Links: Palisaden (Rekonstruktion) im inneren Bezirk des vorgeschichtlichen Ritualortes Ringheiligtum Pömmelte
Mitte: Abstieg Christi in die Vorhölle, Figurengruppe im umfriedeten Pfarrbezirk Saint-Germain l'Auxerrois in Pleyben, Bretagne
Rechts: Registan in Samarkand, Usbekistan: Medresen Ulugʻbek, Tilya-Kori, Sher-Dor
- Der Post 1 Aufstellungen der Postreihe Beobachtungen, Theorien, Vermutungen zur Evolution von Kultur und Religion zeigt Übersichten aller veröffentlichten sowie vorgesehener, aber noch nicht veröffentlichter Post.
- Relevante kulturwissenschaftliche Perspektiven und das eigene Verständnis von Wissenschaft, Erkenntnis, Fortschritt sowie die Motivation zur Entstehung dieser Reihe identifiziert der Post 2 Beobachtungen, Theorien, Vermutungen zur Evolution von Kultur und Religion - Anmerkungen zur Postreihe.
- Post 3 Was ist Bewusstsein? betrachtet Kernfragen sozialer Evolution von Kultur und Religion.
Posts dieser Serie sind keine abgeschlossenen Betrachtungen, sondern ein sich entwickelndes Work in Progress. An Posts jeweils angefügte
Veränderungshistorien informieren über Inhalte und Zeitpunkte von
Änderungen. An Vielfalt und Unbestimmtheit der inhaltlichen Bedeutung von Bewusstsein, Kultur, Religion erinnert die kursive
Schreibweise der Begriffe in den Posts.
Inhaltsübersicht
1 Was ist Kultur?
1.1 Kultur im allgemeinen Sprachgebrauch
1.2 Wissenschaftliche Betrachtungen
2 Komplexität, Chaos, Kontingenz, Ordnung, Kausalität, Leben, Evolution, Kultur
2.1 Biologisch programmierte kognitive Heuristiken
2.2 Symbolisches Denken und Lernfähigkeit
2.3 Sprache, Kooperation und Kumulierung kultureller Strategien
2.3.1 Evolution von Sprache
2.3.2 Entstehung von Kultur
2.3.3 Ausbreitung von Kultur 2.4 Erklärungsmodelle soziokultureller Evolution von Kultur
2.5 Kulturelle Vielfalt und Diversität soziologisch betrachtet
3 Paradigmen kultureller Modelle in der Ethnologie
3.1 'Klassische' unilineare evolutionistische Definition von Kultur
3.2 Neoevolutionistisch-multilineare Definition von Kultur
3.3 Pluralistisch-kulturrelativistische Definition von Kultur
3.4 Konzepte analytischer und interpretativer Definition von Kultur
3.4.1 Kultur als System: Talcott Parssons und Niklas Luhman
3.4.2 Kultur als Text: Claude Lévi-Strauss, kalte und heiße Kulturen, wildes und modernes Denken
3.4.3 Kultur als Symbolsystem: Clifford Geertz
4 Mythen der Entstehung von Kultur
4.1 Was sind Mythen?
4.2 Typen und Gliederungen von Mythen
5 Kategoriales Denken und Ordnung der Welt
5.1 Kategoriales Denken und vermeintliche Gegensätzlichkeit von Natur und Kultur
5.2 Konstruktion der großen Erzählung vom Fortschritt
5.2.1 Annahmen zur Entstehung des Fortschrittsparadigmas westlicher Kulturen
5.3 Dekonstruktion der großen Erzählung vom Fortschritt
5.3.1 Grenzen des Wachstums
5.3.2 Struktur wissenschaftlicher Revolution
5.3.3 Von Thomas S. Kuhn angestoßener Wandel des wissenschaftlichen Weltbildes
5.4 Kultureller Essentialismus oder Beliebigkeit?
5.5 Wahrnehmung, Denken, Kultur reloaded
6 Änderungshistorie des Posts
1 Was ist Kultur?(1,2)
Jenseits fundamentalistischer Überzeugungen besteht weitgehende Einigkeit hinsichtlich der Auffassung, dass Kultur in biologischer Evolution entstanden ist. Ob die Evolution von Kultur biologischen Prinzipien oder eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt, ist eine strittig diskutierte Frage. Sicher ist jedoch, dass sich Verständnisse von Kultur je nach Perspektive unterscheiden.
Kultur wird oft als Gegenbegriff zu einer nicht von Menschen geschaffenen Natur verstanden.(Sehe 3.1). Abhängig vom Kontext sind Definitionen von Kultur enger oder weiter gefasst und transportieren in volkstümlichen, mythologischen und wissenschaftlichen Auffassungen unterschiedliche Vorstellungen der
Bedeutung sowie der Entstehung und der Dynamik von Kultur. Über Zeit sich verändernde Bedeutungen von Kultur
steigern die Vielzahl an Definitionen. Trotz großer Vielfalt an Erklärungen besteht Einigkeit, dass Religion und Kultur miteinander verwoben sind und Religion immer im Kontext von Kultur gedacht werden muss. Dieser Post sichtet, ordnet, vergleicht Aspekte und Auffassungen von Kultur, ehe sich der Blick in einem korrespondierenden Post auf Religion richtet.
1.1 Kultur im allgemeinen Sprachgebrauch
Im allgemeinen Sprachgebrauch ist Kultur
nichts, was alle Menschen in gleicher Art und Weise gemeinsam haben.
- Weitgehend unreflektiert bilden soziale Geschlechter, Altersgruppen, sexuelle Orientierungen,
Ernährungsstile, Armut, Wohlstand, Bildung, Berufsstand, Lebensstil etc.
Merkmale kultureller Identifizierung und Abgrenzung.
- Durch Ausgrenzung vom kulturellen Mainstreams entstandene Außenseiterkulturen identifizieren sich häufig mit ihrer eigenen Kultur und betrachten diese nicht nur als wertvoll, sondern oftmals als Ausdruck des wahren Lebens und der richtigen Lebensweise.
- Strömungen des rechten politischen Rands markieren mit Nationalsozialismus, White Supremacy und ähnlichen Ideologien extreme Ausprägungen negativer Wertschätzungen des kulturellen Mainstreams ihres Lebensraums.
- Dominierende Eliten verstehen Hochkultur, also ihre eigene Kultur, als elaboriert, wertvoll, vorbildlich, zivilisiert und grenzen Hochkultur von vermeintlich restringierter und minderwertiger Alltagskultur, Volkskultur, Massenkultur, Populärkultur, Subkultur etc. der nicht zur Elite gehörenden Populationen ab.
1.2 Wissenschaftliche Betrachtungen
In wissenschaftlichen Fachkreisen gelten alltagssprachliche Vorstellungen von Kultur als etische Perspektive (durch Beobachter von außen vorgenommene Fremdzuschreibungen),
die emische Perspektiven (Selbstzuschreibungen) der so bezeichneten Menschen vernachlässigt
und auf verzerrten Auffassungen beruht oder solche erzeugt und
festschreibt. Mechanismen dieser Zuschreibungsprozesse bezeichnen
Sozialwissenschaften als Etikettierung oder Labeling.(3)
Ein neutraler Kulturbegriff bezeichnet ein Bündel von Merkmalen, das Besonderheiten bestimmter Gruppen von
Menschen markiert, die Unterscheidungen von anderen Gruppen und
Abgrenzungen ermöglichen. Im Plural bezeichnet Kulturen Gruppen
von Menschen, die aufgrund gemeinsamer Merkmale als zusammengehörig und
damit
als unterscheidbar von anderen Gruppen identifiziert werden.
Anforderungen wertfreier Beschreibungen stellen inhaltliche
Klassifikationen und Abgrenzungen kultureller Merkmalsgruppen jedoch vor
kaum
lösbare Aufgaben.
Der Begriff Kultur ist ein begriffliches Konstrukt, das implizite Vorstellungen über Wahrnehmung, Denken, Bewusstsein
von Menschen sowie modellhafte Vorstellungen über die soziale Welt
enthält. Hier skizzierte Grundzüge dieses Modells lassen
unberücksichtigt, dass Auffassungen von Bedeutung und Zusammensetzung
des Modells je nach wissenschaftlicher Perspektive variieren können.
- Soziale Ordnungen sind nicht allein durch die Menge beteiligter Akteure beschreibbar, sondern sie manifestieren sich in Interaktionsprozessen zwischen Akteuren.
- Interaktionsprozesse zwischen sozialen Akteuren verlaufen nicht chaotisch oder beliebig, sondern in mehr oder weniger geordneten bzw. regelbasierten Relationen.
- Ordnungen und Regelwerke sozialer Relationen verknüpfen Wertvorstellungen und aus ihnen abgeleitete Verhaltensvorschriften (Normen) mittels strukturierter Symbolsysteme.
- Symbolsysteme bilden Sinngefüge, die soziale Ordnungen konstituieren, indem sie Kommunikationsprozesse der Interaktionen sozialer Akteure modellieren und begrenzen.
- In Sozialisationsprozessen vermittelte soziale Sinngefüge sind individuell internalisiert.
Sie bleiben daher als soziale Konstrukte weitgehend unbewusst und
werden von Akteuren als natürliche Gegebenheiten ihres Lebensraums
wahrgenommen.
- Relativ stabile und weitgehend vorhersagbar verlaufende Prozesse bilden räumlich und zeitlich ausgedehnte komplexe strukturierte Kontexte mit netzwerkartigen und/oder hierarchischen Strukturen.
- Ordnende Strukturen sind empirisch nicht direkt beobachtbar. Theorien schließen aus Interaktionen auf die Existenz bzw. auf Wirkungen von Strukturen und verknüpfen diese mit Annahmen über Topografien struktureller Muster und der Semantik von Symbolsystemen.
- Ordnende Strukturen beruhen auf Kategoriensystemen. Kategorien dienen der Klassifizierung (Eingrenzung und Unterscheidung) fundamentaler Sinngefüge.
- Der Begriff Kultur verweist auf eine Metakategorie, die Wert- und Symbolsysteme und auf ihnen beruhende Denkmuster ordnet und verdichtet. Kulturen erlegen Menschen kategoriale Zwänge auf.
- Da Kulturen
mehr oder weniger stark sich unterscheidende
und teilweise inkommensurable Kategoriensysteme nutzen, mit der sie die
Welt begrifflich erfassen und beschreiben, ist fraglich, ob Kultur ein kategorialer Begriff ist
---------------------------------------
- Mehrerer Aspekte dieses Kapitels betrachtet der Post Vor- und Randbemerkungen zur Postreihe über Evolution von Kultur und Religion detaillierter.
- Soweit nicht anders angegeben, basieren Aussagen dieses Kapitels
- auf einer Veröffentlichung des Ethnologen Karl-Heinz Kohl: Ethnologie – die Wissenschaft vom kulturell Fremden. Eine Einführung. München: C. H. Beck, 1993; 3. Auflage 2012
- auf den Wikipedia-Artikeln
- Wikipedia: Emisch und etisch, Etikettierungsansatz
2 Komplexität, Chaos, Kontingenz, Ordnung, Kausalität, Leben, Evolution, Kultur
Aussagen über Komplexität, Ordnung (systematische Strukturen), Kausalität, Kontingenz, Chaos, Leben, Evolution gelten
für die gesamte materielle Welt einschließlich organischer Systeme.
- Evolution verläuft ohne Ziel oder Richtung, jedoch scheint Komplexität der Realität nicht umkehrbar zu sein und zuzunehmen.
- Leben ist umgeben von einer kontingenten Welt. Kontingenz ist nicht immer spontan erkennbar und zeigt sich oft erst bei genauerer Betrachtung.
- Kontingenz erzeugt Zustände, die möglich sind, aber mangels erkennbarer Kausalität nicht notwendig,
sondern zufällig auftreten.
- Kontingenz im Sinne von Zufallsereignissen resultiert aus Komplexität der Realität.
- Komplexität von Zusammenhängen der Realität ist nur in engen Grenzen kausal verständlich.
- Von Kontingenz erzeugte Zustände werden im Alltagsdenken als Chaos im Sinne vollständiger Unordnung wahrgenommene. Tatsächlich handelt es sich um Zustände mit begrenzter Vorhersagbarkeit.
- Chaos ist prinzipiell lebensfeindlich. Trotzdem sind in evolutionären Prozessen komplex organisierte Lebensformen entstanden, deren Funktionsfähigkeit ein Minimum an Ordnung ihrer Umgebung voraussetzt.
- Leben organischer Systeme der uns
bekannten Art benötigt ein nicht genau bestimmbares bzw. über organische
Lebensformen variierendes Maß an Ordnung, um Funktionsfähigkeit
des Organismus zu ermöglichen, eine regelmäßige Energieversorgung
zu gewährleisten, relativen Schutz vor Feinden zu bieten, Reproduktion zu gestatten.
