter Soziologen hat Parsons einen begrifflich-kategorialen Bezugsrahmen entwickelt, der nicht als Soziologie, sondern als Sozialphilosophie aufzufassen ist.


5.1.2 Strukturalistische Erklärungen
 
Claude Lévi-Strauss (1908-2009) französischer Ethnologe und Begründer des ethnologischen  Strukturalismus vertrat ein konstruktivistisches Verständnis sozialer Realität. Lévi-Strauss betrachtete soziale Realität nicht empirisch, sondern er suchte auf einem höheren Abstraktionsniveau nach Regelwerken zur Konstruktion von Modellen der Realität. Lévi-Strauss  nahm an, dass unterschiedliche Menschen in unterschiedlichen Kulturen über gleichartige kognitive Kompetenz verfügen und daher zur Bewältigung der Komplexität ihrer Umwelt gleichartige Regelwerke nutzen. Diese Regelwerke sind nicht in empirischen Objekten zu finden, sondern in abstrakten Regelsystemen. Da Sprache das grundlegende menschliche Regelsystem bildet und linguistische Methoden Strukturähnlichkeiten von Sprachen aufzudecken vermögen, nutzte Lévi-Strauss linguistische Methoden für seine Analysen sozialer Regelsysteme und fand in unterschiedlichen Kulturen gleichartige Regelsysteme, die aus gleichartigen unbewussten kognitiven Strukturen resultieren.
 
Methodisch üben von Lévi-Strauss entwickelte strukturalistische Verfahren noch immer großen Einfluss auf Kulturwissenschaften aus. Seine Annahmen zu Universalien menschlichen Denkens sind jedoch umstritten und konnten sich nicht durchsetzen.(3)


5.2 Theorien und Probleme der Vielfalt von Kulturen 
 
5.2.1 Kulturrelativistische Theorien
 
Franz Boas (1858-1942), deutsch-amerikanischer Ethnologie, gilt als Begründer des methodischen Kulturrelativismus, der wie Funktionalismus vorgeht, aber unterstellt, dass unterschiedliche Kulturen nicht vergleichbar sind und daher jede Kultur als einzigartig aufzufassen ist. Fragen interkultureller Ähnlichkeiten oder Gemeinsamkeiten treten in den Hintergrund oder gelten aufgrund von Inkommensurabilität als irrelevant. Aussagenlogisch zählen kulturrelativistische Theorien zu pluralistischen Positionen.
 
 
5.2.2 Interpretative Ethnologie

Der Anspruch kulturwissenschaftlicher Theorien, Gesetzmäßigkeiten aufzudecken und  Erklärungen methodisch an Naturwissenschaften zu orientieren, erwies sich zunehmend als brüchig. Wissenschaftliche Krisen der Ethnologie schuf Raum für neue Konzepte, die Kulturen nicht erklären, sondern verstehen wollen und als interpretative, symbolische oder reflexive Ethnologie bezeichnet werden. Interpretative Ethnologie bezweifelt eine von außen wahrnehmbare objektive Realität ihrer Forschungsgegenstände und postuliert, dass Bedeutungen von Gegenständen sich erst in einem Kommunikations- und Handlungskontext erschließen.(4,5) Kultur versteht interpretative Anthropologie als ein selbstgesponnenes Bedeutungsgewebe und sucht daher nicht nach Gesetzmäßigkeiten, sondern nach Bedeutungen. Aussagenlogisch zählen Konzepte der interpretativen Ethnologie zu pluralistischen Positionen.
 
Ein Hauptprotagonist der hermeneutischen Forschungsrichtung war der US-amerikanische Ethnologe Clifford Geertz (1926-2006). Geertz fasste Kulturen als geschlossene Bedeutungssysteme auf, die er wie literarische Texte zu lesen, zu analysieren und zu interpretieren versuchte. Schlüssel des Verstehens bildeten für Geertz Symbole, die in Kommunikationsprozessen auf Weltsichten, Wertvorstellungen und Handlungsmotive verweisen.(6)
 
