The Meeting von Wang Shugang (Installation in Vancouver BC, Kanada) |
Dieser einleitende Post mit Vor- und Randbemerkungen befasst sich mit Metaperspektiven einer Postreihe über die Evolution von Kultur und Religion. Kultur und Religion bilden grenzenlose Themenfelder.
Verschriftlichungen von Gedanken über diese Themenfelder erzwingen
Grenzen zwischen vermeintlich vorrangig wichtigen und weniger
bedeutenden Aspekten. Entscheidungen über Eingrenzungen resultieren aus
volatilen Ständen eigenen Wissens, das notwendig begrenzt ist, sich in
Schritten ungewisser Größe verändert und zur Bescheidenheit ermahnt. Posts dieser Serie sind temporäre Betrachtungen eines sich entwickelndes Work in Progress. An Posts jeweils angefügte
Veränderungshistorien informieren über Inhalte und Zeitpunkte von
Änderungen. Vielfalt und Unbestimmtheit der inhaltlichen Bedeutung von Bewusstsein, Kultur, Religion ruft in den Posts die kursive
Schreibweise der Begriffe in Erinnerung.
Eigene soziologische Anmerkungen zum Themenfeld Religion streuen bisher über ältere Posts und Korrespondenz. Blicke auf einige Themen haben sich in der Zwischenzeit verändert. Die Postreihe über kulturelle Evolution verdichtet Kernfragen der Evolution von Kultur und Religion und fügt dieses Konvolut mit Ergänzungen zu einer Momentaufnahme ohne Anspruch auf Dauerhaftigkeit, deren Beschreibung
sich aus Praktikabilitätsgründen über mehrere Posts verteilt.
Vorliegender Post identifiziert basale Annahmen relevanter
kulturwissenschaftlicher Perspektiven, benennt das eigene Verständnis
von Wissenschaft, Erkenntnis, Fortschritt und erklärt eigene Motive der
Entstehung dieser Reihe. Eine Aufstellungen der Postreihe Beobachtungen, Theorien, Vermutungen zur Evolution von Kultur und Religion zeigt Übersichten aller veröffentlichten sowie vorgesehener, aber noch nicht veröffentlichter Post.
Gemäß persönlicher Ansichten verstellen Fortschrittsnarrative den Blick auf mäandernde Entwicklungen, die keinen Regeln linearer Prozesse folgen und von naiver Logik nicht erkannt oder als unsinnig abgelehnt werden. Kulturelle Evolution besteht bei genauerer Betrachtung aus zahlreichen Sub-Prozessen, deren Dynamiken und Richtungen keinen gemeinsamen Regeln folgen. Einige Sub-Prozesse scheinen mehr oder weniger durch Zeit und Raum zu mäandern. Die Identifizierung mäandernder Prozesse und deren Treiber motiviert neben weiteren Motiven Posts dieser Serie.
1 Wissenschaftliche Aussagen und zwischen wissenschaftlichem Denken und Alltagsdenken mäandernde Prozesse
1.1 Aussagearten
1.1.1 Statistische Aussagen und Wahrscheinlichkeiten, wissenschaftliches Denken und Alltagsdenken
2 Struktur und Reichweite wissenschaftlicher Aussagen
3 Perspektiven der Analyse von Kultur
3.1 Kulturelle Pluralisierung und Fragmentierung
3.2 Naturalismus (Physikalismus) vs. Metaphysik vs. Konstruktivismus (Kulturalismus)
3.3 Funktionalismus
3.4 Strukturalismus
4 Basale Annahmen zu Religion
5 Perspektiven ethnologischer Theorien
5.1 Theorien auf der Suche nach Universalien
5.1.1 Funktionale Erklärungen
5.1.2 Strukturalistische Erklärungen 5.2 Theorien und Probleme der Vielfalt von Kulturen
5.2.1 Kulturrelativistische Theorien
5.2.2 Interpretative Ethnologie 5.3 Positionen der Ethnologie in der Gegenwart
6 Konstruierte Realität
6.1 Sozialkonstruktivismus
6.2 Ethnomethodologie und radikaler Konstruktivismus
7 Statements zum eigenen Verständnis von Wissenschaft und Erkenntnisfortschritt
7.1 Persönliche Motivation
8 Änderungshistorie des Posts
1 Wissenschaftliche Aussagen und zwischen wissenschaftlichem Denken und Alltagsdenken mäandernde Prozesse
- Alltagsdenken betrachtet die Welt aus Sicht individueller Lebensbewältigung subjektiv und innerhalb des Horizonts eigener Erfahrung global. Art und Qualität von Fragestellungen und Antworten variieren über individuelle Erfahrungsräume.
- Wissenschaften suchen in Ausschnitten der Realität zu ausgewählten Einzelfragen objektive Erkenntnis mit universaler Bedeutung. Da objektive Erkenntnis nicht mit rationalen Argumenten bewiesen werden kann, ist jegliches Wissen Vermutungswissen bzw. vorläufiges Wissen und mit Unsicherheit behaftet.(1)
Als wissenschaftlich werden nur solche Aussagen akzeptiert, die mittels von der Community vereinbarten Methodenstandards zustande kommen. Um wissenschaftliche Fragestellungen formulieren und bearbeiten zu können, ist von wissenschaftlicher Community anerkannte Expertise erforderlich.
In der sozialen Realität sind Menschen sich selten bewusst, dass die Welt des Alltagsdenkens von Erfahrungshorizonten individueller Wahrnehmung begrenzt ist und sich Alltagsdenken prinzipiell vom wissenschaftlichen Denken unterscheidet.
Im Alltagsdenken
sind zahlreiche wissenschaftliche Fragestellungen unbekannt. Wenn Informationen über
wissenschaftliche Fragestellungen und Aussagen kursieren, erschließen sie sich dem Alltagsdenken
oftmals nicht oder nur unvollständig und bleiben häufig unverstanden oder werden angezweifelt. Umgekehrt beschäftigt sich Wissenschaft mit Fragestellungen, die gewöhnlich außerhalb des Erfahrungshorizonts praktischen Alltagsdenkens liegen und teilweise für praktisches Alltagsdenken irrelevant sind. Wenn mitunter wissenschaftliche Erkenntnis aus Sicht des Alltagsdenkens abwertend als Idiotenwissen bezeichnet wird (gemeint ist wahrscheinlich für Alltagspraxis irrelevantes Schmalspurwissen), verweist dieser Sachverhalt auf eine tiefe Kluft zwischen unterschiedlichen Denkweisen.
Daten und Methoden sprechen nicht. Daten können methodisch gut oder schlecht erhoben sein, aber sie beantworten keine Fragen. Antworten beruhen auf Deutungen von Daten zu wissenschaftlichen Fragestellungen und müssen sich an der Qualität von Methoden ihrer Erhebung messen lassen. Aussagen liegen nicht auf der Hand und benötigen über Expertise hinaus
Phantasie und Kreativität sowie ein geeignetes Umfeld für ihre
Verbreitung. Mitunter erfordern wissenschaftliche Aussagen auch Mut, wenn
nämlich wissenschaftliche Domänen besetzt sind und gegen neue Erkenntnisse verteidigt werden. Bei aller Expertise und Bemühung bleibt jedoch auch Wissen
über Gegenstände wissenschaftlicher Forschung unsicher, weil wissenschaftliche Erkenntnisse und die Beweisbarkeit wissenschaftlicher Argumente prinzipiell
unvollständig sind.
Wissenschaftliche Aussagen sind regelmäßig Gegenstand strittiger Diskurse. Wünschenswerter sachlicher Streit über
wissenschaftliche Ansichten verhilft zu vertiefenden Erkenntnissen ohne Wahrheits-
und Ewigkeitsanspruch. Wissenschaftliche Aussagen über Sachverhalte der
Welt beruhen auf in Theorien verpackte Deutungen bzw. Ansichten, die
immer nur vorläufiger Art sind, aber zumindest prinzipiell empirisch
überprüfbare Aussagen enthalten müssen, die methodischen
Kriterien gemäß Konsens der wissenschaftlichen Community genügen. Die
Unterscheidung von richtig oder falsch ist nicht immer einfach, oftmals
strittig und mitunter unmöglich.
Vermeintlich
korrekte Deutungen scheinbar harter Daten können auf Irrtümern
beruhen oder fehlerhaft sein und sind oftmals strittig. Selbst wenn über
wissenschaftliche Aussagen
Konsens besteht, ist Konsens kein Kriterium für die Gültigkeit von
Aussagen, sondern lediglich ein Indikator für ihre Belastbarkeit. Erklärungsversuche sind bei
unsicherer Datenlage und nur unvollständig verstandenen Sachverhalten
der Welt hinsichtlich der Erfüllung
wissenschaftlicher
Kriterien deutlich schwieriger zu begründen als Deutungen harter Daten.
In Richtung mikro- und makroskopischer Randbereiche der
physikalischen Welt werden auch empirische Daten zunehmend
weicher und
wissenschaftliche Erklärungen spekulativer. Komplexe abstrakte Phänomene
wie Bewusstsein, Kultur, Religion provozieren schwierige wissenschaftliche Fragestellungen, die zwar benannt werden
können, aber bisher nur unvollständig verstanden und nicht gelöst sind. Im
Post referierte Ansichten verdanken wir außerordentlich klugen Köpfen
mutiger Wissenschaftler. Deren kontrovers diskutierte Beobachtungen, Theorien, Vermutungen
spenden keinen unmittelbaren
praktischen Nutzen, sondern dienen dem Verständnis unserer
Lebenswelt und damit zugleich unserem Selbstverständnis.
Im Unterschied zu Wissenschaften verkünden Religionen ewige Wahrheiten, über die man nicht streiten kann. Man kann sie nur akzeptieren oder ablehnen. An der Entstehung von Religionen sind vermutlich unbewusste Muster menschlicher Denkweise der Kategorisierung und der Kausalattribuierung
beteiligt, auf die der Post Was ist Bewusstsein? eingeht. Das kognitive Muster der Kategorisierung erzeugt Ordnungen. Kausalattribuierung weist wahrgenommenen Ereignissen Bedeutung zu, indem es Ereignisse selbst dann mit angenommen Ursachen verknüpft, wenn Auslöser von
Ereignissen unsicher oder unbekannt sind.(2) Vermutlich sind diese Denkmuster auch ein
unbewusster Antrieb für die Ermittlung, Bewahrung und Weitergabe von Wissen
und daher für die Entstehung von Kultur sowie für die Evolution
von Wissenschaften als neuartiges Wissen
produzierende Forschungswerkstätte.