- Da komplexe Organismen im Chaos nicht überleben können, haben sie evolutionär interne organische sowie auf die Umwelt bezogene ordnungsstiftende Mechanismen herausgebildet, die Überleben ermöglichen.
- Neurobiologische
Mechanismen der Ordnungsstiftung erzeugen in höheren Formen des Lebens
als Kohärenzsystem bezeichnete mentale Ordnungsstrukturen.
Kohärenzsysteme ordnen Sinneswahrnehmung hinsichtlich Verstehbarkeit,
Handhabbarkeit, Sinnhaftigkeit mittels Kategorisierung und Kausalattribuierung.(1)
- Kognitive Kompetenz höherer Art (Intelligenz) verfügt über Lernfähigkeit. Diese besteht aus den Prozessschritten
- Übertragung mentaler Ordnungsstrukturen auf Deutungsmuster des Wahrnehmungssystems,
- Bildung von Kognitionsmustern gemäß regulatorischem Kohärenzsystem,
- Speicherung von Kognitionsmustern.
- Mentale Ordnungsmuster und Ordnungskonstrukte der Lebensumgebung beeinflussen sich wechselseitig.
- Kognitive Kompetenz verhilft zur Übertragung kategorialer mentaler Ordnungsmuster des regulatorischen Kohärenzsystems auf kulturelle Ordnungskonstrukte von Lebensumgebungen.
- Internalisierungsprozesse transformieren kulturelle Ordnungskonstrukte von Lebensumgebungen in mentale Ordnungsmuster.
- Individuelle
Biographien und ihre mentalen Zustände entstehen aus Vermengungen von
universalen biologischen Gesetzmäßigkeiten mit Kontingenzen ihrer
Lebensumgebung:
- Ökosysteme,
- räumliche Umgebung,
- Kulturmuster,
- individuelle Ereignisse wie Geburt, zwischenmenschliche Beziehungen, Tod, Erbschaft etc.,
- individuelle Fähigkeiten, Chancen, Risiken.
2.1 Biologisch programmierte kognitive Heuristiken
Im Prozess der Evolution sind eine Reihe biologisch-genetische codierte kognitiver Heuristiken entstanden, die Einfluss auf Wahrnehmung, Denken, Verhalten nehmen:
- Kohärenzzwang erzeugt Kohärenzbedürfnisse. Diese motivieren zur Herbeiführung mentaler Zustände, die als kohärente Zusammenhänge empfunden werden (verstehbar, handhabbar, nützlich, sinnhaft, widerspruchsfrei) sowie zur Abwehr von Zuständen, die dem Kohärenzbedürfnis widersprechen.
- Das Kohärenzbedürfnis bevorzugt soziale Kontakte, die emotionale Zustände von Kohäsion erzeugen.
- Entscheidungs- und Verhaltenssicherheit fördern heuristische Mechanismen, die praktikable Handlungsoptionen bei begrenztem Wissen und begrenzter Zeit herstellen:
- Ordnungen zweiwertiger Kategorisierungen (wahr vs. unwahr, richtig vs. falsch, gut vs. böse, essbar vs. nicht essbar, Freund vs. Feind etc.) wahrgenommener Phänomene ermöglichen schnelle Entscheidungen.
- Kausalattribuierung
(Annahmen unmittelbarer Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge zwischen
empirischen Phänomen) bezeichnet vermeintliche Ursachen wahrgenommener Phänomene. Kausalität beruht auf vermeintlichem Wissen bzw. Erfahrungen und erwartet, das Gleiches dieselbe Ursache hat.
- Vorurteilen und Stereotypen (ungeprüft angewendete gespeicherte Bewertungsmuster) sowie kognitive Verzerrungen (in Lebenspraxis bewährte systematische Denk- und Wahrnehmungsfehler) erzeugen Verhaltenssicherheit mittels Beurteilungsautomatismen.(2)
2.2 Symbolisches Denken und Lernfähigkeit
Alle höheren biologischen Arten entwickeln in der Auseinandersetzung mit
ihrer Umwelt Strategien des Überlebens, der Reproduktion und des
existenziellen Krisenmanagements. Einige höhere Arten verfügen in einem weiten Verständnis des Begriffes über Kultur
im Sinne der Fähigkeit, Strategien individuell zu lernen und kommunikativ zu teilen.
Evolution von Kultur erfordert Fähigkeiten abstrakten Denkens als
Voraussetzung zur Entstehung von Mustern symbolischer Weltbezüge. Symbolisches Denken befähigt durch Abstraktion zu Deutungen von Sinneseindrücken
und zu deren Speicherung als vergleichbare kognitive Muster. Als Wissen und Erfahrung verfügbare kognitive Muster verhelfen zu erlernten Fähigkeiten und
ergeben in
Summe Vorstellungen einer Realität der Lebenswelt. Der Abgleich von
Sinneseindrücken mit gespeicherten kognitiven Mustern beeinflusst
Verhalten. Erlernte Fähigkeiten (Wissen und Erfahrung) ermöglichen gestaltende Einflussnahme
auf Lebenswelten. Kulturelle Strategien bevorraten Praktiken der Weltbewältigung.
2.3 Sprache, Kooperation und Kumulierung kultureller Strategien
Fähigkeiten
zur evolutionären Kumulierung kultureller Strategien der Bevorratung von Praktiken der Weltbewältigung sind eine
spezielle Eigenschaft von Homo sapiens, die ihn von anderen
biologischen Arten absetzt und eine höher entwickelte Sprache voraussetzt, deren Zeichen und Symbole kommunizierbare Sinnstrukturen bilden.
2.3.1 Evolution von Sprache
Zwischen
der genetischen und der linguistischen Evolution bestehen Parallelen.
Die Entwicklung von Sprache als ein über Signalfunktionen weit
hinausreichendes symbolisches Zeichensystem scheint bei der Ausbreitung
des Menschen ein
bedeutender Faktor gewesen zu sein. Im Unterschied zur relativ geringen
genetischen Vielfalt von Menschen sind die sprachliche und kulturelle
Vielfalt hoch. Die Ausbreitung dieser Vielfalt wird auf sich wechselseitig beeinflussende
und überlagernde Ursachen zurückgeführt. Als Treiber kultureller Innovativen gilt kognitive Kompetenz, die Anpassungen an
dynamische
Lebensumgebungen ermöglicht.
Als
Sprache befähigt symbolisches Denken zur
Kommunikation kognitiver Muster und erweitert
Optionen der Kooperation. Merlin Donald verortet die Entstehung von
Fähigkeiten des symbolischen Denkens und der Sprache spekulativ vor ca.
150.000
Jahren in mythischer Kultur.(3) Der Sprachwissenschaftler Christian Lehmann vertritt "mit einem gehörigen Maß an Spekulation (...) die Hypothese", dass die "Monogenese der menschlichen Ursprache"
nach zeitlich weit vorausgegangener (vor 1.800.000 bis 400.000 Jahren)
Etablierung einer zweifachen Gliederung der Sprachstruktur in "signifikative Einheiten" sowie in "distinktive Einheiten" (...) einen Qualitätssprung bewirkte, der "etwa 150.000 begann".(4)
Nach überwiegender Auffassung von Paläolinguisten ist der Sprachursprung
(Zeitraum, in dem Menschen lernten, sich sprachlich zu artikulieren)
mangels empirisch prüfbarer Hinweise mit Anspruch auf
Wissenschaftlichkeit nicht datierbar. Aufgrund von Rekonstruktionen
empirisch nachvollziehbarer Veränderungsprozesse in genetisch verwandten Sprachsystemen vertreten einige Linguisten die Hypothese, dass sich bekannte Sprachen aus einer oder aus wenigen Ursprachen ausdifferenziert haben. Rekonstruktionsversuche von Ursprachen mittels statistischer Verfahren
stoßen jedoch unter Linguisten überwiegend auf Ablehnung.(5,6)
2.3.2 Entstehung von Kultur
Um als Art zu überleben, muss Home sapiens in Gruppen kooperieren. Kooperation
erfordert Synchronisierung des Denkens und Verhaltens der Mitglieder
einer sozialen Gemeinschaft. Synchronisierung basiert auf Systemen
generalisierter Symbole (Laute,
Sprache, Gesten, Zeichen, Bilder, Musik, Riten etc.), über die ein
gemeinsames Verständnis besteht. Um Ressourcen zu schonen, ist es
sinnvoll, Symbole
stück- und fallweise nicht bei Bedarf immer wieder neu zu erfinden.
Bewährte Symbole, über deren Semantik Konsens besteht, verfestigen sich
zu Vorräten an Symbolsystemen, die bei Bedarf effiziente Kommunikation
und Kooperation ermöglichen.
Das gesamte Bündel bevorrateter Symbolsystemen einer sozialen Gemeinschaft bildet eine Kultur. Kultur
erzeugt eine virtuelle soziale
Systemebene, auf der primäre Ressourcen der Reproduktion,
Nahrungsversorgung, Sicherheit und ggf. weitere sekundäre Ressourcen in
sozialen Verbänden gemeinschaftlich synchronisiert und organisiert
werden. Symbolsysteme werden in Lernprozessen mimetisch (durch
Nachahmung) und episch (durch Sprache) sozial vererbt.
Kultur
entsteht in
Bewusstseinsprozessen. Kognitive Kompetenz nutzt Elemente des
kulturellen Vorrats bestehender Symbolsysteme weitgehend unbewusst als
Selbstverständlichkeit, um Lebensbedingungen zu organisieren. Im Fall
veränderter oder neuer Lebensbedingungen erfolgen Anpassungen von Kultur, indem neue oder veränderte Symbole bewusst modelliert und in bestehende Symbolsysteme integriert werden.
Zwischen
volatilen Umweltbedingungen und intendierten Handlungen ihrer
Bewältigung bestehen Dynamik erzeugende Wechselwirkungen.
Unbeabsichtigte Nebeneffekte absichtsvoller Handlungen tragen zur
Kontingenz von Umweltbedingungen bei und
verändern oder erhöhen Chaos von Realität und
bewirken Zunahme prekärer Lebensbedingungen. Da Chaos lebensfeindlich
ist, erfordert es Anstrengungen zur Reduzierung von
Lebensfeindlichkeit
Regulierungsbedarf
von Kooperation und Organisation benötigt und verbraucht Ressourcen,
die in anderen
Kontexten fehlen, obwohl sie dort ebenfalls benötigt werden.
Regulierungsbedarf erzeugt unvermeidbare Ineffizienz, die für den Gewinn
verbesserter
Handlungsfähigkeit in Kauf genommen wird.
Nicht
erklärbare empirische Phänomene können auf unbekannte Risiken hinweisen
und erzeugen daher Alarmzustände. Wenn nicht erklärbare empirische
Phänomen regelmäßig auftreten, ohne dass Risiken zu erkennen sind,
stören sie das Koheränzbedürfnis des mentalen Systems und erzeugen kognitive Dissonanzen,
die das mentale System mit Hilfe kausaler Erklärungskonstrukte auflöst.
Narrative der Erklärung von Kausalität befriedigen Bedürfnisse
kohärenter Sinnhaftigkeit, indem sie rational nicht erklärbare
empirische
Phänomene verständlich machen und Ängste vor Risiken des Lebens
reduzieren.
Menschen bevorzugen prägnante Begriffe als Anker eigener abstrakter
Vorstellungen. Die begriffliche Verdichtung einer speziellen Klasse
kultureller Phänomene auf den Begriff Religion vermittelt
implizit Vorstellungen relativ gleichartiger kultureller Deutungsmuster
mit relativ ähnlichen Praktiken. Tatsächlich handelt es sich um einen
vielgestaltigen kulturellen Komplex, der zeitlich, räumlich, ethnisch,
geschlechtlich eine große Bandbreite an Strategien und Praktiken
ausprägt.
Das
Auftreten künstlerischer Artefakte markiert unabhängig davon, wie
sprunghaft sich diese Entwicklung vollzogen hat, wie auch immer
Bewusstsein zu verstehen ist und mit welchen Bedeutungen Symbole belegt
waren, das Einsetzen eines beschleunigten kulturellen Wandels, der nicht
zielorientiert verläuft und ungeplant weitere Entwicklungen anstößt.