Als Vertreter einer reflexiven Ethnologie setzte sich Clifford Geertz mit der eigenen Rolle, der eigenen Autorität, dem eigenen Anspruch sowie der Art und Weise der Repräsentation fremder Kulturen auseinander. Geertz forderte, dass Ethnologen nicht bei der Beschreibung des empirisch Vorgefundenen bleiben dürfen, sondern Tiefenstrukturen innerer Logik von Handlungen interpretativ erschließen sollen. Um fremde Lebensformen, Vorstellungen und Handlungen zu verstehen, sollen sich Wissenschaftler nicht in der Rolle des Subjekts der Forschung und ihre Forschungsgegenstände nicht als Untersuchungsobjekte sehen, sondern eine partnerschaftliche Zusammenarbeit anstreben, in der die Beteiligten sich und ihre Handlungen ernst nehmen. Eine adäquate Beschreibung fremder Kulturen muss lokales Wissen und lokale Deutungen einbeziehen.(7)

Clifford Geertz vertrat kulturrelativistische Postionen:
Natur und Wissen begreift er als „lokales Wissen“. Universalistische Moralvorstellungen, wie das Konzept der Menschenrechte, treten gegenüber Ethiken der unterschiedlichen Kulturen in den Hintergrund. Der Mensch muss lernen, sich zwischen den Kulturen zurechtzufinden, die Wissenschaft sollte komplexe gegensätzliche Strukturen durchschauen und insbesondere die „turns“, d. h. die Wendungen, herausarbeiten.(8)
 
Ohne zweifelsfrei identifizierbare Objekte als Gegenstände von Wissenschaft sind nicht nur Ansprüche auf wissenschaftliche Erklärungen hinfällig, sondern darüber hinaus jeder Anspruch auf Wissenschaftlichkeit von Beobachtungen und ihren Deutungen. Konsequenterweise verstand Geertz ethnografische Texte als fiktionale Literatur, die literarischen und rhetorischen Gestaltungskriterien gehorcht.(9)  
 
 
5.3 Positionen der Ethnologie in der Gegenwart
 
Nach dem Ende des Kolonialismus verlor Ethnologie als wissenschaftliches Fach in Europa an Bedeutung, Einfluss sowie Ausstattung mit Finanzmitteln und erodierte. Die Political-correctness-Bewegung der USA sowie Bewegungen wie Feminismus, Gender, Queer begünstigten insbesondere in den USA die Formierung eine kulturkritischen, postkolonialen und postmodernen Ethnologie, die Interessen von Minderheiten unterstützt. Vertreter einer postmodernen skeptischen Ethnologie führten einen Paradigmenwechsel herbei und übernahmen im Fach die Macht. Vertreter einer 'klassischen' Wissenschaftsauffassung traten den Rückzug an. 
 
Methodischer Kulturrelativismus, den ursprünglich Franz Boas und Schüler im 20. Jahrhundert gegen vorherrschenden Evolutionismus und Rassismus dominanter westlicher Kulturen in Stellung brachten, mutierte im 21. Jahrhundert zu einem doktrinären Kulturrelativismus. Dieser immunisiert sich gegen jede Kritik von außen mit Hinweisen auf einen essenziellen Werterelativismus, der Optionen universaler Menschenrechte ausschließt. In aktueller globaler Politik praktizieren China, Russland und einige islamische Staaten diesen Werterelativismus  exemplarisch. Aber auch zahlreiche weniger prominente Minoritäten, Sekten, Subkulturen berufen sich auf prinzipiellen Werterelativismus. Sie verweigern die Anerkennung universaler Werte und geißeln diese als getarnte Versuche europäischer Politik, politisch nicht mehr durchsetzbare Dominanz ehemals imperialer und kolonialer Politik in ethische Verpackung zu kleiden, um sie nicht aufgeben zu müssen.
 