Mit der evolutionären Entwicklung von Prozessen der Abstrahierung, Intellektualisierung und Rationalisierung entfaltet sich eine kumulativ wachsende Wissensproduktion. Verwissenschaftlichung erzeugt einen von Max Weber als Entzauberung der Welt
umschriebenen, Magie zerstörenden, dystopisch anmutenden Prozess, mit dem sich ein dem
Alltagsdenken widersprechendes doppeltes Paradoxon einstellt:
- Wachsender verfügbarer
Wissensvorrat vergrößert die Distanz zu Zielen absoluter Wahrheiten. Hinsichtlich der großen Rätsel der Realität nehmen Ungewissheit zu und Gewissheit ab. Annahmen der Erreichbarkeit letzter Gewissheit erweisen sich als naiv. Den Genuss der Früchte vom Baum der Erkenntnis zahlten Adam und Eva mit
der Vertreibung aus dem Paradies. In der Genesis entsteht Kultur als Strafe, die Gott den Menschen aufgrund ihrer Erbsünde mit der Vertreibung aus dem Paradies auferlegt.(3)
Wissenschaftliche Suche nach Wahrheit zerstört, wonach sie sucht. Anlässlich des 100. Geburtstages von Thomas S. Kuhn schreibt der Wissenschaftsphilosoph Paul Hoyningen-Huene in einem Artikel der FAZ:
"Die Normalwissenschaft weiß alle Antworten." (...) "Wir sollten die Wissenschaftsentwicklung als einen Prozess verstehen, der nicht auf ein Ziel hinstrebt („die“ Wahrheit), sondern sich vom gegenwärtigen Zustand durch steigende Differenzierung wegbewegt, genau wie die darwinsche Evolution." - Trotz Verwissenschaftlichung der Welt ist der über lange evolutionäre Prozesse entstandene kognitive Mechanismus der Kausalattribuierung weiter aktiv und bewirkt, dass der Prozess des Wissenszuwachses Menschen von tröstlicher Gewissheit spendenden religiösen metaphysischen Wahrheiten entfremdet, Menschen der Wissenschaft misstrauen und alternative irrationale metaphysische Sinnkonstrukte an Attraktivität gewinnen.
Unbewusste kognitive Denkmuster ermöglichen durch Filter, Vereinfachungen und sprachliche Ordnungssysteme schnelle Entscheidungen in komplexen Situationen und haben sich darum evolutionär erfolgreich bewährt. Vereinfachungen sind nützlich. Sie reduzieren Komplexität und vermitteln Verhaltenssicherheit. Der Preis für Sicherheit des Verhaltens besteht in Verfälschungen und Verzerrungen der Wahrnehmung, die u.a. komplexe netzwerkartige Beziehungsmuster als vermeintlich
lineare Kausalbeziehungen erkennt und Kausalbeziehungen auch dort identifiziert, wo sie nicht vorhanden oder unsicher ist. Diese Sachverhalte bilden den Rahmen für den Post Was ist Bewusstsein?.
Der Preis für Sicherheit erzeugende soziale Sachverhalte besteht in Kontrolle des Denkens und Verhaltens. Kontrolle erfordert Wissen und erzeugt Dominanz. In kollektive Kontrollmechanismen eingebundenes geteiltes Wissen produziert einen als Kultur bezeichneten symbolisch vermittelten Rahmen des Verhaltens. Ausprägungen von Kultur variieren ethnisch, räumlich, zeitlich über konkurrierende Verständnisse von Kultur, die der Post Was ist Kultur? betrachte.
Unbewusste kognitive Denkmuster erschweren Menschen das Ertragen von
Ungewissheit und erzeugen Sehnsucht nach Sinnhaftigkeit. Erkenntnisse der
Ungewissheit eigener Existenz und Suchen nach Wahrheit treiben die
evolutionäre Dynamik von Kultur und Religion. Gemäß soziologisch-funktionaler
Perspektive entstanden mit der kulturellen Evolution Religionen
aufgrund
sinnstiftender, integrierender, stabilisierender Funktionen
zwangsläufig. In einer Welt voller Ungewissheit und Risiken produzieren Religionen gedankliche und soziale Ordnung stiftende Gewissheit und damit Sicherheit. Qua Kultur entstandene Prozesse der Verwissenschaftlichung der Welt dekonstruieren jedoch traditionelle religiöse Systeme und bewirken als unbeabsichtigte Folge einen Verlust an Kontrolle und eine Renaissance irrationaler Denkweise. Dieses Themenfeld sichtet der Post Was ist Religion?
1.1 Aussagearten
Im Unterschied zur Alltagssprache unterscheiden Sprachphilosophie und Sprachwissenschaften aus gutem Grund sprachliche Äußerungen aufgrund ihres inhaltlichen Gehalts. Klassifikationen von Aussagearten verhelfen zur Unterscheidung der Art und des Gehalts von wissenschaftlichen Aussagen im Vergleich zu Aussagen anderer Art.(4)
- Deskriptive Aussagen liefern Beschreibungen (Protokollsätze) von Sachverhalten (wie etwas ist). Als wissenschaftliche Aussage müssen deskriptive Aussagen überprüfbar sein. Deskriptive Aussagen gelten als wahrheitsfähig.
- Explikative Aussagen dienen der Erklärung kausaler Zusammenhänge unter Bezugnahme auf Gesetzmäßigkeiten, Theorien, Hypothesen, Vermutungen. Explikative Aussagen gelten als wahrheitsfähig.
- Normative (präskriptive) Aussagen beschreiben, wie etwas sein sollte und umfassen Entscheidungen, Wünsche, Wertvorstellungen, Vorschriften. Normative Aussagen sind nicht empirisch überprüfbar und daher nicht wahrheitsfähig. Wissenschaften sind nicht frei von normativen Aussagen:
- Wissenschaften benötigen Regeln ihrer Methoden.
- Wissenschaften finden in wertgeladenen kulturellen Kontexten statt.
Anforderungen der Prüfbarkeit sowie die Art und Weise der Verwendung von Werturteilen in normativen Aussagen unterscheiden wissenschaftliche von nicht-wissenschaftlichen Aussagen (siehe auch Kapitel 2):
- An Wissenschaften wird die Anforderung gestellt, dass ihre Aussagen wertneutral und überprüfbar sein sollen.
- Lehrmeinungen weltanschaulicher Dogmen religiöser oder politischer Art produzieren definitorische Festlegungen und nicht prüfbare normative Aussagen.
- Dogmen können sich verbreiten, weil übliches Alltagsdenken ebenfalls dogmatischen Charakter hat. Alltagsdenken unterscheidet nicht zwischen Aussagearten und macht Wertneutralität und Prüfbarkeit gewöhnlich nicht zum Prinzip von Behauptungen. Wenn mangels Kriterien Fähigkeiten zur Beurteilung der Qualität von Aussagen fehlen, werden fremde Ansichten prinzipiell bezweifelt, während eigene Überzeugungen als ausreichende Begründung für persönliche Ansichten gelten. Fundamentalistische, extremistische, esoterische persönliche Ansichten sowie kollektive Weltanschauungen und Verschwörungstheorien beruhen auf dogmatisch strukturierter Denkweise.
1.1.1 Statistische Aussagen und Wahrscheinlichkeiten, wissenschaftliches Denken und Alltagsdenken(5)
Unter
1.1 benannte Aussagearten beziehen sich auf Aussagen, die aus
Wahrnehmung und Wissen über epistemische Einzelphänome bzw. Ereignisse
gewonnen werden, von denen bekannt ist, dass sie auftreten bzw. möglich
sind oder für möglich gehalten werden. Um zu ermitteln, wie variable
Eigenschaften von Einzelphänomenen (z.B. Größe oder Gewicht) sich in
einer Gesamtheit darstellen, sind mathematische Verfahren der Statistik erforderlich. Die Auswahl geeigneter Verfahren ist abhängig von Fragestellungen.
Beispielsweise
ist der Erkenntniswert der durchschnittlichen Körpergröße oder des
durchschnittlichen Körpergewichts aller Deutschen gering. Wenn man
Vergleiche zwischen Nationen zieht, nimmt der Erkenntniswert zu.
Vergleiche von Veränderungen über Zeitreihen steigern den
Erkenntniswert, weil sich zeigt, dass die Körpergröße seit Jahrhunderten
und das Körpergewicht seit Jahrzehnten zunehmen. Solche Befunde sagen
jedoch nichts über Ursachen von Veränderungen über Zeit oder über lokale
Schwankungen aus.
Bi- und multivariate Statistik vermag Stärken von Zusammenhängen zwischen Variablen als mathematische Größe darzustellen. Hierbei handelt es sich um Korrelationen. Ob eine Korrelation einen zufälligen (stochastischen) oder einen kausalen Zusammenhang zeigt, ist einer Zahl nicht anzusehen.
Um kausale Zusammenhänge zu ermitteln, sind Hypothesen
erforderlich. Hypothesen machen keine Aussagen über empirische Phänomene, sondern über
vermutete Zusammenhänge zwischen empirischen Phänomenen. In Wissenschaften müssen sich Hypothesen
empirisch bewähren. Hierzu werden sie mit Methoden gemäß Regeln
wissenschaftlicher Arbeitsweise untersucht und zur Überprüfung gegen
statistische Daten abgeglichen.
Relevanz
bestätigter Hypothesen entsteht erst in Kontexten ihrer Aussagen.