2.3.3 Ausbreitung von Kultur
Mit Größe sozialer
Verbänden nimmt Regulierungsbedarf zu. Arbeitsteilige Organisation und
die Etablierung sozialer Institutionen minimieren entstehende Ineffizienz. Soziale Institutionen wie
Familien, Verwandtschaftssysteme, Erziehungssysteme,
Herrschaftsstrukturen etc. legen in verschiedenen Handlungsfeldern
Organisationsregeln fest, erzeugen Verbindlichkeit, schränken Willkür
und Beliebigkeit ein. Soziale Institutionen entlasten individuelle
Verantwortung mittels verteilter Verantwortung und stärken die
Gemeinschaft mittels Kohäsion. In formalen Organisationen von
Bürokratien,
Produktionsbetrieben und Serviceunternehmen sind diese Prinzipien
umgesetzt und optimiert.
Der Erfolg einer Art erhöht die Populationsdichte und verengt territorale Lebensräume. Evolutionärer Erfolg, Ernährunganforderungen und klimatische Bedingungen zwingen zur Ausdehnung von Lebensräumen. Archäologische Funde und
genetische Untersuchungen sowie Rekonstruktionen genetischer
Stammbäume machen wahrscheinlich, dass die Ausbreitung des Homo sapiens in mehreren Migrationswellen und auf mehreren Migrationsrouten vor ca. 60.000 Jahren aus Afrika einsetzte und Homo sapiens dabei auf andere Arten der Gattung Homo traf. 1-2 % des menschlichen Genoms stammen von archaischen Verwandten des Homo sapiens. Zum Schicksal von Vor- und Frühmenschen des Homo sapiens wird Vermischung vs. Verdrängung diskutiert. Genetische Analysen des Menschen stützen die Out-of-Africa-Theorie, die weitgehend akzeptiert ist. Die Hypothese eines multiregionalen
Ursprungs des Menschen gilt als widerlegt.
Die ältesten Homo sapiens
zuzuordnenden Funde stammten bis kürzlich aus dem heutigen Äthiopien und sind ca.
160.000 Jahre alt. Die ältesten Funde außerhalb von Afrika sind ca.
110.000 Jahre alt und stammen aus dem heutigen Israel. Daraus lässt sich
auf frühe Migrationsbewegungen schließen, die aufgrund von
Klimaveränderungen episodisch blieben. An der Belastbarkeit dieser
Annahmen rüttelt der Fund eines 315.000 Jahre alten Schädelknochens im
heutigen Marokko.(7) Über Ursachen und Motive der
Migration können nur Vermutungen angestellt werden.
Dunkle
Hautfarbe
entstand mit reduziertem Haarwuchs als UV-Schutz. Ein Wechsel der
Hautfarbe von dunkel nach hell
oder umgekehrt ist unter veränderten
Lebensbedingungen in 100-200 Generationen möglich ist. Hautfarbe hat
daher keine Aussagekraft für genetische Stammbäume langer Zeitreihen.
2.4 Erklärungsmodelle soziokultureller Evolution von Kultur
Wissenschaftliche Theorien erklären Entwicklungsprozesse soziokultureller Evolution modellhaft mit kontrovers diskutierten Mechanismen und Ausrichtungen. In der Evolution wissenschaftlicher Disziplinen haben sich drei hier lediglich skizzierte und in Kapitel 2 ausführlicher beschriebene paradigmatische Hauptlinien herausgebildet.(8)
- Unilineare
evolutionistische Theorien fassen sozialen und kulturellen Wandel in Anlehnung an die biologische Evolutionstheorie
als Evolution auf und postulieren eine stufenweise Entwicklung von niedrigen zu
höheren Formen als Prozess der Zivilisation.
Norbert Elias beschreibt diesen Prozess als einen um das Jahr 800 einsetzenden Wandel, den Wechselwirkungen zwischen Dynamiken von Sozialstrukturen (Soziogenese) und Persönlichkeitsstrukturen (Psychogenese) treiben.
Während Elias' Beschreibung auf Westeuropa eingeschränkt ist, deuten andere Konzepte Zivilisation als einen mit imperialem Kolonialismus europäischer Expansion einsetzenden Fortschrittsprozess, dem Ideen der Aufklärung zu wissenschaftlicher Rationalität und politischer Vernunft verhelfen. Im 19. Jahrhundert beansprucht diese Perspektive, mit vermeintlich wissenschaftlichen Theorien einen von Europa ausgehenden Fortschritt kultureller Entwicklung nachzuweisen. - Die Hybris evolutionistischer Sozialtheorien wurde erst im 20. Jahrhundert erkannt und als politisch motivierte ethnozentristische Mythen entlarvt, die dem Eigennutz westlicher Kulturen
dienten. Allerdings entfalten diese Mythen noch immer ein zähes Eigenleben in vulgärwissenschaftlichen Überzeugungen.
Übergangsweise verbreiteten sich im 20. Jahrhundert neoevolutionistische Modelle, die empirisch belegbaren gerichteten Wandel in wiederkehrenden Mustern von einfachen zu komplexeren Stadien multilinear annehmen und beschreiben, ohne diese Veränderungen mit Vorstellungen sozialen Fortschritts zu verbinden. - Stand der Wissenschaft sind kulturrelativistische Modelle, die sich gegen auch in der Wissenschaft
verbreiteten Universalismus, Ethnozentrismus,
Rassismus sowie gegen religiöse oder ethische Wertungen wenden, aus denen
Hierarchien von Kulturen abgeleitet werden. In
kulturrelativistischer Sicht ist eine Kultur anhand einer anderen
Kultur nicht erklärbar, sondern kann nur aus einer
Innenperspektive heraus verstanden werden. Demnach folgt jede Kultur
eigenen Gesetzmäßigkeiten. Kulturelle Evolution versteht ethnologischer Kulturrelativismus als
kontingente, in Richtung nicht vorherbestimmbarer Stadien sich entwickelnde Antworten auf zunehmende Komplexität sozialer Systeme.
Der Essentialismus kulturrelativistischer Perspektive gerät in der Gegenwart zunehmend unter Kritik, was dazu führte, dass sich die Ethnologie mittlerweile vom Begriff Kultur distanziert.
2.5 Kulturelle Vielfalt und Diversität soziologisch betrachtet
3 Paradigmen kultureller Modelle in der Ethnologie Mit
Prozessen sozialer Differenzierung entfalten sich zugleich Vielfalt und
Heterogenität als Bündel kultureller Attribute, die generell der
Markierung von Zusammengehörigkeit und Unterschiedlichkeit
sozialer Gruppen und partiell der Rechtfertigung vermeintlicher sozialer
Werthierarchien dienen. Offensichtlich dienen kulturelle Label als
notwendige Wegweiser, die mittels Identifizierung und Abgrenzung zur
Orientierung im Dschungel des sozialen Raums verhelfen. Zwangsläufig
bilden unterschiedliche, teilweise auch disparate oder sich
widersprechende Perspektiven, Orientierungen, Wertungen zugleich auch
einen Nährboden für soziale Konflikte. Zunehmende Vielfalt vergrößert
einerseits den Horizont individueller Verhaltensoptionen und
andererseits inhärentes Konfliktpotential sozialer Ordnungen.
Globalisierungsprozesse scheinen trotz
steigendem Bevölkerungswachstum das Wachstum von Soziodiversität zu
stoppen oder umzukehren. Ob innovative Fähigkeiten
ausreichen, um Auswirkungen des Bevölkerungswachstums zu bewältigen, ist eine Frage mit unsicherem Ausgang.(9)
Politische Programme beabsichtigen die Bewältigung von
Kollektivaufgaben, die politische Auftraggeber als dringlich wahrnehmen. Im politischen Diskurs vermitteln Leitkulturen als Meta-Kultur zwischen unterschiedlichen Vorstellungen von Kultur. Um friedliches soziales Zusammenleben zwischen
heterogenen kulturellen Gruppen zu realisieren und um gleichzeitig
begrenzte Ressourcen durch nachhaltiges Wirtschaften zu schonen, ist ähnlich wie über immaterielle öffentliche Güter
Konsens erforderlich.
Definition, Umsetzung und Durchsetzung von Leitkulturen sind
äußerst anspruchsvolle politische Aufgaben. Randbedingungen
von
Politik sind jedoch volatil, weshalb politische Programme nicht in
Stein gemeißelt sind, sondern Flexibilität benötigen, zugleich aber
auch Verbindlichkeit und Vertrauenswürdigkeit vermitteln müssen, um
politischen Mandaten gerecht zu werden. In
Anbetracht dieser Herausforderungen müssen Programme
politischer Leitkultur hohe Hürden überwinden. In der Realität scheitern
sie regelmäßig mehr oder weniger an der Herstellung von Konsens über politische
Programmatik.
Zum Verständnis von Zusammenhängen zwischen sozialen Milieus und Lebensstilen hat der renommierte französische Soziologe Pierre Bourdieu
(1930 - 2002) international beachtete Arbeiten beigetragen. Bourdieu
zeigt anhand empirischer Daten, dass subkulturelle Lebensstile nicht als
Ergebnis willkürlicher individueller Planung entstehen und daher
individuelle Lebensstile bestenfalls partiell als Ergebnisse geplanter
Lebensgestaltung aufzufassen sind.(10)
Zusammenhänge
von Lebensbedingungen, ihrer subjektiven Wahrnehmung und individuellen
Bedeutung sowie ihres sichtbaren Ausdrucks als Lebensstil definiert
Bourdieu als Habitus.
Habitus versteht Bourdieu als ein System verinnerlichter sozialer
Muster, die Menschen als vermeintlich individuell selbstbestimmt
auffassen, tatsächlich aber von sozialstrukturellen Kontexten erzeugt
oder beeinflusst sind und darum von vielen Menschen geteilt werden.
Neben Alter und Geschlecht einer Person identifiziert Bourdieu 3 Arten
von Kapital, die maßgeblichen Einfluss auf die Herausbildung sozialer
Milieus und ihrer Lebensstile nehmen, d.h. Habitus modellieren:
- Soziales Kapital (soziale Schicht der Herkunft)
- Ökonomisches Kapitel (Ausbildung, Beruf, Einkommen)
- Kulturelles bzw. symbolisches Kapital (Bildung)
---------------------------------------
- Rainer M. Holm-Hadulla: Neuro-)Biologie der Kreativität: Strukturaufbau und Strukturabbau
- Siehe Kapitel 8 des Posts Was ist Bewusstsein?
- Christian Lehmann: Sprachtheorie, Kapitel 13: Evolution der Sprache
- Wikipedia: Sprachentwicklung
- FAZ: Sprachgeschichte: Sprechen Sie Nostratisch?
- Nature, 7.06.2017: Oldest Homo sapiens fossil claim rewrites our species’ history
- Wikipedia: Soziokulturelle Evolution
- Diese Problematik betrachtet der Post Evolution, kognitive Revolution und die Folgen
- Siehe Post: Pierre Bourdieu, Habitus und Doxa – Machteliten und Machtstrukturen
Das
kulturell Fremde ist der eigentliche Gegenstand ethnologischer
Forschung und Theoriebildung, was Ethnologen vor die Aufgabe stellt,
Kultur im wissenschaftlichen Sinn ethnologisch zu definieren. In
der Wissenschaftsgeschichte haben sich paradigmatische Grundtypen
soziokultureller Evolutionsmodelle herausgebildet.(1) Der nachfolgende Überblick dient der Einordnung soziologischer
Theoriebildung, die Teil 2 dieser Reihe referiert.
3.1 'Klassische' unilinear-evolutionistische Definition von Kultur
'Klassische' Definitionen verstehen Kultur
als von Menschen hervorgebrachte Artefakte, die das Überleben in einer
Umwelt ermöglichen. Im Unterschied zu genetisch determinierter
Verhaltenssteuerung verfügen Menschen über Gestaltungsspielräume, deren Nutzung in unbewussten Prozessen der Enkulturation
erlernt wird und deren Potential letztlich Menschen als eine eigene
biologische Spezies ausmacht. Biologisch ist jedoch die Grenze zwischen
Tieren und Menschen weniger scharf als oft angenommen. Nicht-genetisches
kulturelles Lernen tritt auch in der Tierwelt auf (z.B. Gesang von
Singvögeln, Werkzeuggebrauch, Erkennen von Mustern).
In der Ethnologie geht unilineares evolutionistisches Verständnis von Kultur auf den britischen Ethnologen und Religionssoziologen Edward B. Tylor zurück, der als Begründer evolutionistischer Sozialanthropologie gilt, die im 19. Jahrhundert Stand der Wissenschaft war. Tylor definierte Kultur 1871 als "jenes
komplexe Ganze, welches Wissen, Glaube, Kunst, Moral, Recht, Sitte und
Brauch und alle anderen Fähigkeiten und Gewohnheiten einschließt, welche
der Mensch als Mitglied der Gesellschaft erworben hat."(2)
3.2 Neoevolutionistisch-multilineare Definition von Kultur
Neoevolutionistische Modelle
nehmen ebenfalls zielgerichtete Entwicklungen zu höheren 'modernen'
Stadien an, sie wenden sich aber gegen deterministische Vorstellungen
sozialen Fortschritts und postulieren deutlich differenziertere
mehrlinige Entwicklungen, deren Richtung nicht vorherbestimmbar ist.