Aufblühender doktrinärer Werterelativismus bildet eine Achillesferse des ethnologischen Kulturrelativismus, an der sich Kritik entzündet und dazu führte, dass sich die Ethnologie inzwischen vom Begriff Kultur distanziert.(10,11) Postmoderne Skepsis von Ethnologen gegenüber Aussagen mit Anspruch auf Wissenschaftlichkeit verdrängte szientistische Ansätze der Ethnologie an den Rand. Mit der Indigenisierung der Ethnologie setzte eine ethnizistische Aufsplitterung des Fachs bei gleichzeitig neuen Betätigungsfeldern ein. Die Beschäftigung mit Minoritäten und ein weltweiter Trend zur Erforschung und Rettung bedrohter Kulturen sowie zur Wiederbelebung nahezu vergessener Kulturen und Traditionen verhalfen der Ethnologie als Fach zu Erfolg und ebneten Grenzen zu Nachbarfächern ein. Unstrittig ist die Bedeutung des Kulturrelativismus als methodisches Prinzip ethnologischer Forschung. Inzwischen gelten methodische Ansätze, Fragestellungen und Sichtweisen der Ethnologie fachübergreifend als Standards für die Analyse von Kulturen.(12)

Die beschriebene Entwicklung entbehrt nicht einer gewissen Paradoxie. Ethnologie zahlt ihren Erfolg der Gegenwart mit der Aufgabe wissenschaftlicher Ansprüche und kann im engeren Sinn nicht mehr als Wissenschaft gelten. Damit stellt sich die Frage, wie Ethnologie einzuordnen ist. Clifford Geertz hat bereits die Konsequenzen gesehen und eine Antwort formuliert, als er Ethnologie als Literatur bezeichnete. Heute würde man eher von Narrativen sprechen. Welches Licht oder welche Schatten dieses Verständnis von Ethnologie auf Wissenschaft allgemein und auf Kulturwissenschaften speziell wirft, ist eine tief in wissenschaftstheoretische Diskussionen führende Fragestellung, deren Thematik über diesen Post weit hinausreicht. Offensichtlich ist jedoch, dass die Ausbreitung von Denkweisen ethnologischer Theorie eine Diskussion in Gang gesetzt hat, die an Fundamenten der Architektur von Wissenschaft rüttelt. Einen stark verkürzten Blick auf diese Diskussion wirft das nachfolgende Kapitel 6.

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  1. Anmerkungen dieses Kapitels basieren auf einer Veröffentlichung des Ethnologen Karl-Heinz Kohl: Ethnologie – die Wissenschaft vom kulturell Fremden. Eine Einführung. München 1993; 3. Auflage 2012.
  2. Karl-Heinz Kohl: Ethnologie, a.a.O., S. 133
  3. Karl-Heinz Kohl: Ethnologie, a.a.O., S. 146
  4. Wikipedia: Interpretative Ethnologie
  5. Enzyklopädie Wiki: Symbolische Anthropologie
  6. Siehe Post: Was ist Kultur?, Kapitel 2.4.4
  7. Portal de-academic.com/dic.nsf/dewiki: Clifford James Geertz
  8. Wikipedia: Clifford Geertz
  9. FU Berlin, Sozial- und Kulturanthropologie: Reflexive Anthropologie
  10. Karl-Heinz Kohl: Ethnologie, a.a.O., S. 186ff.
  11. Wikipedia: Soziokulturelle Evolution
  12. Karl-Heinz Kohl: Ethnologie, a.a.O., S. 168ff.
 
 
6 Konstruierte Realität
 
In Kapitel 5.2 vorgestellte kulturrelativistische Positionen beschränken sich nicht auf Ethnologie, sondern strahlen auf kulturwissenschaftliche Fächer aus, in denen sie etablierte Ansichten dekonstruierten und paradigmatische Diskussionen auf Metaebenen provozieren. Aus der metatheoretischen Diskussion geht eine Neuordnung von Denkweisen insbesondere in Philosophie, Psychologie und Soziologie hervor, die Modellhaftigkeit ihrer Ansichten nicht länger abstreitet, sondern einräumt und schließlich Modellhaftigkeit wissenschaftlicher Annahmen zum Prinzip wissenschaftlicher Theorien erhebt. 
 