Beispielsweise haben statistische Aussagen über durchschnittliche
Körpergrößen und durchschnittliches Körpergewicht sowie Hypothesen über
Ursachen ihrer Veränderung und Verteilung nur geringen oder keinen
Praxisnutzen. Z.B. benötigen Kleiderfabrikanten Daten zu Verteilungen
individueller Merkmale über Variablen wie Geschlecht und Alter. Mit
geeigneten Methoden liefern statische Verfahren Aussagen und auch
Vorhersagen zur Verteilung von Merkmalen über Zeitreihen (z.B. Alter)
und in Teilmengen (Geschlecht).
Gewöhnlich
erfolgt die Ermittlung von Daten nicht über Gesamtmengen (weil das bei
großen Gesamtmengen schwierig, teuer, zeitaufwendig oder mit begrenzten
Zeit- und Kostenbudgets unmöglich wäre), sondern mit Hilfe von
Stichproben (Panels). In besonderen Fällen finden auch Erhebungen von
Daten in Gesamtmengen oder großen Ausschnitten von Gesamtmengen statt,
z.B. im Rahmen von Volkszählungen oder Schulleistungserhebungen (PISA).
Statistische Aussagen sind Induktionsschlüsse, die von einer begrenzten Menge an Beobachtungen (Stichprobe) auf eine Gesamtheit schließt. Bekanntlich besagt das Induktionsproblem, dass aus Einzelfällen keine gültigen Gesetzte abgeleitet werden können. Statistische Aussagen sind daher prinzipiell Wahrscheinlichkeitsaussagen, die keine zu 100 % gültigen Aussagen liefern können, aber
immerhin Aussagen von ausreichender Genauigkeit mit verbleibender
Restunsicherheit gestatten. Die Bestimmung von Genauigkeiten erfolgt mit
mathematischen Methoden der Wahrscheinlichkeitstheorie.
Je nach Bedarf an Genauigkeit werden aufgrund von Methoden der
Wahrscheinlichkeitstheorie geeignete Parameter von Erhebungen bestimmt.
Kategoriale Unterschiede von Aussagearten sind im
Alltagsdenken gewöhnlich ebenso unbekannt oder unverstanden wie das Induktionsproblem oder das Universalienproblem, in dem es um die nicht entscheidbare Frage geht, ob Allgemeinbegriffe (Universalen) tatsächlich existieren (Position des Realismus) oder ob es sich um gedachte abstrakte Konstrukte handelt (Position des Nominalismus).(6) Im Gegenteil verstehen Menschen die Welt gewöhnlich im Sinne des Realismus und neigen zu Induktionsschlüssen, d.h. sie verallgemeinern Eigenschaften von Einzelbeobachtungen im Sinne von Gesetzmäßigkeiten. Im Alltagsdenken ist daher schwer nachvollziehbar, dass aus statistischen Aussagen über Verteilungen von Merkmalen in Mengen keine exakten Aussagen über
individuelle Merkmale ableitbar sind und umgekehrt
individuelle Merkmale keine gültigen Widersprüche zu statistischen Aussagen darstellen.
Beispielsweise
ist statistisch bestimmbar, welche Körpergröße Männer und Frauen in
welchem Alter durchschnittlich erreichen. Daraus lässt sich keine
Aussage darüber ableiten, wie groß eine Person X oder Y tatsächlich ist.
Aufgrund wahrscheinlichkeitstheoretischer Methoden lässt sich jedoch
bestimmen, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine Person wie groß, wie
schwer, wie alt etc. ist oder wird. Diese Wahrscheinlichkeit ist immer kleiner
als 1 bzw. 100 %. Abweichungen von Maximalwerten in Verteilungen werden
als Streuung bezeichnet. Statistische Aussagen über Verteilungen von
Merkmalen haben immer eine Streuung, die je nach Untersuchungsbereich
und verwendeten Methoden größer oder kleiner ausfällt. Weil
Zusammenhänge zwischen statistischen Werten und individuellen
Ausprägungen nur mit Wahrscheinlichkeit bestimmbar sind, widerlegen
individuelle Ausprägungen keine statistischen Aussagen. Statistiken zeigen u.a. prognostisch den Einfluss von Lebensstilen auf Zeiträume von Lebenserwartungen, können aber keine individuellen Lebenserwartungen vorhersagen. Dass der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt als Kettenraucher fast 97 Jahre alt wurde, beweist daher nicht die Ungefährlichkeit des Rauchens.
Im
Alltagsdenken verbreitete unsinnige Behauptungen wie "jede Statistik lügt" oder Ansichten über unglaubwürdige Statistiken ("glaube nur der Statistik, die du selbst gefälscht hast") zeugen von
Missverständnissen, die aus mehreren Sachverhalten resultieren, aber auch einen wahren Kern enthalten:
- Die Bedeutung von Wahrscheinlichkeitsaussagen bleibt unverstanden:
Alltagsdenken bezieht sich gewöhnlich auf extern beobachtete oder intern verspürte Wahnehmungen von Sinnesempfindungen. Ähnlich wie Zahlen sind Wahrscheinlichkeiten jedoch keine Eigenschaften wahrnehmbarer Phänomene, sondern Bezeichnungen für abstrakte Konstrukte mathematischer Art. - Erklärungen zu Ursachen der Verteilung von Merkmalen werden missverstanden: Statistische Daten bzw. Größen und Verteilungen statistischer Merkmale sind nicht selbsterklärend. Erklärungen kausaler Ursachen von Größen und Verteilungen statistischer Merkmale beruhen auf Annahmen und Deutungen (Theorien, Hypothesen) die mehr oder weniger korrekt, aber auch fehlerhaft sein können. Deutungen enthalten prinzipiell Unsicherheiten. Weitere Unsicherheiten resultieren aus dem Design von Studien. Seriöse Studien benennen Unsicherheiten.
- Erklärungen zu Ursachen
statistischer Verteilungen von Daten können Artefakte produzieren. Das
Alltagsdenken kennt jedoch keine Artefakte und versteht sie daher nicht.
- Ein bedeutender Grund für Zweifel an
statistischen Aussagen entsteht aufgrund von unseriös
manipulierten Aussagen auf Seiten der Produzenten von Aussagen.
Unseriöse Aussagen nutzen Statistiken, um eigene Interessen oder
Interessen von Auftraggebern mit Hilfe verfälschter Deutungen
statistischer Verteilungen durchzusetzen. Mehrere Taktiken ermöglichen
das Verbergen von Manipulation:
- Auswahl unbrauchbarer Studiendesigns,
- Intransparenz von Studiendesigns,
- Verschleierung oder Eliminierung unerwünschter Daten,
- manipulierte Deutungen von Studienergebnissen mit Hilfe interessengeleiteter Hypothesenbildungen.
Erwähnt
sei, dass Statistik neben zuvor beschriebenen Methoden für Laien schwer verständliche komplementäre
Methoden der mathematischen Modellierung zufälliger Ereignisse umfasst, die aus zufällig auftretenden empirischen Ereignissen Vorhersagemodelle ableiten. Verwendung finden
solche Verfahren z.B. in der
"Klimaforschung,
Qualitätskontrolle, Wettervorhersagen (es regnet mit Wahrscheinlichkeit
70%), Versicherungswesen (Prämienkalkulation), Verkehrswesen (Studium
von Warteschlangen - Ampelsteuerung), Epidemiologie (Modelle für die
Ausbreitung von Krankheiten), Meinungsforschung, Bankwesen
(Portfolio-Analyse, Marketing Strategien), Telekommunikation
(Modellierung von Verteilungen von Gesprächsdauern) oder Quantenphysik."(7)
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- Ein von Daniel Lommes veröffentlichtes Vorlesungsskript, verdichtet erkenntnistheoretische Positionen in einer Übersicht: Zusammenfassung WS08-09 “Einführung in die theoretische Philosophie” (Daniel Lommes) (PDF)
- Unbewusste kognitive Muster des Entscheidungsverhaltens betrachtet der Post Was ist Bewusstsein?
- Bibelserver Einheitsübersetzung 2016: 1. Mose 3
- Wikipedia: Aussagenart
- Weiterführende Quellen:
- Götz Rohwer: Probleme der Generalisierung statistischer Aussagen (PDF)
- Prof. Dr. Zakhar Kabluchko, WWU Münster, Institut für Mathematische Stochastik: Anschauliche Wahrscheinlichkeitstheorie (PDF)
- Ruhr-Universität Bochum: Was ist Stochastik?
- Wikipedia: Stochastik
- Wikipedia: Wahrscheinlichkeitstheorie
- Wikipedia: Mathematische Statistik
- Vgl. Kapitel 3.1 des Posts Was ist Bewusstsein?
- Ruhr-Universität Bochum: Was ist Stochastik?
2 Struktur und Reichweite wissenschaftlicher Aussagen
Empirische Sachverhalte
erklären sich nicht selbst. Zum Sprechen bringen sie Zuweisungen von
Bedeutungen. Deutungen mit Anspruch auf Wissenschaftlichkeit sind von
kulturellen Kontexten beeinflusst, die selbst als Ergebnisse von
Deutungsprozessen aufzufassen sind. Diese Gemengelage sowie die Qualität
von Objekten, Untersuchungsmethoden und fachlicher Expertise bringen
zwangsläufig
unterschiedliche wissenschaftliche Verständnisse von Welt und konkurrierende Theorien hervor.
Wissenschaftliche
Aussagen verkünden keine Wahrheiten, sondern Erkenntnisse, die unter
nachvollziehbaren Bedingungen (Theorien, Versuchsanordnungen,
Messmethoden etc.) zustande kommen. Wissenschaftliche vs.
nicht-wissenschaftliche Aussagen unterscheiden sich nicht notwendig
inhaltlich, sondern methodisch:
- Wissenschaftliche Aussagen sind Überprüfungen verpflichtet und benennen Bedingungen, unter denen sie zustande gekommen sind, um Nachvollziehbarkeit zu ermöglichen.
- Wissenschaftliche Veröffentlichungen sind verpflichtet, von außen auf Untersuchungen einwirkende Interessen zu benennen (Auftraggeber und Sponsoren).
- Weil wissenschaftliche Aussagen keine Dogmen sind, müssen sie sich gegenüber Kritik öffnen und bewähren.