Analysen neoevolutionistischer Modelle basieren auf empirischen
Beobachtungen und prüfbaren Daten. Bedeutende Vertreter dieses Modells
sind u.a. Talcott Parsons und Norbert Elias.
3.3 Pluralistisch-kulturrelativistische Definition von Kultur
Pluralisierungen des Kulturbegriffes gehen auf den Ethnologen Franz Boas und dessen Schüler Ruth Benedict, Margaret Mead, Alfred Kroeber, Edward Sapir zurück. Boas fasste Kultur als Produkte nicht vergleichbarer unterschiedlicher Entwicklungsprozesse auf und sah in jeder Ethnie eine eigene Kultur, sodass Kulturen nicht universell, sondern nur relativ und spezifisch zu verstehen seien. Boas' Sicht eines Kulturrelativismus setzte
sich in der Ethnologie und Soziologie durch und führte zu einer starken
Betonung kultureller Andersartigkeit bei Vernachlässigung von Gemeinsamkeiten.
Die Ethnologen Alfred Kroeber und Clyde Kluckhohn
haben mehr als 160 Definitionen von Kultur gesichtet und aus ihnen eine
synthetische Definition abgeleitet, die mit Begriffen jüngerer Wissenschaftsverständnisse angereichert ist, aber über Tylors
Definition kaum hinausgeht: „Kultur besteht aus expliziten und impliziten
Mustern (patterns) des erworbenen Verhaltens, die durch Symbole
übermittelt werden und die unterschiedlichen Errungenschaften
(achievements) verschiedener menschlicher Gruppen einschließlich ihrer
Verkörperung in Artefakten begründen; der wesentliche Kern der Kultur
besteht in traditionellen (d. h. historisch hergeleiteten und
ausgewählten) Ideen und insbesondere den daran geknüpften Werten;
Kultursysteme können einerseits als Produkte von Handlungen und
andererseits als konstitutive Elemente künftiger Handlungen angesehen
werden.“(3)
3.4 Konzepte analytischer und interpretativer Definition von Kultur
Bei aller Vielfalt von Kulturen suchen aufgrund gleichartiger Bedürfnisse und
ähnlicher Lebensbedingungen auch wertrelativistischer Haltung
verpflichtete Ethnologen nach von Kulturen
hervorgebrachten einheitlichen Prinzipien und Innovationen. Ab den 1970er
Jahren setzte ein
Umdenken ein, das kulturrelativistische Sicht nicht aufkündigte,
aber verstellte Blicke auf strukturell-funktionale Gemeinsamkeiten in
zwei sich gegenseitig abgrenzenden Hauptrichtungen freilegte:(4)
- Analytische Ethnologie versucht, Gesetzmäßigkeiten (Universalien) insbesondere in Techniken und Objekten materieller Kultur sowie in Strukturen immaterieller Kultur aufzudecken und erklärt diese Gesetzmäßigkeiten in Anlehnung an organische Systeme der Biologie funktionalistisch oder strukturalistisch kausal als Systeme.
- Das Paradigma interpretativer Ethnologie (auch als symbolische, semantische, reflexive Ethnologie oder Ethnographie bezeichnet) bezweifelt eine von außen wahrnehmbare objektive Realität ihrer Forschungsgegenstände und nimmt an, dass Bedeutungen von Objekten, Verhalten und Aussagen erst in einem Handlungs- und Kommunikationskontext entstehen, aber in der Selbstwahrnehmung sozialer Akteure oft unbewusst bleiben, jedoch durch interpretative Fremdwahrnehmung erschlossen werden können. Interpretativer Ethnologie geht es um das Erkennen und Verstehen von Bedeutungen (Sinn) sozialer Phänomene, die ähnlich wie Texte gelesen werden. Das kulturrelativistische Paradigma interpretativer Ethnologie entwickelten Claude Lévi-Strauss und Clifford Geertz, die beiden 'Päpste' zeitgenössischer Ethnologie, in funktionalistischer Tradition Bronisław Malinowskis. Schlüssel des Verständnisses bilden Strukturen von Sprache und Verwandtschaftssystemen (Claude Lévi-Strauss) sowie Sinnmuster von Symbolen (Clifford Geertz).(5,6,7)
Im wissenschaftlichen Diskurs ist strittig, ob
interpretative Ethnologie einem methodischen Verständnis von
Wissenschaft
im engeren Sinn entspricht oder eher als Literatur einzuordnen ist.(8)
Ebenfalls umstritten ist die wertrelativistische Haltung des
Kulturrelativismus, der vermeintlich die
Gültigkeit allgemeiner
Menschenrechte infrage stellt.(Siehe 3.2) Dieses Argument übersieht,
dass
Kulturrelativismus kein politisches Programm ist und die Rolle eines
Wissenschaftlers neutrale Redlichkeit verlangt, die sich
weder von
Politik noch von Wirtschaft instrumentieren bzw. vereinnahmen lassen
sollte (was in der Realität nicht immer so ist). In Rollen als soziale
Akteure dürfen auch Wissenschaftler selbstverständlich politisch Stellung beziehen. Daher liegt kein Widerspruch vor, wenn Lévi-Strauss als Wissenschaftler
Kulturrelativist ist, aber als politisch-sozialer Akteur 'modernes'
Denken 'heißer' westlicher Kultur pessimistisch kommentiert und 'wildes'
Denken 'kalter' Kulturen über Zeit als überlegen auffasst. (Siehe 3.3.2)
3.4.1 Kultur als System: Talcott Parsons und Niklas Luhmann(9)
Soziologische Systemtheorien
haben den Anspruch, die soziale Welt von der Mikro- bis zur Makroebene
in einer umfassenden universellen Theorie zu erklären und entwickeln zu
diesem Zweck kategoriale Begriffsapparate.(10) In soziologischer
Systemtheorie geht es nicht darum, Handlungsmotive von Menschen oder das
Zustandekommen konkrete Ereignisse zu erklären, sondern zu verstehen,
wie soziale Systeme funktionieren, Komplexität bewältigen, Stabilität
erzeugen und sich selbst generieren. Bedeutende Vertreter soziologischer
Systemtheorie sind Talcott Parsons und Niklas Luhmann.
"Ausgangspunkt
von Parsons’Bestimmung des Kulturbegriffs war die Hobbes’sche Frage
nach der Entstehung sozialer Ordnung. Als Antithese zu utilitaristischen
Modellen erklärte Parsons (1937) die Möglichkeit sozialer Ordnung mit
einem Orientierungsrahmen aus Werten und Normen, der von der
Gesellschaft mit (positiven und negativen) Sanktionen gestützt wird und
den Akteur bei seiner Handlungswahl anleitet. Diesen Orientierungsrahmen
bezeichnet Parsons als ‚Kultur‘. Parsons’ sozialer Akteur verfolgt also
prinzipiell kulturell vorinterpretierte und bewertete Ziele und wählt zu
ihrer Umsetzung kulturell gebilligte Mittel. Zwar sind seine Handlungen
freiwillig, aber durch ein Feld kulturell bedeutsamer, normativer
Möglichkeiten umgrenzt. Teil des kulturellen Orientierungsrahmens sind
komplementäre Rollenerwartungen, die von den sozialen Akteuren –ebenso
wie allgemeine gesellschaftliche Werte –im Rahmen ihrer Sozialisation
verinnerlicht wurden."(11)
Soziale
Systeme (Institutionen und Organisationen) konstituieren sich durch
Interdependenzen ihrer von handelnden Akteuren angetriebenen Elemente.
Soziale Akteure agieren nicht primär im Interesse ihrer eigenen
Motivationen, sondern sie erbringen aufgrund normativer
Verhaltensvorschriften, die zu notwendigen Systemelementen zählen,
unbewusst (wie Rädchen einer Maschine) Leistungen, die der Persistenz
von Systemen dienen. Das kulturelle System ist für sozialen Wandel ohne
Bedeutung und übernimmt Funktionen der Strukturerhaltung und
Systemintegration. Sozialer Wandel kommt ausschließlich über
Systemdifferenzierung zustande.(12)
Während
bei Parsons Strukturbegriffe Vorrang vor Funktionen haben und
Funktionen strukturellen Bedürfnissen dienen, dreht Luhmann das
Verhältnis um. Bei Luhmann dienen Strukturen funktionalen Anforderungen.
Entsprechend dieser Umkehrung unterscheidet sich auch das Verständnis
von Systemen. Für Luhmann geht es darum, wie Systeme und der Austausch
zwischen ihnen funktionieren.
Eine Theorie, die alles erklärt, erklärt letztlich nichts. Hartmut Esser bezeichnet soziologische Systemtheorie als ein "Arsenal von Begriffen und Konzepten",
die soziologische Gegenstände sortieren und Bücher gliedern, ohne dass
sich aus ihnen Hypothesen ableiten ließen, weshalb sie sich zu Unrecht
als Theorie bezeichnet. Als besonders verhängnisvoll kritisiert
Esser die unter Soziologen verbreitete Meinung, dass mit der
Kategorisierung in begrifflichen Systemen auch bereits
Erklärungsprobleme gelöst seien.(13) In der Gegenwart haben
soziologische Systemtheorien als Perspektive soziologischer Forschung
ausgedient.
3.4.2 Kultur als Text: Claude Lévi-Strauss, kalte und heiße Kulturen, wildes und modernes Denken
Der französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss hat maßgeblich die Erforschung des symbolischen Denkens und seiner Grundstrukturen als wissenschaftliches Konzept des ethnologischen Strukturalismus begründet. Der Einfluss von Lévi-Strauss auf Kulturwissenschaften, Ethnologie und Religionssoziologie ist kaum zu überschätzen. Ethnologie war für Lévi-Strauss Anthropologie von Kommunikation. Kultur betrachtete er wie Sprache, deren Semantik (inhaltliche Bedeutung) linguistisch via Syntax (Regelsysteme) und Semiotik (Zeichensysteme) variiert. Gemäß strukturalistischer Denkweise werden Symbole und Objekte erst durch ihren Bezug zur Welt mit Bedeutung aufgeladen. Wenn sich Weltbezüge ändern, verändern sich damit auch Bedeutungen. Soziales Leben versteht Lévi-Strauss als Lesen von Symbolen und Austausch von Zeichen.(14)
Indigene
Kulturen betrieben ursprünglich traditionelle
Subsistenzwirtschaft.
Die unmittelbare Auseinandersetzung mit der natürlichen Umwelt bewirkte
die Entstehung von Wissen über natürliche Ordnungen, Rhythmen
und Kreisläufe. Dieses Wissen schlug sich im religiösen Repertoire von
Mythen und Riten dieser Kulturen nieder. Sakralisierung, mythische
Spiritualisierung, Tabuisierung von Naturphänomenen dienen der Bewahrung
einer natürlichen Ordnung bzw. der Vermeidung von Kulturwandel. Claude Lévi-Strauss schlug in seinem Werk Das wilde Denken vor, Kulturen nach ihrer Einstellung zum Kulturwandel in kalte und heiße Kulturen zu unterscheiden. Je kälter
eine Kultur ist, desto stärker ist ihr Bestreben, mittels komplexer
Verhaltenssysteme ihre traditionellen Kulturmuster zu bewahren und
Veränderungen zu vermeiden. Eine Kultur gilt als umso heißer, je stärker ihr Bestreben zu schneller und umfassender Modernisierung ist.(15)
In der logischen
Struktur sah Lévi-Strauss zwischen
vermeintlich primitivem "wildem Denken" (Denkweisen indigener Kulturen)
und vermeintlich "modernem Denken" (Denkweisen westlicher Kulturen) keinen wesentlichen qualitativen Unterschied. Beide Denkweisen
beruhen auf Prinzipien einer gemeinsamen Grundstruktur, mit der die Welt
universell geordnet wird. Wildes und modernes Denken
folgen der gleichen inneren Logik und ordnen das Chaos mit Hilfe
widerspruchsfreier Klassifikationssyteme. Unterschiede zwischen "wildem und modernem Denken" entstehen durch
verschiedene Bezüge zur Welt, die Einfluss auf die Wahrnehmungen von
Welt nehmen (vergleichbar der Unterschiede zwischen wissenschaftlichem
Denken und Alltagsdenken).