Modelle sind keine Beschreibungen objektiver Realität, sondern gedankliche Konstrukte von Annahmen über Zusammenhänge zwischen empirisch beobachteten Objekten einer wie auch immer gearteten Welt. Wenn Modelle keine objektive Realität beschreiben, sondern Realität konstruieren, entsteht auf Metaebene Erklärungsbedarf hinsichtlich Methoden der Entstehung von modellhaft dargestellten Erkenntnissen. Diese als Konstruktivismus bezeichneten Erklärungen auf Metaebene haben sich in mehreren Varianten ausgeprägt, die sich hinsichtlich axiomatischer Annahmen unterscheiden.(1,2) 
 
Auf Details von Unterschieden muss dieser Post nicht eingehen. Interessant ist jedoch, dass kulturrelativistisch-interpretative Positionen der Ethnologie nicht nur maßgeblich Einfluss auf Entwicklungen soziologischer Theorie in Form des Symbolischen Interaktionismus und der Ethnomethodologie ausübten, sondern auch auf erkenntnistheoretische Diskussionen, aus denen konstruktivistische Ansätze der Philosophie und Psychologie sowie der Sozialkonstruktivismus der Wissenssoziologie hervorgehen.(3,4,5,6) 


6.1 Sozialkonstruktivismus(7)
 
Konsequent weitergedacht führt Kulturrelativismus zum Sozialkonstruktivismus. Beide Modelle positionieren sich als Gegenmodelle zum Absolutheitsanspruch universalistischer politischer und religiöser Doktrin, deren Glaubwürdigkeit und Akzeptanz politische und soziale Realität aushöhlen.(8) Konstruktivistische Positionen betonen die Kontingenz sozialer Ordnung, die prinzipiell offen ist, immer auch anders sein kann und zur gleichen Zeit von unterschiedlichen individuellen oder kollektiven Akteuren unterschiedlich wahrgenommen werden kann, ohne dass einer der Akteure die eigene Wahrnehmung als die einzig richtige behaupten kann und ohne dass die Wahrnehmung anderer Akteure mit Sicherheit gedeutet werden kann. Das Nebeneinander von Subwelten macht die Relativität von Welten bewusst.
 
Schlüsselwerk des Sozialkonstruktivismus ist eine Veröffentlichung der Soziologen Peter L. Berger (1929-2017) und Thomas Luckmann (1927-2016), die 1966 in den USA mit dem Titel The Social Construction of Reality sowie 1969 in der deutschen Übersetzung als Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit erschien und wie eine Bombe einschlug.(9) Berger und Luckmann beschäftigen sich in der Tradition der Wissenssoziologie mit der Frage, wie Alltagswissen zustande kommt. Sie reklamierten, dass die klassische Wissenssoziologie die Realität der Alltagswelt nicht erfasse. Das Bewusstsein alltäglicher Menschen bestimme nicht Geistesgeschichte, Wissenschaft, Kunst, Religion, sondern die Realität der Alltagswelt, die subjektiv sinnhaft, funktional, intentional und objektbezogen auf das Hier und Jetzt sei und durch alltägliche Interaktionen strukturiert werde.
 
Berger und Luckmann argumentieren, dass gesellschaftliche Ordnung und kultureller Wissensbestand nicht a priori existieren sondern ex post durch menschliche Konstruktionsleistung produziert werden.(10) Gesellschaftliche Ordnungen verstehen Berger und Luckmann als mehr oder weniger fragmentierte, sozial konstruierte Sinnwelten, die mittels Zeichen, Symbolen, Sprache Sinnordnungen bilden sowie Mythen, Religion, Wissenschaft als jeweils spezifische Sinnweltstützen konstruieren und sich als soziale Rollen in subjektiven Sinnwelten manifestieren.(11)
 
Sozialkonstruktivismus deutet Zusammenhänge zwischen sozial konstruierter Realität und individuellen Bewusstseinszuständen nicht als kausale Beziehung, sondern als wechselseitig aufeinander bezogene interdependente Vernetzung. Soziale Konstruktionen der Realität nehmen Einfluss auf das Denken von Menschen und auf ihre Lebensbedingungen. Änderungen von Lebensbedingungen bewirken Anpassungen des Denkens und der Vorstellungen von sozialer Realität, die wiederum modellierenden Einfluss auf Institutionen und Traditionen nehmen.
 