Als wissenschaftlich betrachtet diese Postserie Aussagen,
- die sich auf empirische Sachverhalte beziehen,
- Phänomene der realen Welt ausschließlich physikalisch erklären,
- formal-logische Anforderungen des deduktiv-nomologischen Modells wissenschaftlicher Erklärung berücksichtigen, gemäß der wissenschaftliche Aussagen empirisch überprüfbar und prinzipiell widerlegbar sein müssen.
Naturwissenschaftler vertreten überwiegend ein strenges empirisch-analytisches
Verständnis von Wissenschaft. In sog. Geisteswissenschaften bestehen
zwei Hauptlager, zwischen denen die Kommunikation oft schwierig ist:
- Das eine Lager vertritt die beschriebene empirisch-analytische Position.
- Das
andere Lager vertritt phänomenologische Positionen und nimmt an, dass
ein angemessenes Verständnis von Phänomenen nicht-materieller Art nur
deskriptiv möglich ist.
Vertreter
der empirisch-analytischen Positionen lehnen phänomenologische Aussagen
nicht ab, sondern nutzen sie ebenfalls zur Bildung von Hypothesen,
Modellen, Theorien. Solange diese Aussagen nicht gemäß Anforderungen
analytischer Wissenschaft überprüfbar sind, handelt es sich um
Narrative. Als wissenschaftlich werden Aussagen erst dann aufgefasst,
wenn sie überprüfbar sind. Für Vertreter dieser Position genügen
Aussagen über Entstehung, Dynamik und Relevanz von Bewusstsein, Kultur, Religion mangels empirischer Evidenz nicht den Anforderungen wissenschaftlicher Erklärungen und sind daher im
strengen Sinn keine wissenschaftlichen Aussagen.
Verständnisse von Bewusstsein, Kultur, Religion
stützen sich zwar auf wissenschaftlich bewährten
evolutionstheoretischen
Erkenntnissen und nutzen kulturelle Artefakte als Indizien für die
Formulierung dynamischer Gesetzmäßigkeiten von Prozessen, aber
sie bleiben spekulativ. Spekulativ bedeutet nicht nutzlos oder sinnlos,
sondern besagt, dass eine empirisch nicht überprüfte oder nicht
prüfbare Aussage als Vermutung zu betrachten ist, diese nicht als
wissenschaftliche Aussagen gelten, aber der wissenschaftlichen
Erkenntnis dienen.
Allerdings
stellt sich der Sachverhalt nicht so klar da, wie es den Anschein hat.
Seit der Diskussion über wissenschaftliche Paradigmen (Vgl. Post: Was ist Kultur?, Kapitel 3.3.2) hat sich ein
Verständnis von Wissenschaft durchgesetzt, gemäß dem wissenschaftliche
Aussagen ebenfalls auf nicht prüfbaren Axiomen basieren. Innerhalb von
Normalwissenschaft bleiben Axiome jedoch unhinterfragt und gelten als
wahr.
Ob Bewusstsein
(Geist) als eine eigenständige Entität oder als eine in der Evolution
entstandene komplexe Funktion physikalischer Prozesse aufzufassen ist,
bildet als Frage den Kern der Leib-Seele-Diskussion zwischen Vertreten
von zwei Hautlagern mit jeweils mehreren Unterlagern. Aus Sicht der
materialistisch-physikalischen Position entstehen Fähigkeiten des Bewusstseins
und Erkenntnis als nützliche Illusionen. Von einer
Entscheidung ist diese Diskussion weit entfernt und es ist fraglich, ob eine Entscheidung
prinzipiell möglich ist. Trotzdem sollte diese Diskussion nicht
ignoriert werden, weil unterschiedliche Auffassungen über Axiome
wissenschaftlicher Erklärung auf wissenschaftliche Aussagen einwirken.
Je
weiter Erklärungen zeitlich zurückreichen, desto dürftiger sind
empirische Belege zur Evolution des Menschen und seiner Fähigkeiten und
umso spekulativer geraten sich auf dürftige Belege stützende Annahmen
und
Deutungen. Zahlreiche archäologische Funde des 19. und 20.
Jahrhunderts legen Spuren in die Vergangenheit, die aber erst mit
aktuellen technischen Methoden verlässlich datiert werden können. Dank
Genanalysen fallen neuerdings Datierungen fossiler Funde und
Überprüfungen von Theorien zu empirischen Sachverhalten erheblich
genauer aus. Zahlreiche Theorien sind inzwischen
verworfen, weil sie neueren Erkenntnissen nicht standhalten.
Ein
detaillierter Nachvollzug dieses wissenshistorischen Prozesses ist kein
Anliegen
dieser Reihe. Der wissenshistorische Prozess macht jedoch Unsicherheiten und die Vergänglichkeit wissenschaftlicher
Erkenntnis deutlich. Was heute als Stand von Wissenschaft gilt, ist
morgen historischer wissenschaftlicher Stand. Dieser Situation
entkommt niemand, auch nicht diese Postreihe, die den aktuellen Stand
der Erkenntnis zur Evolution von Kultur und Religion
sichtet und zu ordnen versucht. Erst mit der Identifizierung und
Beschreibung struktureller Zusammenhänge entsteht ein Bild, das den
Prozess der
Evolution von Religion im Kontext der Evolution von Kultur
plausibel macht, jedoch nicht beweist. Irrtümer sind
nicht nur möglich, sie sind wahrscheinlich. Neue Erkenntnisse werden
voraussichtlich Korrekturen dieses Bildes einfordern. Vielleicht muss es
auch neu gezeichnet werden.
3 Perspektiven der Analyse von Kultur
Wahrnehmung
von Welt sowie implizite und explizite Bewertungen der Wahrnehmung von
Welt beruhen auf evolutionär entwickelten Fähigkeiten eines biologischen
kognitiven Apparates, der bei höheren Arten komplexe soziale Funktionen
wie sprachliche Kommunikation und soziale Kooperation herausgebildet
hat.
Als
sich selbst organisierende offene Systeme verfügen lebende biologische
Organismen über Fähigkeiten der Plastizität, die biologischen Organismen
über die gesamte individuelle Lebenszeit im Austausch
mit der Umwelt Anpassungen an dynamische Lebensbedingungen ermöglichen.
Biologische Funktionen des kognitiven Apparates entwickelten sich über
lange Zeiträume in Jahrmillionen.
Kognitive Apparate ermöglichen Verhalten und Überleben in chaotischen
Lebensumgebungen, indem sie Komplexität einer chaotischen Welt
reduzieren. Die Reduzierung von Komplexität gelingt mittels unbewusster
mechanischer Wahrnehmungsfilter von Sinnesorganen sowie mittels
intelligenter Wahrnehmungsfilter des kognitiven Apparates, die unbewusst
Muster bilden und Verhaltensoptionen erzeugen.(1)
Soziale
Funktionen sind ebenfalls allmählich entstanden, aber in erheblich
kürzeren evolutionären Prozessen und unterscheiden sich hinsichtlich
ihrer
Reproduktionsgeschwindigkeit deutlich von biologischen Funktionen.
Aufgrund kurzer Reproduktionszyklen mutieren soziale Funktionen unter
veränderten Lebensbedingungen schnell und bilden in kurzer Zeit nicht
nur veränderte Funktionen, sondern erzeugen durch Ausdifferenzierung
zusätzliche Varianten.
Soziales
Verhalten ist kein Privileg von Menschen. Alle höhere Tierarten
verfügen über erlerntes soziales Verhalten. In Verbänden lebende
Tierarten zeigen Verhaltensweisen, die ebenfalls auf kollektiven Mustern
beruhen und als rudimentäre Kulturen gelten können. Die Spezies
Mensch benötigt für ihr Überleben soziale Funktionen höherer
Komplexität. Diese kommen mit Hilfe durch Symbole (Bedeutungsträger von
Zeichen und Sprache) repräsentierte einvernehmliche Verständnisse über
Sinnhaftigkeit zustande. Um
sinnhafte Verhaltensprinzipien zu entwickeln und diese zum Zweck ihrer
Anwendung mit Symbolen zu repräsentieren und kommunizieren,
sind Fähigkeiten abstrakten Denkens erforderlich, über die in dieser
Qualität keine höheren Tierarten verfügen. Menschliches soziales
Verhalten beruht auf einer Mischung von genetisch
programmierten Verhaltensweisen mit Mustern kulturell geprägter
kollektiver Verständnisse von Welt.
Da Kultur lokal oder regional entsteht, besteht und mutiert, unterscheidet sich Kultur
zwangsläufig interkulturell hinsichtlich Bedeutungen ihrer Kategorien,
begrifflichen
Ordnungen, Symbolen, Traditionen, Narrativen sowie hinsichtlich deren
Verbindlichkeitsgrade. Kulturwissenschaften wie Soziologie,
Sozialanthropologie und Ethnologie erschließen diese Sachverhalte
analytisch.
3.1 Kulturelle Pluralisierung und Fragmentierung
In der Gegenwart haben sich komplexe Sozialsysteme zu pluralistischen Kulturen mit zahlreichen Subkulturen
ausdifferenziert, die sich hinsichtlich Wertvorstellungen und sozialer
Normen mehr oder weniger stark unterscheiden. Pluralisierung von Kultur resultiert aus der Fragmentierung in Subkulturen. Pluralisierung ermöglicht Persistenz fragmentierter Kulturen. Allerdings haben Pluralisierung und Fragmentierung einen Preis. Sie schwächen Resilienz und erhöhen Vulnerabilität sozialer Ordnungen.
- Pluralisierung erhöht Komplexität sozialer Ordnungen und vermindert deren Transparenz.
- Fragmentierung erweitert den Umfang individueller und kollektiver Freiheiten auf Kosten von Konfliktpotentialen.
- Handlungsoptionen nehmen zu. Gleichzeitig nehmen Orientierung und
Verhaltenssicherheit ab. Lebenszusammenhänge werden undurchschaubarer.
- Relativierung und Pluralisierung kultureller Werte reduzieren Verbindlichkeiten sozialer Normen. Mechanismen der Verhaltenskontrolle werden schwächer.
- Mit abnehmender Stabilität beschleunigt sich die Dynamik sozialer Ordnungen.