In der Art der Wissenserzeugung sind jedoch Unterschiede zu erkennen. Wildes Denken
gelangt zu universalem Verständnis, indem es Ordnungen über sichtbare
Ähnlichkeiten herstellt und in Klassifikationsschemen unterbringt, die
ein ganzheitliches Verständnis von Welt ermöglichen. Modernes Denken
schafft Ordnungen eher über Abstraktion und rationale Prinzipien wie
Kausalität, aus denen keine Rückschlüsse auf ein Gesamtsystem möglich
sind. Für beide Modelle gilt, dass sich ihre Denkweisen in ihrer jeweiligen Umgebung bewähren müssen.
In der unmittelbaren Konfrontation der Modelle scheint modernes Denken gegenüber wildem Denken effizienter und darum überlegen zu sein. Lévi-Strauss widerspricht. Er sieht eine Überlegenheit des wilden Denkens,
die im Sinne einer kosmischen Ordnung aus der engeren Verwobenheit mit
der Natur resultiert. Vor dem Hintergrund profunder wissenschaftlicher
Erfahrung diagnostiziert Lévi-Strauss moderner westlicher Kultur einen Zustand der
Erschöpfung ihrer Reserven. Westliche Kultur zahle die Siegerkultur ihrer Ordnung mit sozialer Entropie
und Orientierungslosigkeit, ohne dass eine Regenerierung aus eigener
Kraft möglich zu sein scheint.(16,17)
3.4.3 Clifford Geertz: Kultur als Symbolsystem(18)
Das Verständnis von Kultur als ein symbolisches Symbolsystem hat der US-amerikanische Ethnologen Clifford Geertz verbreitet, dessen Definition von Religion u.a. der Religionssoziologe Robert Bellah übernahm und die auch den Autor dieses Post überzeugt. Geertz vertritt ein offenes, relativistisches Konzept von Kultur und verwendet einen auf zeichenhafte Bedeutungen beruhenden 'semiotischen Kulturbegriff'. Kultur
versteht Geertz als ein von Menschen gesponnenes dynamisches
'Bedeutungsgewebe', das als kulturelles Symbolsystem ständigen
Veränderungen unterliegt und niemals objektiv ist. Für in diesem
'Bedeutungsgewebe' lebende Menschen, ist deren Verständnis von Kultur unbewusst und untrennbar mit der jeweiligen Kultur ihrer Lebensumgebung verknüpft. Ethnologen, die Kultur mit ethnographischen Methoden von außen betrachten, müssen dagegen den symbolischen Gehalt von Kultur entschlüsseln und Kultur wie einen Text lesen, weshalb diese ethnologische Ausrichtung als interpretative, symbolische oder reflexive Ethnologie
bezeichnet wird. Ethnografische Texte versteht Clifford Geertz nicht
als Beschreibungen objektiver Wirklichkeiten, sondern als
fiktionale Literatur, die literarischen und rhetorischen
Gestaltungskriterien gehorcht.(19,20)
---------------------------------------
- Eine differenziertere Betrachtung dieses Themenfeldes bietet der Post Architektur von Erinnerung, Wissen, Wahrheit - interdisziplinär betrachtet.
- FAZ: Psychologische Biases
- Zitat aus K.-H. Kohl, Ethnologie, a.a.O., S. 131
- Zitat aus Wikipedia: Kultur.Begriffsvielfalt
- Wikipedia: Kultur.Kulturen:Die Pluralisierung des Kulturbegriffes
- Ein berühmtes Beispiel für interpretative Ethnologie bietet Clifford Geertz' Essay "Deep Play: Notes on the Balinese Cockfight"
über den balinesischen Hahnenkampf. Der Ethnologe Volker Gottowik
analysiert den Geertz-Text in einem Essay über interpretative
Ethnologie: Clifford Geertz und der Verstehensbegriff in der interpretativen Ethnologie (PDF).
Bebilderter Artikel der FAZ vom 25.11.2022: Hahnenkampf auf den Philippinen - Harald Klinke: Kulturbegriff heute. Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, 2000: legacy.harald-klinke.de /archiv/texte/sa/GEERTZ.htm
- TAZ, 3.11.2006: Der beschreibende Dichter. Wie der Blick des Beobachters fremde Kulturen definiert: Zum Tod des großen Anthropologen Clifford Geertz
- FU Berlin, Sozial- und Kulturanthropologie: Reflexive Anthropologie
- Anmerkungen dieses Kapitels basieren auf den Veröffentlichungen:
- Annette Treibel: Einführung in die soziologische Theorie der Gegenwart, 7. Auflage, Wiesbaden 2006
- Hartmut Esser: Soziologie. Allgemeine Grundlagen, 3. Auflage, Frankfurt 1999
- Was unter wissenschaftlicher Theorie verstanden wird, erklärt ein Artikel im englischen Wikipedia: Scientific theory
- Meyer, Christian (2019):
Ethnomethodologie als Kultursoziologie. In: Handbuch Kultursoziologie.
Hg. v. St. Moebius, F. Nungesser u. K. Scherke. Wiesbaden: Springer VS.
3-27.
- Jan Künzler: Talcott Parsons' Theorie der symbolisch generalisierten Medien in ihrem
Verhältnis zu Sprache und Kommunikation, Zeitschrift für Soziologie, Jg. 15, Heft 6, Dezember 1986, S. 422-437 - Hartmut Esser: Soziologie, a.a.O., S. 401
- Wikipedia: Claude Lévi-Strauss
- Strukturalismus - Religionsethnologie
- Wikipedia: Sozialer Wandel - Wildes Denken - Kalte und heiße Kulturen
- FAZ, 18.07.2012: Der Westen ist erschöpft
- WELT, 16.08.2018: Warum ist unsere Gesellschaft so erschöpft?
- Wikipedia: Clifford Geertz - Robert Bellah - Religionsethnologie
- FU Berlin, Sozial- und Kulturanthropologie: Reflexive Anthropologie
- Siehe Kapitel 5.2.2 des Posts Vor- und Randbemerkungen zur Postreihe über Evolution von Kultur und Religion
4 Mythen der Entstehung von Kultur
4.1 Was sind Mythen?
Kulturelle Mythen bilden innerhalb von Kulturen ein Reservoir
historisch entstandener und in der Gegenwart nicht mehr hinterfragbarer
Narrative, die man nicht für wahr halten muss, aber gewöhnlich als
kulturelle Identität stiftende Erzählung anerkennt, ohne ihre Bedeutung
tatsächlich zu verstehen. Verständnisse
stellen sich nicht aus naivem Interesse oder teilnehmenden Erlebnissen intuitiv ein. Mythen sind Schlüssel, die Zugänge zu Verständnissen von Kulturen
erschließen, wenn man diese Schlüssel zu nutzen weiß. Bedeutungen von Mythen erschließen sich erst jenseits des Alltagsdenkens auf analytischen Metaebenen.
Mythen entstehen aus mit kollektiver Gültigkeit ausgestatteten Narrativen (sinnstiftende Erzählungen) vom Typ Heldenerzählung (kulturell bedeutende heroische Taten). Mythen und Narrative vermengen emotional angereicherte Beobachtungen empirischer oder vermeintlich empirischer Phänomene mit Wertvorstellungen und nicht prüfbaren Behauptungen kausaler Ursachen. Wertvorstellungen bestätigende und Wissenslücken füllende Mythen sind tief in menschlicher Kultur wurzelnde Träger kollektiver Sinnvermittlung und bilden Fundamente kultureller Architekturen.
Als Erzählung ist die Identifizierung von Mythen einfach. Das rhetorische Muster des Storytellings ist aber auch ein weniger offensichtliches Kommunikationsmuster, das mit Hilfe mythischer Strukturen zu kollektiv vermittelbaren bildhaften Vorstellungen abstrakter Zusammenhänge verhilft. Überwiegend unbewusst wirksam werdende Mythen des Storytellings bilden Katalysatoren der Modellierung von Kultur, erzeugen unbewusste Deutungsmuster der Wahrnehmung von Welt und setzen Rahmen legitimer Verhaltensweisen.
Kulturelle Sphären von Politik, Wirtschaft, Kunst, Literatur, Religion etc. sind mythengesättigt. Romane, Kinofilme, Computerspiele und andere Arten von Kunst und Kultur wären ohne mythische Strukturen nicht möglich. Selbst Wissenschaften sind keine mythenneutrale Reservate. Den Kern zahlreicher wissenschaftlicher Paradigmen bilden Mythen (siehe Kapitel 3.3.2). Wissenschaftshistorie und Geschichtsschreibung betreiben systematische Mythenbildung. Zeitlich und räumlich variierende Inhalte und Ausdrucksformen kultureller Sinnvermittlung bilden den Gegenstandsbereich von Ethnologie. Analytisch beschreibt Pierre Bourdieu von kulturellen Mythen erzeugte Effekte der Sinnvermittlung als Habitus und Doxa.(1)
4.2 Typen und Gliederungen von Mythen
Animistische Urmythen projizieren mittels
Anthropomorphisierung menschliche Eigenschaften und menschliches
Verhalten auf eine Welt, in der Tiere, Pflanzen und nicht lebende Objekte entsprechend einer menschlichen Seele beseelt sind.
Religiöse Mythen verknüpfen die Welt der Menschen mit der Welt von Göttern. In vielen Kulturen bestehen kosmogonische
Mythen, die den Ursprung des Kosmos und der Erde erklären, Sinn stiften
und eine Urordnung festlegen, die Menschen zu bestimmten
Verhaltensweisen verpflichten. Die Entstehung einzelner Kulturen oder kultureller Techniken wird oft mit Kulturhelden erklärt (z.B. Prometheus, Gilgamesch, Mose).
Die Genesis
traditioneller christlicher Lehre besteht aus 2 Teilen, Erschaffung der
Welt und Erschaffung der Menschen. Teil 1 der Erschaffung der Welt
knüpft an ältere Schöpfungsmythen und Kosmogonien an, die im Fruchtbaren Halbmond der Arabischen Halbinsel verbreitet waren. In der Genesis entsteht Kultur als Strafe, die Gott den Menschen aufgrund ihrer Erbsünde mit der Vertreibung aus dem Paradies auferlegt. In Genesis 3.23 heißt es: "Da schickte Gott, der HERR, ihn aus dem Garten Eden weg, damit er den Erdboden bearbeite, von dem er genommen war."(2) Andere Kulturen kennen andere Mythen der Kulturentstehung.(3)
Grenzen zwischen
animistischen, religiösen und rationalen Entstehungsmythen sind fließend. Das kosmologische Standardmodell
der Entstehung und Ausbreitung des Universums basiert auf
kosmogonischen Mythen und überstülpt ihnen rationale physikalische
Erklärungen. Anfangssingularität des kosmischen Urknalls hat keinen Ereignishorizont
und liegt außerhalb des Gültigkeitsbereichs physikalischer Gesetze. Das
Narrativ des Urknalls als Entstehung von Materie, Raum, Zeit und
physikalischer Gesetze aus einer ursprünglichen Singularität ist ein
rationaler kosmogonischer Mythos.
Claude Lévi-Strauss
erkannte, dass Kataloge tradierter Mythen immer in 6 Abschnitten
untergliedert sind. Die erste Erzählung berichtet, wie die Welt aus der
monistischen Instanz einer Urkultur entspringt (dem Nichts, dem
Chaos, einem Fluss, einem Meer, einem Früchte tragenden Weltenbaum, der
Regenbogenschlange, einer astronomischen Singularität etc.), zu der alle
nachfolgenden Erzählungen in Beziehung gesetzt werden. In
kosmogonischen Mythen gilt der erste Zustand immer als ein Zustand, in
dem Glück und Harmonie in Vollkommenheit bestehen (Paradiese).
Nachfolgende mythische Erzählungen beschreiben Konflikten, aus denen die Zerstörung ursprünglicher
Vollkommenheit resultiert.
---------------------------------------
- Siehe Post Pierre Bourdieu, Habitas und Doxa - Machteliten und Machtstrukturen
- Bibelserver Einheitsübersetzung 2016: 1. Mose 3
Bemerkenswert ist, dass der Grund für die Vertreibung aus dem Paradies nicht Ungehorsam von Adam und Eva ist, sondern Gottes Befürchtung, dass die beiden, nachdem sie Früchte vom Baum der Erkenntnis gegessen haben, nun auch Früchte vom Baum des ewigen Lebens essen könnten und damit gottgleich würden. - MDR: Schöpfungsmythen der Menschheit
Kategorien bilden Systeme einer unbewussten begrifflichen Ordnung der Welt. Kategorien
beruhen auf Abstraktionen, die Chaos ordnen, um in prinzipiell
unendlicher Welt Kontrollierbarkeit herzustellen.(2) Ob gedachte
Ordnungen einer Realität entsprechen, ist eine seit ca. 2.500 Jahren in
philosophischer Erkenntnistheorie und Ontologie kontrovers diskutierte Frage.(3) Für das Alltagsdenken
und die wissenschaftliche Praxis ist diese Frage irrelevant. In der Lebenspraxis ist entscheidend, ob begriffliche
Ordnungen für das Überleben in einer chaotischen Welt tauglich sind. Vermeintliche Gegensätzlichkeit von Natur und Kultur zeigt exemplarisch den Charakter begrifflicher Kategorien als ordnende soziale Konstruktionen.(Siehe 3.1) Das Beispiel der Fossilienlagerstätte Burgess-Schiefer, die im kurzen Zeitraum der kambrischen Explosion entstandene neue Arten mit völlig veränderten Bauplänen zeigt, macht Problematiken kategorialer Denkweise anschaulich.