 
6.2 Ethnomethodologie und radikaler Konstruktivismus
 
Konstruktivistische Theorien galten vor ca. 50 Jahre aufgrund ihrer dekonstruktiven Impulse als subversive Avantgarde. In der Gegenwart scheint sich mit Kulturkämpfen ein Epochenumbruch anzudeuten. In diesen Auseinandersetzungen vermag Konstruktivismus aufgrund von Verschleißerscheinungen nicht mehr zu vermitteln.(12)

Während Kulturrelativismus und Sozialkonstruktivismus die Möglichkeit einer objektiven Welt offen lassen, negieren Ethnomethodologie und radikaler Konstruktivismus diese Möglichkeit.
  • Ethnomethodologie geht davon aus, dass Menschen unabhängig von ihrer kulturellen Herkunft sich fremd gegenüberstehen und soziale Normen bzw. soziale Realität im Interesse wechselseitiger Verständigung erst durch interaktive und kommunikative Praktiken in Prozessen sozialer Interaktionen sinnhaft konstruiert werden und daher prinzipiell einzigartig sind. Kultur ist gemäß dieser Denkweise keine genutzte Ressource, sondern ein pragmatisches Ergebnis der Erzeugung sozialer Wirklichkeit, das aber prinzipiell vage bleibt.(13) 
  • Radikaler Konstruktivismus postuliert, dass Realität als kognitive Konstruktion subjektiver Wahrnehmung zu verstehen ist, weshalb Objektivität und Realität prinzipiell unmöglich sind.(14)
    Abgesehen von erkenntnistheoretischen und wissenssoziologischen Positionen wendet sich radikaler Konstruktivismus insbesondere gegen naiven Realismus, der als naive Anschauung nicht nur Alltagsdenken, gesunden Menschenverstand und Commen Sense dominiert, sondern in der Gegenwart auch eine prominent besetzte philosophische Position einnimmt.(15) Für naiven Realismus ist die Realität der Welt so, wie sie wahrgenommen wird, weil Wahrnehmung ein vermeintlich objektives Bild der Welt zeigt. Aufgrund genetischer und sozialer Programmatik versteht sich Wahrnehmung des naiven Realismus als passiv-rezipierend, während die Welt scheinbar ein objektives Bild ihrer selbst mittels Sinnesreizen vermittelt und vermeintliche Kausalitäten darstellt.
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  1. Wikipedia: Konstruktivismus (Philosophie)
  2. socialnet Lexikon: Konstruktivismus (Philosophie)
  3. Wikipedia: Symbolischer Interaktionismus
  4. Dorsch Lexikon der Psychologie: Ethnomethodologie
  5. Dorsch Lexikon der Psychologie: Sozialkonstruktivismus
  6. Wikipedia: Wissenssoziologie 
  7. Sozialkonstruktivismus setzt sich vom philosophischen Realismus ab und teilt Annahmen mit dem philosophischen Konstruktivismus bzw. dem radikalen Konstruktivismus (Positionen der Wissenschaftstheorie), ohne diese zwingend zu implizieren.
    - Kersten Reich zu konstruktivistischen Positionen: Konstruktivistische Ansätze in den Sozial- und Kulturwissenschaften (PDF).
    - Einordnung und Abgrenzung von Positionen des Konstruktivismus und des philosophischen Realismus:
    • Sozialkonstruktivismus macht keine Aussagen über philosophische Positionen, sondern bezieht sich auf soziale Interaktionen und soziale Praktiken und versteht Varianten des Alltagswissen als Ausprägungen sozialer Subkulturen.
    • Philosophischer Konstruktivismus hat verschiedene Varianten herausgebildet, die gemeinsam hinsichtlich des philosophischen Universalienproblems nominalistische Positionen beziehen. Nominalismus wendet sich als erkenntnistheoretischer Idealismus in verschiedenen Ausprägungen gegen den philosophischen Realismus. Das Universalienproblem ist gemäß Regeln philosophischer Logik empirisch nicht entscheidbar und daher der Metaphysik zuzuordnen.
    • Philosophischer Realismus geht auf die Ideenlehre Platons zurück und nimmt die Existenz einer von Menschen unabhängig bestehenden Realität an. In der Gegenwart ist die Existenz einer Welt außerhalb des menschlichen Bewusstseins weitgehend unstrittig (ontologischer Realismus). Ob oder in welchem Umfang Realität der Welt menschlicher Erkenntnis zugänglich ist, diskutiert die philosophische Erkenntnistheorie mit unterschiedlichen Positionen. Allgemeinbegriffe betrachtet philosophischer Realismus als von Menschen gebildete Abstraktionen (Universalien), über deren Bestimmung jedoch keine Einigkeit besteht.
  8. Durch vermeintlich universalistische Werte legitimierte Machtkonzentrate vernichten menschliche Leben, bringen labile soziale Gefüge zum Einsturz und provozieren Massenfluchten in Richtung wohlhabenderer und sozial stabilerer Staaten, die ihrerseits mit der Bewältigung der Flüchtlingsströme überfordert sind und mühsam austarierte sensible Balancen verlieren.
    Zu den historisch bedeutendsten, mit universalistischen Ideen legitimierten sowie mit machtpolitischen und wirtschaftlichen Interessen verwobenen Sündenfällen zählen zahlreiche Heilige Kriege bzw. Religionskriege (u.a. christliche Kreuzzüge), europäischer Kolonialismus in Afrika, Amerika, Asien, Australien, Faschismus, Nationalsozialismus und sich auf Ideen des Kommunismus berufende Terror- und Gewaltherrschaften. Europäischer Kolonialismus suchte nicht nur die Unterstützung von Missionaren, sondern auch von Anthropologen, mit deren Hilfe die Überlegenheit der weißen Rasse gegenüber farbigen Menschen und der europäischen Kultur im Vergleich zu 'primitiven Kulturen' und zu 'Naturvölkern' vermeintlich wissenschaftlich belegt und ethnozentristische sowie eurozentristische Denkweise legitimiert wurde (White Supremacy).
  9. Wikipedia: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit
  10. tabularasa - Zeitung für Gesellschaft & Kultur, Susanne Weiss: Der sozialkonstruktivistische Ansatz von Peter L. Berger und Thomas Luckmann
  11. Spektrum: Sozialer Konstruktivismus 
  12. FAZ: Naht das Ende des bürgerlichen Zeitalters?
  13. Meyer, Christian (2019): Ethnomethodologie als Kultursoziologie. In: Handbuch Kultursoziologie. Hg. v. St. Moebius, F. Nungesser u. K. Scherke. Wiesbaden: Springer VS. 3-27. 
  14. Wikipedia: Radikaler Konstruktivismus
  15. Wikipedia: Naiver Realismus - Neurealismus - Spekulativer Realismus