- Harmonisierungsbedarf von Konfliktpotentialen stellt hohe Anforderungen an die Integrationsfähigkeit und Resilienz sozialer Ordnungen und erfordert konsensfähige Supermuster eines ebenso stabilen wie flexiblen kulturellen Rahmens.
- Etablierung und Pflege konsensfähiger Supermuster sind vordringliche Aufgaben des politischen Systems pluralistischer Kulturen.
3.2 Naturalismus (Physikalismus) vs. Metaphysik vs. Konstruktivismus (Kulturalismus)
Dieses
Kapitel skizziert Grundannahmen gegensätzlicher wissenschaftlicher
Positionen, ohne Feinheiten und Varianten zu berücksichtigen.(2)
Physikalistische Positionen fassen die Welt im Sinne von Naturalismus als Geschehen der Natur auf und nehmen eine vom Menschen unabhängige Realität an, die mit wissenschaftlichen Methoden
erforscht und erklärt werden kann. Ihrem Handwerk nachgehende Naturwissenschaftler beschäftigen sich i.d.R. vermeintlich ausschließlich mit Fakten und nehmen an, dass in der
Realität auftretende Sachverhalte auf natürlichen Ursachen beruhen, deren
Ursachen mit Mitteln empirischer Forschung erklärt werden können. Die
Existenz metaphysischer Entitäten schließen sie implizit oder explizit
aus.
Da Naturalismus alle Objekte und Prozesse
der Welt auf Materie und deren physikalische Gesetzmäßigkeiten
zurückführt, wird er auch als Materialismus oder als Physikalismus bezeichnet. Diese Position kennt nur eine Substanz und gilt daher als Monismus,
von dem sich dualistische oder pluralistische Position unterscheiden. Die Perspektive des Naturalismus erklärt Denken
und Emotionen als Prozesse von Materie. Geist und Bewusstsein gelten als Fiktionen.
Der postulierte Reduktionismus
gelingt bisher jedoch nicht oder nur unbefriedigend. Bei genauer Betrachtung sind Operationen wie Beobachten, Experimentieren, Erklären und Überprüfungen von Theorien jedoch nicht metaphysisch voraussetzungsfrei möglich. Da aus wissenschaftstheoretischer Sicht jegliches Wissen Vermutungswissen bzw. vorläufiges Wissen ist, bestehen gegen
Naturalismus gewichtige Einwände. Versuche der Auflösung kontroverser Positionen werden als metaphysischer Naturalismus diskutiert (siehe Verweise der Anmerkung 2).
Während analytisch-nomologische Wissenschaftsauffassung von der Existenz universaler Naturgesetze ausgehen, fassen interpretativ-interaktionistische Wissenschaftsauffassungen Erkenntnis als Konstrukte sozialer Deutungsprozessen auf.(3) Damit ist nicht behauptet, dass keine Realität existiert, sondern
lediglich ausgesagt, dass keine beweisbaren Aussagen über Realität
möglich sind. In ihrer radikalen Version nehmen Positionen des Konstruktivismus nehmen, dass über objektive Realität keine logisch sinnvollen Aussagen möglich sind und Annahmen über Realität auf Konstrukten des kognitiven Apparates beruhen, die in sinnstiftenden Prozessen zustandekommen. Kontroverse Positionen des Monismus und Dualismus beruhen aus dieser Sicht auf unterschiedlichen Sprachspielen, von denen keines Gültigkeit beanspruchen kann (siehe Kapitel 6).
3.3 Funktionalismus
Funktionale Erklärungen suchen nicht nach speziellen Eigenschaften bzw. dem Wesen oder der Substanz eines Phänomens, sondern beschreiben die nicht nur zufällig oder singulär auftretende Existenz eines erklärungsbedürftigen Phänomens durch seinen Zweck (funktionale Notwendigkeit), den es für ein übergeordnetes Ganzes erfüllt. Funktionale Erklärungen sind aufgrund ihres impliziten kausalen Musters und ihrer empirischen Zugänglichkeit für das Verständnis systemischer Zusammenhänge hilfreich und daher in etlichen naturwissenschaftlichen Disziplinen verbreitet und ebenso in geisteswissenschaftlichen Fachrichtungen der Soziologie, Ethnologie, Psychologie und Philosophie anzutreffen.(4)
Funktionalistische Positionen gehören zum physikalischen Monismus.(5) Aus monistischer Perspektive sind eine wie ein
menschliches
Gehirn denkende Maschine bzw. Künstliche Intelligenz
prinzipiell möglich. Wissenschaftlich ist diese Annahme strittig.
Allerdings ist einzuräumen, dass sich der Zuwachs an Wissen in
vergangenen Jahrzehnten enorm beschleunigt hat und weiter beschleunigt.
Da wir nicht wissen, wohin dieser Wissenszuwachs führt, ist die
Möglichkeit vollwertiger KI nicht auszuschließen.
- Für monistische Annahmen spricht das allgemeine Verständnis des Anspruchs von Wissenschaft, gemäß dem Naturgesetze für die gesamte Realität gelten und frei von Widersprüchen sind.
- Gegen monistische Annahmen spricht, dass bedeutende theoretische Modelle der Physik (Quantenmechanik und allgemeine Relativitätstheorie) und der Philosophie (Leib-Seele-Problem) bisher nicht widerspruchsfrei vereint werden können und darum vermutlich fehlerhaft sind.
- dass soziale Ordnungen strukturiert sind,
- Strukturen funktionale Bedeutung für den Erhalt der sozialen Ordnung haben,
- Strukturen von außen auf Denken und Verhalten von Menschen unbewusst einwirken,
- Strukturen durch ihre sich im Verhalten von Menschen ausprägenden Funktionen identifiziert und analysiert werden können.
3.4 Strukturalismus
Der Begriff Strukturalismus bezeichnet Forschungsprogramme, die davon ausgehen, dass menschliches Denken und Handeln von Regelwerken kultureller Symbolsysteme beeinflusst ist. Strukturalistische Erklärungen analysieren und klassifizieren Strukturen und Mechanismen dieser als Systeme aufgefassten Regelwerke. Zeichensysteme der Sprache verstehen Strukturalisten als Grundtyp jeder Ordnung von Realität. Als Begründer strukturalistischer Denkweise gilt der Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure (1857-1913), der Sprache als eine systemische Struktur beschreibt, die zur Verständigung Kontinuität in der Zeit erfordert (synchronische Perspektive) und zugleich permanenter Transformation unterworfen ist (diachronische Perspektive). Darüber hinaus zeigen sprachliche Symbolsysteme gleichzeitig soziale wie auch individuelle Ausprägungen, deren Analyse kulturelle Weltverständnisse erschließen.(6,7)
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- Vgl. Post: Architektur von Erinnerung, Wissen, Wahrheit - interdisziplinär betrachtet, Kapitel 5: Individualismus, Identität und Persönlichkeit
- Aussagen des Kapitels 3.2 stützen sich auf 2 Rezensionen einer Veröffentlichung von Martin Mahner: Naturalismus. Die Metaphysik der Wissenschaft, Aschaffenburg 2018
- Uni Oldenburg: Konzepte und Definitionen im Modul Wissenschafts- und erkenntnistheoretische Grundlagen
- Funktionalismus in Sozialwissenschaften ist nicht identisch mit Positionen in der Philosophie des Geistes, die mentale Zustände als funktionale Zustände verstehen. Dieser Post bezieht sich auf Funktionalismus in Sozialwissenschaften.
- Einen Überblick über wissenschaftstheoretisch konkurrierende grundlegende Positionen gibt Anmerkung 1 zu Kapitel 1 des Posts Evolution, kognitive Revolution und die Folgen.
- Wikipedia: Strukturalismus
- Spektrum: Strukturalismus
4 Basale Annahmen zu Religion
- Mit der Homonisation und der kognitiven Evolution des frühen Homo sind Kultur und Religion entstanden. Kultur und Religion beschreiben als Begriffe Dispositionen von Eigenschaften, die sich in der Evolution des Homo sapiens als komplexes soziales Verhalten entfalten. Kultur und Religion ermöglichen kausal die Entstehung und das Überleben als biologische Art.
- Gemäß funktionalistischer Denkweise ist Religion als eine notwendig entstandene Ausprägung von Kultur aufzufassen.
- Phänotypen von Religion variieren kontingent über Ausprägungen von Kultur.
- Ausprägungen von Kultur variieren kontingent. Über Treiber kultureller Kontingenz und Dynamik besteht kein Konsens.
- Kultur und Religion stellen sich analytisch diffus und vielgestaltig
dar und sind weder im allgemeinen noch im wissenschaftlichen Denken
exakt bestimmbar. Definitionen und Verständnisse dieser sozialen
Sachverhalte streuen intra- und interkulturell über ein breites
Spektrum. Offenbar manifestieren Kultur und Religion ihre kausale Rolle für das Überleben der Art Homo sapiens nicht auf eine bestimmte, sondern auf unterschiedliche und nicht unmittelbar einsichtige Arten.
Die Annahme, dass Kultur und Religion für die Entstehung und das Überleben von Homo sapiens kausale Bedeutung haben, wäre aussagenlogisch eine Pseudoerklärung, solange nicht kausale Mechanismen unabhängig vom zu erklärenden Phänomen beschrieben werden können. Fragestellungen nach der Art kausal wirksamer Mechanismen geht der Post Was ist Religion? nach.
5 Perspektiven ethnologischer Theorien(1)
In einer unüberschaubaren Vielfalt verbreitete ethnologische
Theorien können hier
nicht im Detail vorgestellt werden. Wie auch immer sich
ethnologische Theorien unterscheiden, lassen sie sich zwei Hauptrichtungen zuordnen:(2)
- Theorien, die trotz Vielfalt menschlicher Kulturen auf einheitliche Prinzipien verweisen (Universalien),
- Theorien, die Gründe für eine vermeintliche unendliche Vielfalt menschlicher Kulturen aufzeigen oder darüber hinaus aufgrund der Vielfalt menschlicher Kulturen eine prinzipielle Unvergleichbarkeit von Kulturen postulieren.
5.1 Theorien auf der Suche nach Universalien
Abgesehen von historisch überholten oder speziellen Blüten sind aktuell zwei ernstzunehmende Modelle relevant.