Kategorien und begriffliche
Ordnungen des Alltagsdenkens repräsentieren Modelle von
Welt, deren Systeme sich als Kultur manifestieren. Kulturen entwickeln Mechanismen autopoietischer Prozesse der Selbsterzeugung. Obwohl
Phänomene der Welt häufig nicht eindeutig und oft nur relativ zu
bewerten sind (z. B.: Freund - Feind, gut - böse, warm - kalt, feucht -
trocken, groß - klein, reich - arm, fröhlich - traurig, dumm - klug,
billig - teuer etc.), erzeugen Kategorien vermeintlich Eindeutigkeit
sowie klare Grenzen und Dichotomie auch dort, wo sie in der Realität
unsicher sind oder nicht existieren. Vereinfachungen ermöglichen in komplexen
Situationen schnelle Entscheidungen und befähigen zu Handlungskompetenz. Sie
verursachen jedoch Verzerrungen von Wahrnehmungen und Urteilen.
Unterschiedliche Ethnien deuten die Welt intrakulturell mit ihren spezifischen begrifflichen Ordnungssystemen jeweils vermeintlich richtig. Da Kulturen sich interkulturell hinsichtlich Bedeutungen ihrer Kategorien und begrifflichen
Ordnungen unterscheiden, deuten sie die Welt jedoch unterschiedlich. Aufgrund divergierende Modelle des
Verständnisses von Welt sind interkulturelle Interaktionen für Missverständnisse und Irrtümer anfällig. Mit dynamischen Prozessen der Welt
ändern sich begriffliche Ordnungen und Bedeutungen von Kategorien über Zeit sowohl intrakulturell als auch interkulturell und
werden als Kulturwandel wahrgenommen.
Nach zwei Weltkriegen und dem Holocaust lehnt die Ethnologie
auf unterschiedlichen
Selbstverständnissen beruhende diskriminierende Ansichten über fremde Kulturen ab und betrachtet Kultur pluralistisch in Systemen der jeweiligen begrifflichen Ordnung einer Kultur. Im Alltagsdenken westlicher Kulturen zirkulieren jedoch nach wie vor diskriminierende Vorstellungen der Überlegenheit eigener Kultur und der Rückständigkeit fremder Kulturen. Die Eliminierung der Rückständigkeit fremder Kulturen
mittels Entwicklungsmaßnahmen und die Vereinheitlichung globaler
Denkweise nach westlichem Vorbild gelten als vornehme Aufgabe in der
Verantwortung westlicher Kultur. Dass auf diesem Weg globaler Frieden hergestellt werden kann, ist nicht absehbar, und dass globale Kultur mit abnehmender kultureller Diversität reicher wird, kann niemand ernsthaft behaupten. Vermeintlich kulturelle Ordnung stiftende Narrative vom Fortschritt zeichnen die Kapitel 3.2 und 3.3 nach.
5.1 Kategoriales Denken und vermeintliche Gegensätzlichkeit von Natur und Kultur
Natur und Kultur bilden in Prozessen des Denkens Leitkategorien, über die in unterschiedlichen Sozialsystemen verschiedene Auffassungen bestehen. Im
westlich-europäischen Denken ist der Mensch 'Verursacher'. Gemäß diesem
Verständnis erzeugt eine nicht von Menschen geschaffene Natur in evolutionären Prozessen Leben und Menschen, die ihre Lebensumgebung als Kultur gestalten. Westliche Kulturen verstehen sich als 'Kulturvolk'. Natur und Kultur bilden ein Antonym. In vielen Ethnien bestehen dagegen chthonische
(erdverbundene) Weltanschauungen, gemäß der Menschen sich als untrennbare
Bestandteile ihres Lebensraums verstehen und sich nicht als 'Verursacher',
sondern als 'Kontrolleure' ihres Lebensraums sehen. Solche Ethnien
gelten in der Fremdbetrachtung aus Sicht westlicher Kultur als 'Naturvolk'.
Gegen Annahmen einer scheinbar scharfen Abgrenzung von Natur und Kultur sprechen 2 Argumente:
- Von Menschen unbeeinflusste Naturlandschaft existiert als Wildnis nur noch in lebensfeindlichen weiten Wüstenlandschaften sowie in polaren Regionen. Der große Rest ist Kulturlandschaft, die aber fälschlich als Naturraum bezeichnet wird.
- Menschen können Natur nur durch Kulturtechniken wahrnehmen. Damit verschwimmen Grenzen und Vorstellungen einer Natur an sich. Letztlich scheint alles entweder Kultur oder alles Natur zu sein. In der Genesis übergibt Gott den Menschen die Herrschaft über die Erde. Damit wird die Erde zur Kultur. Die gegenteilige Annahme, dass alles Natur ist, bildet den Kern der Gaia-Hypothese.
Eine stark vereinfachende Einteilung der Menschheit in die Kategorien
'Naturvolk' und 'Kulturvolk' ist so fragwürdig wie ein vermeintlicher
Gegensatz von Natur und Kultur.
"Natur
und Kultur schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern markieren
lediglich die gedachten Enden einer Skala mit fließend ineinander
übergehenden Mischungszuständen (Hemerobie)."(4)
Ethnien mit vom westlichen
Denken abweichenden Weltanschauungen sind ebenfalls 'Kulturvölker'. Allerdings bestehen unterschiedliche Leitkategorien,
deren Übertragung von einer Kultur auf eine andere zu fehlerhaften
Aussagen und Irrtümern führt. Kulturvergleiche erfordern hohe interkulturelle
Kompetenz, die im
Alltagsdenken gewöhnlich nicht vorhanden ist und erst mit wissenschaftliche Bildung vermittelt wird. Claude Lévi-Strauss und
anderen zeitgenössischen Ethnologen ist die Erkenntnis zu verdanken,
dass vermeintliche Unterschiede zwischen Kulturen vor allem durch unzulässige Kategorienübertragungen zustande kommen und Unterschiede zwischen Kulturen in der Realität deutlich kleiner sind, als gemeinhin angenommen wird.
5.2 Konstruktion der großen Erzählung vom Fortschritt
"Der
wissenschaftliche Fortschritt erzeugt den technischen Fortschritt. Der
technische Fortschritt erzeugt den ökonomischen Fortschritt. Der
ökonomische Fortschritt erzeugt den sozialen Fortschritt. Der soziale
Fortschritt erzeugt den individuellen Fortschritt. Der individuelle
Fortschritt erzeugt – durch die Befreiung von niederer Arbeit durch
Bildung und Wissen – den kulturellen Fortschritt. Der kulturelle
Fortschritt wiederum erzeugt weiteren wissenschaftlichen Fortschritt.
Und so weiter, bis irgendwann das Paradies der Vollkommenheit in einer
Welt des ewigen Fortschritts erreicht wäre."(5)
In der Welt monotheistischer Religionen prägten und prägen teilweise noch immer eschatoligische Vorstellungen eines endzeitlichen Geschehens das Denken von Menschen. Seit dem ausgehenden Mittelalter bewirken imperialer Kolonialismus, europäische Expansion, rationalistische Verwissenschaftlichung der Welt und industrielle Revolution ein Umdenken. Zunächst gegen
Widerstand traditioneller Denkweise setzten sich im westeuropäischen
Kulturraum Überzeugungen der universalen Überlegenheit europäischer
Werte durch. Mit wachsender politischer und
wirtschaftlicher Macht breitet sich Deutungsmacht westlicher Denkweise
global aus. Von christlichem
Gedankengut infizierte wissenschaftliche Vorstellungen linearer
Evolution rechtfertigen im Kern dieser Deutungsmacht diskriminierende Auffassungen unzivilisierter Naturvölker, die es zu zivilisieren
gilt. Dieses Denkmuster versteht kulturelle Evolution als
Prozess kontinuierlicher Zivilisierung, mit dem sich zunehmender Fortschritt dank Überlegenheit europäischer Werte sukzessive global ausbreitet.
Seit 1867 veranstaltete Weltausstellungen
präsentieren mit großer Zustimmung aufgenommene öffentliche
Leistungsschauen des Fortschritts. Zunehmender Wohlstand, Verbesserung von Gesundheit und sozialer Sicherheit, Verlängerung
der Lebenserwartung, Ausdehnung individueller
Freiräume und Handlungsoptionen gelten als verdiente Früchte eigener Anstrengungen. Dass
diese Früchte mit Sklaverei, Ausbeutung und Unterdrückung weiter Teile
der Menschheit erkauft sind, bereitet keine Skrupel, sondern gilt als natürliche Selektion der Fitness von Kulturen.
An der Spitze einer kulturellen Fortschrittspyramide entfalten
vermeintlich fittere Kulturen Dominanz über rückständige heidnische
Kulturen, deren Mitglieder über Jahrhunderte als keine vollwertigen Menschen galten (woran Rassisten noch immer festhalten). Naiven Fortschrittsglauben begründen soziale Evolutionstheorien, Empirismus, Positivismus, Liberalismus mit vermeintlich wissenschaftlichen sowie von christlicher und utilitaristischer Ethik
gestützten Argumenten. Konträre Auffassungen eines kleinen Kreises
Ethnologen galten als wissenschaftlich und politisch irrelevante
Positionen von Außenseitern.
Spirituelles,
magisches, esoterisches Denken und mit ihm verknüpfte traditionelle
Verhaltensweisen sind tief verwurzelt. Der Wandel von eschatologischen
zu optimistischen Weltanschauungen verdrängt dogmatische religiöse
Lehren erst zeitlich
verzögert. Einsetzende Säkularisierungsprozesse verursachen Legitimationskrisen marginalisierter religiöser Institutionen. Säkularisierungsprozesse lösen ehemals religiös konnotierte Spiritualität keineswegs auf. Spiritualität heftet sich
mit Fortfall religiöser Glaubens-Verbote und -Gebote an alternative
metaphysische Sinngefüge. Das Spektrum fundamentalistischer
Überzeugungen wird nicht kleiner,
sondern breiter und irrationaler.
5.2.1 Annahmen zur Entstehung des Fortschrittsparadigmas westlicher Kulturen
Der in Harvard lehrende kanadische Anthropologe Joseph Henrich vertritt in einer jüngeren Veröffentlichung die Auffassung, gemäß der Menschen westlicher Kulturen WEIRD sind.(6,7) WEIRD ist ein englisches Akronym für western (westlich), educated (gebildet), industrialized (industrialisiert), rich (wohlhabend, reich) und democratic (demokratisch) und zugleich ein Wortspiel. Im Englischen bedeutet weird
seltsam, sonderbar, merkwürdig. Als Ethnologe hat Henrich aufgrund
zahlreicher zitierter empirischer Studien erkannt, dass westliche
Verhaltensmuster, Werte und Normen in weiten Teilen der Welt als seltsam
und sonderbar gelten. Anhand
sozialpsychologischer und soziologischer Studien verweist Henrich auf
Unterschiede bei Menschen westlicher Kulturen:
- Sie fallen auf optische Täuschungen herein und können sich Gesichter schlecht merken.
- Sie wertschätzen analytisches Denken, Individualismus, Freiheit, Fleiß, Vertrauenswürdigkeit, Geduld, Selbstbeherrschung.
- Sie bevorzugen Rechtsstaatlichkeit und Institutionen der Gewaltenteilung sowie Marktwirtschaft gegenüber Cliquenwirtschaft.
- Ein von Schuldnormen integriertes Gemeinwesen ist ihnen wichtiger als von Normen der Scham regierte Verwandtschaftssysteme.
- Während Menschen westlicher Kulturen Vetternwirtschaft, Korruption, Clans, arrangierte Ehen überwiegend verurteilen und Rechtssysteme oder Compliance-Regeln Verstöße ahnden, verlangt Moral des Stammesdenkens nicht-westlicher Kulturen gegenüber der Familie und Verwandtschaftsbeziehungen Loyalität und gegenseitige Unterstützung sowie gegenüber Fremden einen Vertrauensvorschuss an Fairness, der in westlichen Kulturen unüblich ist.