7 Statements zum eigenen Verständnis von Wissenschaft und Erkenntnisfortschritt
  1. Wissenschaftliche Erkenntnisse beschreiben keine objektiven Sachverhalte, sondern es handelt sich um Deutungen der Welt, die aus kulturellen Zusammenhängen entstehen und in Feedback-Schleifen auf kulturelle Zusammenhänge zurückwirken.
  2. Aussagen über zielorientierten linearen Fortschritt können aus Sicht von Erkenntnistheorie keine Gültigkeit beanspruchen.
  3. Fortschritt wissenschaftlicher Art kommt mittels sozialer Prozesse auf zwei unterschiedlichen Wegen zustande:
    • Innerhalb dominierender Lehrmeinungen und Wissenschaftsprogramme (Paradigmen) ist wissenschaftlicher Fortschritt per sozialer Mechanismen der Professionalisierung möglich. Als Stand des Wissens geltende Paradigmen haben einen hohen Verbindlichkeitsgrad und sind ähnlich wie Dogmen gegen Kritik von außen immun. Mit Paradigmen nicht vereinbare Erkenntnisse werden unterdrückt bzw. als Irrtümer oder Unsinn abgelehnt, sofern sie Gehör finden.
    • Erst wenn Wissenschaftsprogramme aufgrund zunehmender Anomalien in Krisen geraten, gewinnen konkurrierende Programme Anhänger. Paradigmenwechsel setzen sich aber nicht allein aufgrund objektiver Qualitätskriterien durch, sondern erhalten zusätzliches Gewicht durch Bündelung von Community-Interessen wissenschaftlicher Aufsteiger. Diese verdrängen bislang vorherrschende Lehrmeinungen 'revolutionär' und besetzen frei gewordene Plätze verdrängter Paradigmen, bis sie selbst von der nächsten wissenschaftlichen Revolution abgelöst werden. 
 