5.1.1 Funktionale Erklärungen
Bronisław Malinwoski (1884-1942), in England und USA lebender polnischer Sozialanthropologe,
orientierte sich an naturwissenschaftlichen Konzepten des biologischen
Organismus und des physikalischen Systems und entwickelte das
funktionalistische Modell zunächst zu einem empirisch-methodischen
Konzept seiner Feldforschungen, das er später zu einer allgemeinen
Theorie von Kultur ausbaute. Kultur betrachtete Malinowski
als eine sekundäre Umwelt, die Menschen als Mittel zum Zweck der
Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse erschaffen.
Da die Natur des Menschen im Wesentlichen biologisch determiniert ist, konnte Malinowski erklären, warum unterschiedliche Kulturen im Großen und Ganzen ähnliche Institutionen ausbilden, die insgesamt den gleichen Grundbedürfnissen dienen. Die Vielfalt von Kulturen löste Malinowski durch biologischen Fundamentalismus auf.
Alfred Radcliffe-Brown (1881-1955) britischer Sozialanthropologe und Mitbegründer des Strukturfunktionalismus
argumentierte ebenfalls funktionalistisch, er fokussierte jedoch auf
soziale Beziehungen und ihren Wechselwirkungen. Institutionen und
kulturelle Traditionen dienen gemäß Radcliffe-Brown der Persistenz
sozialer Ordnungen in unterschiedlichen funktional relevanten
Ausprägungen.
5.1.2 Strukturalistische Erklärungen
Claude Lévi-Strauss (1908-2009) französischer Ethnologe und Begründer des ethnologischen Strukturalismus
vertrat ein konstruktivistisches Verständnis sozialer Realität.
Lévi-Strauss betrachtete soziale Realität nicht empirisch, sondern er
suchte auf einem höheren Abstraktionsniveau nach Regelwerken zur
Konstruktion von Modellen der Realität. Lévi-Strauss nahm an, dass
unterschiedliche Menschen in unterschiedlichen Kulturen über
gleichartige kognitive Kompetenz verfügen und daher zur Bewältigung der
Komplexität ihrer Umwelt gleichartige Regelwerke nutzen. Diese
Regelwerke sind nicht in empirischen Objekten zu finden, sondern in
abstrakten Regelsystemen. Da Sprache das grundlegende menschliche
Regelsystem bildet und linguistische Methoden Strukturähnlichkeiten von
Sprachen aufzudecken vermögen, nutzte Lévi-Strauss linguistische
Methoden für seine Analysen sozialer Regelsysteme und fand in
unterschiedlichen Kulturen gleichartige Regelsysteme, die aus gleichartigen unbewussten kognitiven Strukturen resultieren.
Methodisch
üben von Lévi-Strauss entwickelte strukturalistische Verfahren noch
immer großen Einfluss auf Kulturwissenschaften aus. Seine Annahmen zu
Universalien menschlichen Denkens sind jedoch umstritten und konnten
sich nicht durchsetzen.(3)
5.2 Theorien und Probleme der Vielfalt von Kulturen
5.2.1 Kulturrelativistische Theorien
Franz Boas (1858-1942), deutsch-amerikanischer Ethnologie, gilt als Begründer des methodischen Kulturrelativismus, der wie Funktionalismus vorgeht, aber unterstellt, dass unterschiedliche Kulturen nicht vergleichbar sind und daher jede Kultur
als einzigartig aufzufassen ist. Fragen interkultureller Ähnlichkeiten
oder Gemeinsamkeiten treten in den Hintergrund oder gelten aufgrund von
Inkommensurabilität als irrelevant. Aussagenlogisch zählen
kulturrelativistische Theorien zu pluralistischen Positionen.
5.2.2 Interpretative Ethnologie
Der Anspruch kulturwissenschaftlicher Theorien, Gesetzmäßigkeiten
aufzudecken und Erklärungen methodisch an Naturwissenschaften zu
orientieren, erwies sich zunehmend als brüchig. Wissenschaftliche Krisen der Ethnologie schuf Raum für neue
Konzepte, die Kulturen nicht erklären, sondern verstehen wollen und als interpretative, symbolische oder reflexive Ethnologie bezeichnet werden. Interpretative Ethnologie bezweifelt eine von
außen wahrnehmbare objektive Realität ihrer Forschungsgegenstände und
postuliert, dass Bedeutungen von Gegenständen sich erst in einem
Kommunikations- und Handlungskontext erschließen.(4,5) Kultur
versteht interpretative Anthropologie als ein selbstgesponnenes
Bedeutungsgewebe und sucht daher nicht nach
Gesetzmäßigkeiten, sondern nach Bedeutungen. Aussagenlogisch zählen
Konzepte der interpretativen Ethnologie zu pluralistischen Positionen.
Ein Hauptprotagonist der hermeneutischen Forschungsrichtung war der US-amerikanische Ethnologe Clifford Geertz (1926-2006). Geertz fasste Kulturen
als geschlossene Bedeutungssysteme auf, die er wie literarische Texte
zu lesen, zu analysieren und zu interpretieren versuchte. Schlüssel des
Verstehens bildeten für Geertz Symbole, die in
Kommunikationsprozessen auf Weltsichten, Wertvorstellungen und
Handlungsmotive verweisen.(6)
Als Vertreter einer reflexiven Ethnologie setzte sich Clifford Geertz
mit der eigenen Rolle, der eigenen Autorität, dem eigenen Anspruch sowie
der Art und Weise der Repräsentation fremder Kulturen
auseinander. Geertz forderte, dass Ethnologen nicht bei der Beschreibung
des empirisch Vorgefundenen bleiben dürfen, sondern Tiefenstrukturen
innerer Logik von Handlungen interpretativ erschließen sollen. Um fremde
Lebensformen, Vorstellungen und Handlungen zu verstehen, sollen sich
Wissenschaftler nicht in der Rolle des Subjekts der Forschung und ihre
Forschungsgegenstände nicht als Untersuchungsobjekte sehen, sondern eine
partnerschaftliche Zusammenarbeit anstreben, in der die Beteiligten
sich und ihre Handlungen ernst nehmen. Eine adäquate Beschreibung fremder Kulturen muss lokales Wissen und
lokale Deutungen einbeziehen.(7)
Clifford Geertz vertrat kulturrelativistische Postionen:
Natur und
Wissen begreift er als „lokales Wissen“. Universalistische
Moralvorstellungen, wie das Konzept der Menschenrechte, treten gegenüber
Ethiken der unterschiedlichen Kulturen in den Hintergrund. Der Mensch
muss lernen, sich zwischen den Kulturen zurechtzufinden, die
Wissenschaft sollte komplexe gegensätzliche Strukturen durchschauen und
insbesondere die „turns“, d. h. die Wendungen, herausarbeiten.(8)
Ohne zweifelsfrei identifizierbare Objekte als Gegenstände von
Wissenschaft sind nicht nur Ansprüche auf wissenschaftliche Erklärungen
hinfällig, sondern darüber hinaus jeder Anspruch auf
Wissenschaftlichkeit von Beobachtungen und ihren Deutungen. Konsequenterweise verstand Geertz ethnografische Texte als
fiktionale Literatur, die literarischen und rhetorischen
Gestaltungskriterien gehorcht.(9)
5.3 Positionen der Ethnologie in der Gegenwart
Nach
dem Ende des Kolonialismus verlor Ethnologie als wissenschaftliches
Fach in Europa an Bedeutung, Einfluss sowie Ausstattung mit Finanzmitteln
und erodierte. Die Political-correctness-Bewegung der USA sowie Bewegungen wie
Feminismus, Gender, Queer begünstigten insbesondere in den USA die
Formierung eine kulturkritischen, postkolonialen und postmodernen
Ethnologie, die Interessen von Minderheiten unterstützt.
Vertreter einer postmodernen skeptischen Ethnologie führten einen
Paradigmenwechsel herbei und übernahmen
im Fach die Macht. Vertreter einer 'klassischen' Wissenschaftsauffassung traten den Rückzug
an.
Methodischer
Kulturrelativismus, den ursprünglich Franz Boas und Schüler im 20. Jahrhundert gegen vorherrschenden
Evolutionismus und Rassismus dominanter westlicher Kulturen in Stellung brachten, mutierte im 21. Jahrhundert zu einem doktrinären
Kulturrelativismus. Dieser immunisiert sich gegen jede Kritik von außen mit Hinweisen auf einen essenziellen Werterelativismus, der Optionen universaler Menschenrechte ausschließt. In aktueller globaler Politik praktizieren China, Russland und einige islamische Staaten diesen Werterelativismus exemplarisch. Aber auch zahlreiche weniger prominente Minoritäten, Sekten, Subkulturen berufen sich auf prinzipiellen Werterelativismus. Sie verweigern die Anerkennung universaler Werte und geißeln diese als getarnte Versuche europäischer Politik, politisch nicht mehr durchsetzbare Dominanz ehemals imperialer und kolonialer Politik in ethische Verpackung zu kleiden, um sie nicht aufgeben zu müssen.
Aufblühender doktrinärer Werterelativismus
bildet eine Achillesferse
des ethnologischen Kulturrelativismus, an der sich Kritik entzündet und dazu führte, dass sich die Ethnologie inzwischen vom Begriff Kultur distanziert.(10,11) Postmoderne
Skepsis von Ethnologen gegenüber Aussagen mit Anspruch
auf Wissenschaftlichkeit verdrängte szientistische
Ansätze der Ethnologie an den Rand. Mit der Indigenisierung der Ethnologie setzte
eine ethnizistische Aufsplitterung des Fachs bei gleichzeitig
neuen Betätigungsfeldern ein. Die Beschäftigung mit Minoritäten und ein weltweiter Trend zur
Erforschung und Rettung bedrohter Kulturen sowie zur Wiederbelebung
nahezu vergessener Kulturen und Traditionen verhalfen der
Ethnologie als Fach zu Erfolg und ebneten Grenzen zu Nachbarfächern ein.