Henrich
nimmt an, dass sich westliche Kulturen mit allen positiven und
negativen Begleiterscheinungen aufgrund dieser Unterschiede gegenüber
Kulturen durchsetzen konnten, in denen Risiken prekärer
Lebenssituationen signifikant größer sind. Westliche Kulturen haben
dank höhere Produktivität vergleichsweise größeren Wohlstand sowie Schutzmechanismen gegen prekäre
Lebenssituationen entwickelt, die als Fortschritt empfunden werden und
zur Ausprägung von Ideologien des Fortschrittsdenken geführt haben. Ob
Menschen in westlichen Kulturen zufriedener oder glücklicher werden, ist
eine andere Frage.
Unstrittig ist, dass soziale Normen kulturell vermittelt werden. Erklärungsbedarf besteht jedoch bezüglich der Fragen:
- Warum konnten sich diese Unterschiede in der kulturellen Evolution ausprägen?
- Welche Bedingungen bewirken, dass sich westliche Kulturen in der Gegenwart gegenüber autokratischen Systemen zunehmend in der Defensive befinden?
- Welche
Sachverhalte bewirken, dass sich innerhalb westlicher Kulturen
reaktionäre populistische Bewegungen zunehmend ausbreiten?
Henrichs zentrale These greift Max Webers
Annahmen zur protestantischen Ethik als Motor des Kapitalismus auf (8),
er sieht aber die Entwicklung deutlich früher einsetzen und nimmt an,
dass die Ausbreitung christlicher Religion ab ca. dem Jahr 500 die
entscheidende Veränderung des Austauschs tribaler Schamkultur gegen
westliche Schuldkultur bewirkt. Normen christlicher Religion verdrängten
tribale Strukturen mit persönlichen Verpflichtungen in Clans und
Verwandtschaftssystemen zugunsten unpersönlicher
Prosozialität, mit der sich von Moraltheologie und Rechtssystemen
gerechtfertigte Schuldsysteme ausbreiten. Ab ca. dem Jahr 1000 sind in
Westeuropa Clans zugunsten von Kernfamilien aufgelöst. Kernfamilien verbinden sich in
Städten, Klöstern, Universitäten und entwickeln Individualität jenseits
von Clan- und Verwandtschaftsstrukturen.
Moraltheologie
und Rechtssysteme regulieren unpersönlichen Wettbewerb
zwischen Individuen und motivieren Individuen zu eigenen Leistungen. Als
eher zufällig wirksame Katalysatoren der Zerschlagung
verwandtschaftsbasierter Institutionen identifiziert Henrich Gebote der
Monogamie und der Neolokalität als Residenzregel von Kernfamilien sowie Heiratsregeln
mit Verbot der Vetternehe.(9) Indem die christliche Religion das Denken
von Europäern veränderte, verursacht sie unbeabsichtigt Aufklärung,
industrielle Revolution, Demokratie, Individualismus, ökonomisches und
rationales Denken und bewirkt als Konsequenz dieser Entwicklung ihre
Selbstzerstörung durch säkulares Denken.
Dass westliches Denken zunehmend in die Defensive gerät, Demokratien erodieren, weil Krisen als Regierungsversagen verstanden werden und Clanstrukturen in westlichen Kulturen wieder stärker werden, erklärt Henrichs in einem Interview als Folge unkontrollierbarer globaler Krisen. In kultureller Evolution entwickelte Strukturen können verdrängt oder überlagert werden, aber sie bleiben im kollektiven Bewusstsein erhalten. Unter dem Einfluss globaler Krisen suchen Menschen Schutz in kulturhistorisch bewährten überschaubaren und kontrollierbaren Clanstrukturen.(10)
5.3 Dekonstruktion der großen Erzählung vom Fortschritt
Globale Entwicklungen des letzten Jahrhunderts deformieren Narrative naiven Fortschrittsglaubens nachhaltig und entlarven sie als Mythen. Aus der langen Liste von Irritationen sind hier lediglich einige prägnante Beispiele genannt, mit denen sich Skepsis im kollektiven Bewusstsein ausbreitet:
- Zwei Weltkriege mit Faschismus, Holocaust, Atombombenabwürfe auf Japan,
- Koreakrieg, Vietnamkrieg, Rhodesienkrieg, Afghanistankrieg, Russland-Ukraine-Krieg und zahllose weitere Kolonialkriege, Genozide, Bürgerkriege,
- globale Abahme des Anteils nach demokratischen Regeln regierter Staaten und Zunahme des Anteils unkontrollierbarer autokratischer Regierungsformen,
- politischer und religiöser Terrorismus,
- Auslaugung, Überdüngung und Vergiftung land- und forstwirtschaftlicher Nutzflächen,
- Überfischung und Verschmutzung der Weltmeere,
- Abholzung von Regenwäldern,
- Abnahme der Biodiversität,
- eskalierende Luftverschmutzung und Klimakrisen,
- an keinem Ort der Welt können Menschen sich noch sicher fühlen,
- usw..
Obwohl sich das Versprechen der großen Erzählung vom Fortschritt
zumindest als Irrtum, vielleicht auch als Lüge erweist, gibt die
politisch und ökonomisch dominante Elite das Fortschrittsnarrativ aus
nachvollziehbaren Gründen des Eigennutzes nicht auf. Experten der
wissenschaftlichen Welt identifizieren Kriege unterschiedlicher Art sowie physische und symbolische Gewalt als ubiquitäre kulturelle Phänomene. Auf Fragen nach Ursachen und Zusammenhängen
kultureller Disruption und auf der Suche nach geeigneten Maßnahmen einer
globalen Befriedung finden sie jedoch weder plausible noch
praktikable Antworten. Allerdings ist zu beachten, dass Wissenschaften
von politischen und ökonomischen Interessen beeinflusst sind und
Verknüpfungen zwischen Interessenlagen der verschiedenen Sphären
überwiegend intransparent bleiben und schwer zu entschlüsseln sind.
Allmählich wird bewusst, dass die Aufteilung der Welt unter
europäischer Dominanz nicht als linearer kulturevolutionärer
Prozess erklärbar ist, sondern als eine Folge der Konzentration kontingenter
Bedingungskonstellationen zu verstehen ist, die mehr oder weniger zufällig europäischer
Kultur auf Kosten nicht-europäischer Kultur zur Dominanz verhalfen und weitere Entwicklungen anstoßen:
- Vertrauen von Menschen in Kompetenzen politischer, ökonomischer und wissenschaftlicher Leader erodiert.
- Mit Prozessen beschleunigter Globalisierung nimmt ohnehin nur unvollständige Kontrollierbarkeit von Makroprozessen ab.
- Als Ergebnis dieser Entwicklung geraten Fortschrittsnarrative in Krisen.
In Teilen der wissenschaftlichen Welt setzen tiefgreifende Veränderungen
des Denkens ein.(11) Avantgarde dieser Veränderungen bilden die Ethnologen Claude Lévi-Strauss und Clifford Geertz. In jüngerer Zeit erkennen der Kulturanthropologe David Graeber und der Prähistoriker David Wengrow Bedarf für eine "konzeptionelle Transformation" des vorherrschenden "großen Bildes"
der Geschichte, das entstanden sei, um bestehende Verhältnisse zu
rechtfertigen, aber den Fakten nicht standhalte und in weiten Teilen
falsch sei. Mit ihrer Veröffentlichung Anfänge
unternehmen Graeber/Wengrow den Versuch, die Diskussion kultureller Disruption zu
ordnen, Ursachen zu identifizieren, auf fehlerhafte Abzweigungen
aufmerksam zu machen und fatalistische Alternativlosigkeit aufzuweichen.(12) Im Rahmen dieses Posts ist Anfänge
nicht angemessen zu würdigen. Verwiesen sei auf eine Betrachtung an anderer Stelle.(13)
Nachfolgende Beispiele skizzieren lediglich exemplarische Veränderungen
wissenschaftlichen Denkens.
5.3.1 Grenzen des Wachstums
Das 1968 gegründete Expertengremium Club of Rome veröffentlichte 1972 die Studie Die Grenzen des Wachstums,
die eine nachhaltig wirksame Diskussion zur Lage der Menschheit und zur
Zukunft der Weltwirtschaft auslöste, zur Spaltung politischer Lager sowie zur Polarisierung zwischen fundamentalistischen Positionen von
Fortschrittsgegnern und Fortschrittsgläubigen beitrug und nicht zuletzt eine Rehabilitierung von zuvor aus Wissenschaften verbannten ethischen Fragestellungen bewirkte.
5.3.2 Struktur wissenschaftlicher Revolutionen
Der US-amerikanische Wissenschaftstheoretiker Thomas S. Kuhn präsentierte 1962 in seinem Hauptwerk The Structure of Scientific Revolutions das
theoretische Fundament für ein Verständnis von Fortschrittsdenken, das
mit periodischer Etablierung, Konkurrenz und Abfolge universeller
Erklärungsmodelle zu- und abnimmt. Kuhns Werk schlug in der wissenschaftlichen Welt wie eine Bombe ein.(14)
Gegen
herkömmliche Auffassungen wissenschaftlichen Fortschritts als Ergebnis
objektiver Qualitätsvergleiche wendet Kuhn ein, dass Erkenntnisse und
Fortschritte im Wissenschaftsbetrieb mittels sozialer Prozesse auf zwei
unterschiedlichen
Wegen zustande kommen, wobei Deutungshoheit über Relevanz und
Legitimität von
Wissenschaft sowie Ausrichtungen von Forschungsprogrammen und Verwendung
von
Forschungsmitteln von Machtverteilungen beeinflusst sind.(15) Die Abfolge
universeller Erklärungsmodelle erklärt Kuhn als einen sozial
determinierten kontingenten Prozess, der keine Annahmen der Annäherung
an transzendente Ziele gestattet. Eindrücke der Dynamik von Forschungsprozessen vermitteln einige verlinkte Artikel.(16)
5.3.2.1 Normalwissenschaft
Paradigmen bestehen in ihrem Kern aus Axiomen, d.h. grundlegende Aussagen bzw. Gesetzmäßigkeiten, die nicht aus anderen Aussagen abgeleitet sind und als wahr angenommen oder behauptet werden, ohne dass der Anspruch auf Wahrheit beweisbar ist. Aus dieser Sicht wird verständlich, wenn der Wissenschaftsphilosoph Paul Hoyningen-Huene anlässlich des 100. Geburtstages von Thomas S. Kuhn einen Artikel der FAZ mit der Aussage überschreibt "Die Normalwissenschaft weiß alle Antworten".(17)
Innerhalb
dominierender Lehrmeinungen und Wissenschaftsprogramme entfaltet sich
kontinuierlicher wissenschaftlicher Fortschritt per
sozialer Mechanismen der Professionalisierung. Als Stand des Wissens
geltende Paradigmen haben einen hohen Verbindlichkeitsgrad und sind
ähnlich wie Dogmen gegen Kritik von außen immun. Mit Paradigmen nicht
vereinbare
Erkenntnisse werden unterdrückt bzw. als Irrtümer oder Unsinn abgelehnt,
sofern sie Gehör finden.(18)
5.3.2.1 Paradigmenwechsel
Den von wissenschaftlichen Revolutionen ausgelösten Übergang zwischen Normalwissenschaften nennt Kuhn Paradigmenwechsel. Kuhns Erklärung des Paradigmenwechsels
löste kontroverse wissenschaftliche Diskussionen aus, die jedoch im
Kontext dieses Posts nicht relevant sind und nachfolgend referierte Erklärung Kuhns nicht
beschädigen.
Erst wenn Wissenschaftsprogramme aufgrund zunehmender Anomalien in Krisen geraten, gewinnen konkurrierende Programme Anhänger. Krisen von Paradigmen resultieren aus Krisen ihrer Axiome. Krisen von Axiomen entstehen, wenn Annahmen ihrer Wahrheit bzw. Gültigkeit aufgrund der Zunahme nicht erklärbarer Phänomene oder aufgrund von Widersprüchen neuer Erkenntnisse in Frage gestellt werden. Derartige Krisensituation leiten wissenschaftliche Revolutionen ein, die einen Austausch von Axiomen bewirken und als Paradigmenwechsel bezeichnet werden.
Paradigmenwechsel sind jedoch nicht allein mit formalen oder objektiven Qualitätskriterien von Wissenschaften erklärbar, sondern sie werden aufgrund sozialer Kriterien und Interessen verhindert oder auch beschleunigt. Paradigmenwechsel finden erst bei ausreichendem kritischem Verdrängungspotential statt. Verdrängungspotential resultiert aus der Bündelung von Interessen konkurrierender wissenschaftlicher Aufsteiger. Wenn die Bündelung von Community-Interessen eine kritisch Größe erreicht, verdrängen wissenschaftliche Aufsteiger die Vertreter bislang vorherrschende Lehrmeinungen und setzen neue Paradigmen durch, bis sie selbst von der nächsten wissenschaftlichen Revolution abgelöst werden.