7.1 Persönliche Motivation
 
Nachkommen ostpreußischer Migranten, die im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert Arbeit in der Schwerindustrie des Ruhrgebiets fanden, importierten aus ihrer ehemaligen Heimat pietistische Überzeugungen und Praktiken, die sie in vernetzten protestantisch-freikirchlichen Gemeinden sektiererisch religiös pflegten. Mitglieder pietistischer Gemeinden waren bewusste soziale Außenseiter. Ihr Außenseitertum kompensierte ein intensives Gemeindeleben, in dem Wissen um den richtigen Weg eine vorbehaltlose Ausrichtung des Lebens an pietistische Dogmen rechtfertigte. 
 
Ein Bild von Charlotte Reihlen visualisiert die Metapher vom mühsamen schmalen Weg, auf dem die Himmelspforte erreicht wird, während der komfortable breite Weg in die ewige Verdammnis führt. Das Bild stellt Leitmotive pietistischen Denkens und Verhaltens dar. Es hing als Druck und meistens einziges Wandbild in zahlreichen Wohnungen von Gemeindemitgliedern und mahnte ständig zu rechtschaffendem Verhalten, das kleine Broschüren erläuterten. Selbst wenn das Bild nicht aufgehängt war, praktizierten Familien bis zur Großelterngeneration den schmalen Weg mit karger, jeden Komfort und jede moderne Technik vermeidenden Wohnungsausstattungen.
 
Die pietistische Lebensweise ist für Außenstehende kaum nachvollziehbar und sicherlich nicht attraktiv. Daher formten sich junge neue Familien nahezu ausschließlich aus Gemeindemitgliedern, sodass sich über mehrere Generationen bis in Nachkriegszeit des 2. Weltkriegs eine engmaschig vernetzte Subkultur reproduzieren konnte, die zusätzlich ein verwandtschaftliches Netz verband. Diese Subkultur dominierte das soziale Leben der Gemeindemitglieder und prägte die religiöse Sozialisation des Autors dieses Blogs.
 
Persönliche Zweifel motivierten zur Abwendung vom pietistischen Lebensmodell und religiösen Lebensauffassungen. Erwartungen eines tieferen Verständnisses von Sozialisationserfahrungen beeinflussten die Entscheidung des Studiums von Sozialwissenschaften. Nach dem Studium führte der berufliche Weg durch Gelände der digitalen Welt. Im beruflichen Ruhestand gewinnen Fragen der Kinder- und Jugendzeit erneut an Intensität und rufen nach Antworten. Interesse am Themenfeld Religion ist persönlichen Sozialisationserfahrungen und der Beantwortung verbliebener Fragen geschuldet. Posts dieser Reihe gehen jedoch über die pietistische Perspektive hinaus und betrachten Entstehung, Bedeutung und Veränderung von Religion im Kontext von Kultur als universelles soziales Phänomen.



8 Änderungshistorie des Posts
07.03.2023:  Ergänzungen in Kapitel 1.1.1 
28.02.2023:  Überarbeitung Kapitel 1.1
27.02.2023:  Überarbeitung Kapitel 1.1 und 1.1.1
26.02.2023   Neues Kapitel 1.1.1 über statistische Aussagen
                     Überabeitung Kapitel 1.1
                     Anpassung der Inhaltsübersicht
25.02.2023   Überarbeitung Kapitel 1
                     Neues Kapitel 1.1 über Aussagnarten 
                     Überarbeitung Kapitel 3.2 und Änderung der Kapitelüberschrift
                     Anpassung der Inhaltsübersicht
13.02.2023   Überarbeitung Kapitel 4 und als Kapitel 2 eingeordnet
08.02.2023   Überarbeitung der Einleitung
31.01.2023   Umbenennung Post
27.01.2023   Überarbeitung Kapitel 1
26.01.2023   Überarbeitung und Aufgliederung Kapitel 6
21.01.2023   Überarbeitung Kapitel 2; Übertragung von 3 Unterkapiteln an Kapitel 2 des Posts Was ist Bewusstsein? 
20.01.2023   Überarbeitung Kapitel 1
19.01.2023   Überarbeitung der Einleitung und Kapitel 1
                     kleinere Änderungen und Korrekturen im gesamten Post
16.01.2023   Veröffentlichung Version 2 auf Basis der überarbeiteten Vorgängerversion 1

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