Unstrittig
ist die Bedeutung des Kulturrelativismus als methodisches Prinzip ethnologischer
Forschung. Inzwischen gelten methodische Ansätze, Fragestellungen und Sichtweisen
der Ethnologie fachübergreifend als Standards für die Analyse von Kulturen.(12)
Die
beschriebene Entwicklung entbehrt nicht einer gewissen Paradoxie.
Ethnologie zahlt ihren Erfolg der Gegenwart mit der Aufgabe
wissenschaftlicher Ansprüche und kann im engeren Sinn nicht mehr als
Wissenschaft gelten. Damit stellt sich die Frage, wie Ethnologie
einzuordnen ist. Clifford Geertz hat bereits die Konsequenzen gesehen
und eine Antwort formuliert, als er Ethnologie als Literatur
bezeichnete. Heute würde man eher von Narrativen sprechen. Welches Licht
oder welche Schatten dieses Verständnis von Ethnologie auf Wissenschaft
allgemein und auf Kulturwissenschaften speziell wirft, ist eine tief in
wissenschaftstheoretische Diskussionen führende Fragestellung, deren
Thematik über diesen Post weit hinausreicht. Offensichtlich ist jedoch,
dass die Ausbreitung von Denkweisen ethnologischer Theorie eine
Diskussion in Gang gesetzt hat, die an Fundamenten der Architektur von
Wissenschaft rüttelt. Einen stark verkürzten Blick auf diese Diskussion
wirft das nachfolgende Kapitel 6.
---------------------------------------
- Anmerkungen dieses Kapitels basieren auf einer Veröffentlichung des Ethnologen Karl-Heinz Kohl: Ethnologie – die Wissenschaft vom kulturell Fremden. Eine Einführung. München 1993; 3. Auflage 2012.
- Karl-Heinz Kohl: Ethnologie, a.a.O., S. 133
- Karl-Heinz Kohl: Ethnologie, a.a.O., S. 146
- Wikipedia: Interpretative Ethnologie
- Enzyklopädie Wiki: Symbolische Anthropologie
- Siehe Post: Was ist Kultur?, Kapitel 2.4.4
- Portal de-academic.com/dic.nsf/dewiki: Clifford James Geertz
- Wikipedia: Clifford Geertz
- FU Berlin, Sozial- und Kulturanthropologie: Reflexive Anthropologie
- Karl-Heinz Kohl: Ethnologie, a.a.O., S. 186ff.
- Wikipedia: Soziokulturelle Evolution
- Karl-Heinz Kohl: Ethnologie, a.a.O., S. 168ff.
6 Konstruierte Realität
In
Kapitel 5.2 vorgestellte kulturrelativistische Positionen beschränken
sich nicht auf Ethnologie, sondern strahlen auf kulturwissenschaftliche
Fächer aus, in denen sie etablierte Ansichten dekonstruierten und
paradigmatische Diskussionen auf Metaebenen provozieren. Aus der
metatheoretischen Diskussion geht eine Neuordnung von Denkweisen
insbesondere in Philosophie, Psychologie und Soziologie hervor, die
Modellhaftigkeit ihrer Ansichten nicht länger abstreitet, sondern
einräumt und schließlich Modellhaftigkeit wissenschaftlicher Annahmen
zum Prinzip wissenschaftlicher Theorien erhebt.
Modelle
sind keine Beschreibungen objektiver Realität, sondern gedankliche
Konstrukte von Annahmen über Zusammenhänge zwischen
empirisch beobachteten Objekten einer wie auch immer gearteten Welt.
Wenn Modelle keine objektive Realität beschreiben, sondern Realität
konstruieren, entsteht auf Metaebene Erklärungsbedarf hinsichtlich
Methoden der Entstehung von modellhaft dargestellten Erkenntnissen.
Diese als Konstruktivismus
bezeichneten Erklärungen auf Metaebene haben sich in mehreren Varianten
ausgeprägt, die sich hinsichtlich axiomatischer Annahmen
unterscheiden.(1,2)
Auf Details von Unterschieden muss dieser Post nicht
eingehen. Interessant ist jedoch, dass
kulturrelativistisch-interpretative Positionen der Ethnologie nicht nur
maßgeblich Einfluss auf Entwicklungen soziologischer Theorie in Form des
Symbolischen Interaktionismus und der Ethnomethodologie
ausübten, sondern auch auf erkenntnistheoretische Diskussionen, aus
denen konstruktivistische Ansätze der Philosophie und Psychologie sowie
der Sozialkonstruktivismus der Wissenssoziologie hervorgehen.(3,4,5,6)
6.1 Sozialkonstruktivismus(7)
Konsequent weitergedacht führt Kulturrelativismus zum Sozialkonstruktivismus. Beide Modelle positionieren sich als Gegenmodelle zum Absolutheitsanspruch universalistischer politischer und religiöser Doktrin, deren Glaubwürdigkeit und Akzeptanz politische und soziale Realität aushöhlen.(8) Konstruktivistische Positionen betonen die Kontingenz
sozialer Ordnung, die prinzipiell offen ist, immer auch anders sein
kann und zur gleichen Zeit von unterschiedlichen individuellen oder
kollektiven Akteuren unterschiedlich wahrgenommen werden kann, ohne dass
einer der Akteure die eigene Wahrnehmung als die einzig richtige
behaupten kann und ohne dass die Wahrnehmung anderer Akteure mit
Sicherheit gedeutet werden kann. Das Nebeneinander von Subwelten macht
die Relativität von Welten bewusst.
Schlüsselwerk des Sozialkonstruktivismus ist eine Veröffentlichung der Soziologen Peter L. Berger (1929-2017) und Thomas Luckmann (1927-2016), die 1966 in den USA mit dem Titel The Social Construction of Reality sowie 1969 in der deutschen Übersetzung als Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit
erschien und wie eine Bombe einschlug.(9) Berger und Luckmann beschäftigen sich in der Tradition der Wissenssoziologie mit der Frage, wie Alltagswissen zustande kommt. Sie reklamierten, dass die klassische Wissenssoziologie die
Realität der Alltagswelt nicht erfasse. Das Bewusstsein alltäglicher
Menschen bestimme nicht Geistesgeschichte, Wissenschaft,
Kunst, Religion, sondern die Realität der Alltagswelt, die
subjektiv sinnhaft, funktional, intentional und objektbezogen auf das
Hier und Jetzt sei und durch alltägliche Interaktionen
strukturiert werde.
Berger und Luckmann argumentieren, dass gesellschaftliche
Ordnung und kultureller Wissensbestand nicht a priori existieren sondern ex post durch menschliche Konstruktionsleistung produziert werden.(10) Gesellschaftliche Ordnungen verstehen Berger und Luckmann
als mehr oder weniger fragmentierte, sozial
konstruierte Sinnwelten, die mittels Zeichen, Symbolen, Sprache
Sinnordnungen bilden sowie Mythen, Religion, Wissenschaft als jeweils
spezifische Sinnweltstützen konstruieren und sich als soziale Rollen in
subjektiven Sinnwelten manifestieren.(11)
Sozialkonstruktivismus deutet Zusammenhänge zwischen sozial
konstruierter Realität und individuellen
Bewusstseinszuständen nicht als kausale Beziehung, sondern als
wechselseitig aufeinander bezogene interdependente Vernetzung. Soziale
Konstruktionen der Realität nehmen
Einfluss auf das Denken von Menschen und auf ihre Lebensbedingungen.
Änderungen von
Lebensbedingungen bewirken Anpassungen des Denkens und der
Vorstellungen von sozialer Realität, die wiederum modellierenden
Einfluss auf
Institutionen und Traditionen nehmen.
6.2 Ethnomethodologie und radikaler Konstruktivismus
Konstruktivistische
Theorien galten vor ca. 50 Jahre aufgrund ihrer dekonstruktiven Impulse
als subversive Avantgarde. In der Gegenwart scheint sich mit
Kulturkämpfen ein Epochenumbruch anzudeuten. In diesen
Auseinandersetzungen vermag Konstruktivismus aufgrund von
Verschleißerscheinungen nicht mehr zu vermitteln.(12)
Während
Kulturrelativismus und Sozialkonstruktivismus die Möglichkeit einer
objektiven Welt offen lassen, negieren Ethnomethodologie und radikaler Konstruktivismus diese Möglichkeit.
- Ethnomethodologie geht davon aus, dass Menschen unabhängig von ihrer kulturellen Herkunft sich fremd gegenüberstehen und soziale Normen bzw. soziale Realität im Interesse wechselseitiger Verständigung erst durch interaktive und kommunikative Praktiken in Prozessen sozialer Interaktionen sinnhaft konstruiert werden und daher prinzipiell einzigartig sind. Kultur ist gemäß dieser Denkweise keine genutzte Ressource, sondern ein pragmatisches Ergebnis der Erzeugung sozialer Wirklichkeit, das aber prinzipiell vage bleibt.(13)
- Radikaler Konstruktivismus
postuliert, dass Realität als kognitive Konstruktion subjektiver
Wahrnehmung zu verstehen ist, weshalb Objektivität und Realität
prinzipiell unmöglich sind.(14)
Abgesehen von erkenntnistheoretischen und wissenssoziologischen Positionen wendet sich radikaler Konstruktivismus insbesondere gegen naiven Realismus, der als naive Anschauung nicht nur Alltagsdenken, gesunden Menschenverstand und Commen Sense dominiert, sondern in der Gegenwart auch eine prominent besetzte philosophische Position einnimmt.(15) Für naiven Realismus ist die Realität der Welt so, wie sie wahrgenommen wird, weil Wahrnehmung ein vermeintlich objektives Bild der Welt zeigt. Aufgrund genetischer und sozialer Programmatik versteht sich Wahrnehmung des naiven Realismus als passiv-rezipierend, während die Welt scheinbar ein objektives Bild ihrer selbst mittels Sinnesreizen vermittelt und vermeintliche Kausalitäten darstellt.
---------------------------------------
- Wikipedia: Konstruktivismus (Philosophie)
- socialnet Lexikon: Konstruktivismus (Philosophie)
- Wikipedia: Symbolischer Interaktionismus
- Dorsch Lexikon der Psychologie: Ethnomethodologie
- Dorsch Lexikon der Psychologie: Sozialkonstruktivismus
- Wikipedia: Wissenssoziologie
- Sozialkonstruktivismus setzt sich vom philosophischen Realismus ab und teilt Annahmen mit dem philosophischen Konstruktivismus bzw. dem radikalen Konstruktivismus (Positionen der Wissenschaftstheorie), ohne diese zwingend zu implizieren.
- Kersten Reich zu konstruktivistischen Positionen: Konstruktivistische Ansätze in den Sozial- und Kulturwissenschaften (PDF).
- Einordnung und Abgrenzung von Positionen des Konstruktivismus und des philosophischen Realismus:- Sozialkonstruktivismus macht keine Aussagen über philosophische Positionen, sondern bezieht sich auf soziale Interaktionen und soziale Praktiken und versteht Varianten des Alltagswissen als Ausprägungen sozialer Subkulturen.
- Philosophischer Konstruktivismus hat verschiedene Varianten herausgebildet, die gemeinsam hinsichtlich des philosophischen Universalienproblems nominalistische Positionen beziehen. Nominalismus wendet sich als erkenntnistheoretischer Idealismus in verschiedenen Ausprägungen gegen den philosophischen Realismus. Das Universalienproblem ist gemäß Regeln philosophischer Logik empirisch nicht entscheidbar und daher der Metaphysik zuzuordnen.
- Philosophischer Realismus geht auf die Ideenlehre Platons zurück und nimmt die Existenz einer von Menschen unabhängig bestehenden Realität an. In der Gegenwart ist die Existenz einer Welt außerhalb des menschlichen Bewusstseins weitgehend unstrittig (ontologischer Realismus). Ob oder in welchem Umfang Realität der Welt menschlicher Erkenntnis zugänglich ist, diskutiert die philosophische Erkenntnistheorie mit unterschiedlichen Positionen. Allgemeinbegriffe betrachtet philosophischer Realismus als von Menschen gebildete Abstraktionen (Universalien), über deren Bestimmung jedoch keine Einigkeit besteht.
- Durch vermeintlich universalistische Werte legitimierte Machtkonzentrate vernichten menschliche Leben, bringen labile soziale Gefüge zum Einsturz und provozieren Massenfluchten in Richtung wohlhabenderer und sozial stabilerer Staaten, die ihrerseits mit der Bewältigung der Flüchtlingsströme überfordert sind und mühsam austarierte sensible Balancen verlieren.Zu den historisch bedeutendsten, mit universalistischen Ideen legitimierten sowie mit machtpolitischen und wirtschaftlichen Interessen verwobenen Sündenfällen zählen zahlreiche Heilige Kriege bzw. Religionskriege (u.a. christliche Kreuzzüge), europäischer Kolonialismus in Afrika, Amerika, Asien, Australien, Faschismus, Nationalsozialismus und sich auf Ideen des Kommunismus berufende Terror- und Gewaltherrschaften. Europäischer Kolonialismus suchte nicht nur die Unterstützung von Missionaren, sondern auch von Anthropologen, mit deren Hilfe die Überlegenheit der weißen Rasse gegenüber farbigen Menschen und der europäischen Kultur im Vergleich zu 'primitiven Kulturen' und zu 'Naturvölkern' vermeintlich wissenschaftlich belegt und ethnozentristische sowie eurozentristische Denkweise legitimiert wurde (White Supremacy).
- Wikipedia: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit
- tabularasa - Zeitung für Gesellschaft & Kultur, Susanne Weiss: Der sozialkonstruktivistische Ansatz von Peter L. Berger und Thomas Luckmann
- Spektrum: Sozialer Konstruktivismus
- FAZ: Naht das Ende des bürgerlichen Zeitalters?
- Meyer, Christian (2019): Ethnomethodologie als Kultursoziologie. In: Handbuch Kultursoziologie. Hg. v. St. Moebius, F. Nungesser u. K. Scherke. Wiesbaden: Springer VS. 3-27.
- Wikipedia: Radikaler Konstruktivismus
- Wikipedia: Naiver Realismus - Neurealismus - Spekulativer Realismus
7 Statements zum eigenen Verständnis von Wissenschaft und Erkenntnisfortschritt
- Wissenschaftliche Erkenntnisse beschreiben keine objektiven Sachverhalte, sondern es handelt sich um Deutungen der Welt, die aus kulturellen Zusammenhängen entstehen und in Feedback-Schleifen auf kulturelle Zusammenhänge zurückwirken.
- Aussagen über zielorientierten linearen Fortschritt können aus Sicht von Erkenntnistheorie keine Gültigkeit beanspruchen.
- Fortschritt wissenschaftlicher Art kommt mittels sozialer Prozesse auf zwei unterschiedlichen Wegen zustande:
- Innerhalb dominierender Lehrmeinungen und Wissenschaftsprogramme (Paradigmen) ist wissenschaftlicher Fortschritt per sozialer Mechanismen der Professionalisierung möglich. Als Stand des Wissens geltende Paradigmen haben einen hohen Verbindlichkeitsgrad und sind ähnlich wie Dogmen gegen Kritik von außen immun. Mit Paradigmen nicht vereinbare Erkenntnisse werden unterdrückt bzw. als Irrtümer oder Unsinn abgelehnt, sofern sie Gehör finden.
- Erst wenn Wissenschaftsprogramme aufgrund zunehmender Anomalien in Krisen geraten, gewinnen konkurrierende Programme Anhänger. Paradigmenwechsel setzen sich aber nicht allein aufgrund objektiver Qualitätskriterien durch, sondern erhalten zusätzliches Gewicht durch Bündelung von Community-Interessen wissenschaftlicher Aufsteiger. Diese verdrängen bislang vorherrschende Lehrmeinungen 'revolutionär' und besetzen frei gewordene Plätze verdrängter Paradigmen, bis sie selbst von der nächsten wissenschaftlichen Revolution abgelöst werden.
7.1 Persönliche Motivation
Nachkommen
ostpreußischer Migranten, die im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert
Arbeit in der Schwerindustrie des Ruhrgebiets fanden, importierten aus
ihrer ehemaligen Heimat pietistische
Überzeugungen und Praktiken, die sie in vernetzten
protestantisch-freikirchlichen Gemeinden sektiererisch religiös
pflegten. Mitglieder pietistischer Gemeinden waren bewusste soziale
Außenseiter. Ihr Außenseitertum kompensierte ein intensives
Gemeindeleben, in dem Wissen um den richtigen Weg eine vorbehaltlose
Ausrichtung des Lebens an
pietistische Dogmen rechtfertigte.
Ein Bild von Charlotte Reihlen
visualisiert die Metapher vom mühsamen schmalen Weg, auf dem die
Himmelspforte erreicht wird, während der komfortable breite Weg in die
ewige Verdammnis führt. Das Bild stellt Leitmotive pietistischen Denkens
und Verhaltens dar. Es hing als Druck und meistens einziges Wandbild in
zahlreichen Wohnungen von Gemeindemitgliedern und mahnte ständig zu
rechtschaffendem Verhalten, das kleine Broschüren
erläuterten. Selbst wenn das Bild nicht aufgehängt war, praktizierten
Familien bis zur Großelterngeneration den schmalen Weg mit karger, jeden
Komfort und jede moderne Technik vermeidenden Wohnungsausstattungen.
Die
pietistische Lebensweise ist für Außenstehende kaum
nachvollziehbar und sicherlich nicht attraktiv. Daher formten sich junge
neue Familien nahezu ausschließlich aus Gemeindemitgliedern, sodass
sich über mehrere Generationen bis in Nachkriegszeit des 2. Weltkriegs
eine engmaschig vernetzte Subkultur reproduzieren konnte, die zusätzlich
ein verwandtschaftliches Netz verband. Diese Subkultur dominierte das
soziale Leben der Gemeindemitglieder und prägte die religiöse
Sozialisation des Autors dieses Blogs.
Persönliche
Zweifel motivierten zur Abwendung vom pietistischen Lebensmodell und
religiösen Lebensauffassungen. Erwartungen eines tieferen Verständnisses
von Sozialisationserfahrungen beeinflussten die Entscheidung des
Studiums von Sozialwissenschaften. Nach dem Studium führte der
berufliche Weg durch Gelände der digitalen Welt. Im
beruflichen Ruhestand gewinnen Fragen der Kinder- und Jugendzeit erneut
an Intensität und rufen nach Antworten. Interesse am Themenfeld Religion
ist persönlichen Sozialisationserfahrungen
und der Beantwortung verbliebener Fragen geschuldet. Posts dieser Reihe
gehen jedoch über die pietistische Perspektive hinaus und betrachten
Entstehung, Bedeutung und Veränderung von Religion im Kontext von Kultur als universelles soziales Phänomen.
8 Änderungshistorie des Posts
07.03.2023: Ergänzungen in Kapitel 1.1.1
28.02.2023: Überarbeitung Kapitel 1.1
27.02.2023: Überarbeitung Kapitel 1.1 und 1.1.1
26.02.2023 Neues Kapitel 1.1.1 über statistische Aussagen
Überabeitung Kapitel 1.1
Überabeitung Kapitel 1.1
Anpassung der Inhaltsübersicht
25.02.2023 Überarbeitung Kapitel 1
Neues Kapitel 1.1 über Aussagnarten
Überarbeitung Kapitel 3.2 und Änderung der Kapitelüberschrift
Anpassung der Inhaltsübersicht
13.02.2023 Überarbeitung Kapitel 4 und als Kapitel 2 eingeordnet
08.02.2023 Überarbeitung der Einleitung
31.01.2023 Umbenennung Post
27.01.2023 Überarbeitung Kapitel 1
26.01.2023 Überarbeitung und Aufgliederung Kapitel 6
21.01.2023 Überarbeitung Kapitel 2; Übertragung von 3 Unterkapiteln an Kapitel 2 des Posts Was ist Bewusstsein?
20.01.2023 Überarbeitung Kapitel 1
19.01.2023 Überarbeitung der Einleitung und Kapitel 1
kleinere Änderungen und Korrekturen im gesamten Post
16.01.2023 Veröffentlichung Version 2 auf Basis der überarbeiteten Vorgängerversion 1
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