5.3.3 Von Thomas S. Kuhn angestoßener Wandel des wissenschaftlichen Weltbildes
Kuhns Werk The Structure of Scientific Revolutions
gilt als Meilenstein der Wissenschaftsgeschichte, der nicht nur
Einfluss auf die Wissenschaftstheorie ausübte. Aus der
metatheoretischen Diskussion resultiert seit Kuhn eine Neuordnung
wissenschaftlicher Denkweisen, mit der sich Blicke auf das
wissenschaftliche Weltbild insgesamt nachhaltig verändert haben.
Wissenschaftler streiten die
Modellhaftigkeit ihrer Ansichten nicht länger ab, sondern räumen sie ein
und erklären Modellhaftigkeit wissenschaftlicher Annahmen
zum Prinzip wissenschaftlicher Theorien.
Seit Kuhn erweisen sich Aufteilungen zwischen vermeintlich
weichen Geisteswissenschaften und faktengesättigten exakten
Naturwissenschaften als sozial erzeugte hartnäckige Mythen, die der
Legitimierung politischer und wirtschaftlicher Ziele dienen. Beharren
auf diese nicht länger glaubwürdige Ansicht stellt kein Vertrauen in
Wissenschaft her, sondern zerstört es.(19)
- (Sozial-) Konstruktivismus
Wissenschaftliche Modelle werden als gedankliche Konstrukte aufgefasst, die in sozialen Prozessen zustande gekommene Annahmen über Zusammenhänge zwischen empirisch beobachteten Objekten einer wie auch immer gearteten Welt beschreiben. Da Modelle keine Beschreibungen objektiver Realität darstellen, haben sie immer nur vorläufigen Charakter. Unter konkurrierenden Modellen setzen sich in iterativen Endlosschleifen zeitweilig jene Modelle durch, die sich vorübergehend mit höherer Erklärungskraft bewähren. - Kulturrelativismus
Bekämpfte kulturrelativistische Positionen der Ethnologie, die zuvor Außenseiter in wissenschaftlichen Randdisziplinen vertraten, wurden mit der Neuordnung wissenschaftlicher Denkweisen in kurzer Zeit zu wissenschaftlichem Allgemeingut und bilden mittlerweile den Stand der Wissenschaft in Philosophie, Soziologie, Psychologie.(20) - Machtverlust wissenschaftlicher Narrative
In der Ethnologie identifizierten und analysierten Claude Lévi-Strauss und Clifford Geertz Kultur als Text bzw. Literatur (siehe 2.4.2 und 2.4.3). In ähnlicher Art und Weise betrachtete der US-amerikanische Historiker Hayden White Geschichtsschreibung, die er mit Kategorien der Literaturwissenschaft analysierte. In seinem Opus magnum Metahistory demontiert Hayden White den Historiker-Anspruch auf objektive Geschichtsschreibung als sinnstiftende Poesie, die zu Unrecht Übereinstimmung mit der Vergangenheit beansprucht.(21,22)
5.4 Kultureller Essentialismus oder Beliebigkeit?
Analysen und Deutungen
von Mustern ethnischer Diversität liegen in Domänen von
Kulturwissenschaften. Aus kulturvergleichender Forschung abgeleitete
Konstrukte kultureller Netze, Knoten und Prozesse sind unvermeidbar
perspektivisch verzerrt, weshalb Erklärungen nur eingeschränkt belastbar sind.
Kulturelle Modelle gelten als heuristische Hilfsmittel, die kritischen
Betrachtungen nicht standhalten. Definitorische Schwierigkeiten
verdeutlichen, dass der
Begriff Kultur keine kategoriale Bedeutung beanspruchen kann, sondern als ein konstruiertes Klassifikationsschema zu verstehen ist. In jüngerer Zeit hat sich in der Ethnologie die Auffassung durchgesetzt, dass abgrenzende Unterscheidungsmerkmale gedankliche
und sprachliche Konstrukte darstellen, die von Wertungen beeinflusst sind und Blicke auf Gemeinsamkeiten
und fließende Übergänge verstellen. Daher distanziert sich die Ethnologie inzwischen vom Begriff Kultur.(23,24)
Unbeabsichtigt beigetragen hat zu dieser Entwicklung methodischer
Kulturrelativismus der Ethnologie, den ursprünglich Franz Boas und Schüler im 20. Jahrhundert gegen vorherrschenden
Evolutionismus und Rassismus dominanter westlicher Kulturen in
Stellung brachten. Im 21. Jahrhundert mutierte jedoch methodischer
Kulturrelativismus zu
einem
doktrinären
Kulturrelativismus. Dieser immunisiert sich gegen jede Kritik von außen
mit Hinweisen auf einen essenziellen Werterelativismus, der Optionen
universaler Menschenrechte ausschließt. In aktueller globaler Politik
praktizieren China, Russland und einige islamische Staaten exemplarisch diesen
Werterelativismus. Intrakulturell berufen sich zahlreiche Minoritäten, Sekten, Subkulturen ebenfalls auf prinzipiellen
Werterelativismus.
Jenseits politischer Perspektiven sind evolutionäre Prozesse und unterscheidbare Merkmale von Personen und
Personengruppen so real wie kognitive Mechanismen der Bewältigung
von Komplexität. Bevor von Merlin Donald beschriebene Entwicklungen zu
höherer kognitiver Kompetenz einsetzten, haben sich in
der Evolution höherer Lebewesen exekutive Funktionen
kognitiver Kontrolle herausgebildet. Kognitive Wahrnehmungsfilter und
Mechanismen der Mustererkennung und Kategorisierung erzeugen
strukturierte Ordnungskonstrukte, die Orientierung in einer chaotischen Welt
ermöglichen.
Welchen Einfluss begriffliche Ordnungskonstrukte auf globale Ordnungen der materiellen Welt ausüben, ist eine hier nicht kompetent diskutierbare andere Frage. Universale Werte markieren keine politisch neutrale Zone. Wer die Anerkennung universaler Werte verweigert und sie als unerträgliche ethisch verkleidete Tarnung politisch nicht mehr durchsetzbarer ehemaliger imperialer und kolonialer Machtpolitik verklagt, sollte gangbare Wege aus globalen Sackgassen für die gesamte Menschheit aufzeigen können. Alternativen sind jedoch nicht zu erkennen.
5.5 Wahrnehmung, Denken, Kultur reloaded
Wahrnehmung
von Welt sowie implizite und explizite Bewertungen der Wahrnehmung von
Welt beruhen auf evolutionär herausgebildeten Fähigkeiten eines
biologischen kognitiven Apparates. Biologische mentale Funktionen des kognitiven Apparates entwickelten
sich über lange Zeiträume in Jahrmillionen. Kognitive
Apparate ermöglichen Verhalten und Überleben in chaotischen
Lebensumgebungen, indem sie Komplexität einer chaotischen Welt
reduzieren. Die Reduzierung von Komplexität gelingt mittels unbewusster
mechanischer Wahrnehmungsfilter von Sinnesorganen sowie mittels
intelligenter Wahrnehmungsfilter des kognitiven Apparates, die unbewusst
Muster bilden und Verhaltensoptionen erzeugen. Deutungsmuster entstehen
mittels vom kognitiven Apparat erzeugten Kategorien und begrifflichen
Ordnungen. Mentale und soziale Funktionen sind in
evolutionären Prozessen allmählich entstanden, aber sie unterscheiden
sich deutlich hinsichtlich ihrer Reproduktionsgeschwindigkeit. Unter sich verändernden Lebensbedingungen mutieren soziale Funktionen. Wenn sich Lebensbedingungen schnell verändern, mutieren
soziale Funktionen aufgrund kurzer Reproduktionszyklen
ebenfalls schnell und bilden in kurzer Zeit nicht nur veränderte Varianten, sondern sie erzeugen
durch Ausdifferenzierung neue Verhaltensmuster, die traditionelles Verhalten verdrängen oder als zusätzliche Verhaltensoptionen zur Verfügung stehen.
Soziales
Verhalten ist kein Privileg von Menschen. Höhere Arten verfügen über komplexe Lernfähigkeiten, die zu mehr oder weniger komplexen sozialen Funktionen befähigen, wie
Kommunikation,
Interaktion, Kooperation. Höhere Tierarten verfügen
ebenfalls über erlerntes soziales Verhalten. In Verbänden lebende
Tierarten zeigen Verhaltensweisen, die auf kollektiven Mustern beruhen
und als rudimentäre Kulturen gelten können. Die Spezies Mensch
benötigt für ihr Überleben jedoch soziale Funktionen höherer
Komplexität. Diese kommen mit Hilfe einvernehmlicher Verständnisse über
Sinnhaftigkeit zustande, die durch Symbole repräsentiert werden. Um
sinnhafte Verhaltensprinzipien zu entwickeln und diese zum Zweck der Erzeugung von Mustern und Verbindlichkeiten unterschiedlicher Grade mit Symbolen zu repräsentieren und zu kommunizieren,
sind Fähigkeiten abstrakten Denkens erforderlich, über die in dieser
Qualität keine höheren Tierarten verfügen. Symbolische Zeichensysteme schaffen
Rahmenbedingungen, die kollektives Verhalten ermöglichen und individuelles Handeln mit Verhaltenssicherheit ausstatten.
Menschliches
soziales Verhalten beruht auf kollektiven Verständnissen von Welt in
Form persistenter Modelle (Deutungsmuster), die Welt repräsentieren. Kollektive Verständnisse von Welt
erzeugen Welt repräsentierende persistente Modelle als Deutungsmuster
und ersetzen Dominanz von Face-to-Face-Beziehungen, deren Persistenz
kurzlebig ist, weil sie an der Anwesenheit dominanter Individuen
gebunden ist. Persistenz entsteht, wenn Kategorien und begriffliche
Ordnungen mit überindividueller Verbindlichkeit ausgestattet sind. Die
Kodifizierung von Verbindlichkeit gelingt mittels Symbolen, Normen,
Traditionen, Narrativen. Identifikation erfordert Abgrenzung. Sets persistenter Deutungsmuster bevorraten als
Kultur bezeichnete kollektive und individuelle Verhaltensrahmen und Verhaltensmuster. Kulturen erzeugen zugleich nach innen eingrenzende sowie nach außen abgrenzende Rahmen ihrer Gültigkeitsräume. Kulturelle Zeichensysteme unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich ihrer Semiotik, sondern zwangsläufig auch hinsichtlich der Semantik ihrer begrifflichen
Ordnungen, Wertsysteme, Symbole, Traditionen, Narrative sowie hinsichtlich deren Verbindlichkeitsgrade.
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- Anmerkungen dieses Kapitels basieren auf den Wikipedia-Artikeln:
- Siehe Post Vor- und Randbemerkungen zur Postreihe über Evolution von Kultur und Religion, Kapitel 2.1
- Fragen nach Voraussetzungen von Wissen sowie dessen Sicherheit und Grenzen sind in der sogenannten Achsenzeit vor ca. 2.500 Jahren aufgekommen und bilden seit dieser Zeit Hauptthemen in Meta-Diskursen der Philosophie. Auf die Achsenzeit geht Teil 2 dieser Reihe ein.
- Zitat aus Wikipedia Kategorisierung (Kognitionswissenschaft). Die allgemeine Auffassung
- Deutschlandfunk: Zwischen Fortschrittshoffnung und Skepsis
- Joseph Henrich: Die seltsamsten Menschen der Welt. Wie die Menschen reichlich sonderbar und besonders reich wurden. Berlin 2022 (Original: The WEIRDest People in the World: How the West Became Psychologically Peculiar and Particularly Prosperous. Farrar, Straus and Giroux, 2020)
- Rezensionen des Buchs:
- Günter Renz, Ethik und Anthroplogie: Joseph Heinrich
- Deutschlandfunk: Warum westliche Menschen "weird" sind
- WELT: Warum sich Westler keine Gesichter merken können
- FAZ: Die Menschen im Westen sind die Besten
- Günter Renz, Ethik und Anthroplogie: Joseph Heinrich
- Wikipedia: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus
- NZZ: Wie die katholische Kirche wider Willen den gesellschaftlichen Fortschritt des Westens beschleunigte
- NZZ: Anthropologe Joseph Henrich: «Es schadet dem Zusammenleben, wenn Männer mehrere Frauen haben dürfen»
- Probleme der Begriffe Fortschritt und Entwicklung als Konzepte der Analyse von Globalgeschichte erläutert der Historiker Daniel Speich Chassé in einem Beitrag von Docupedia-Zeitgeschichte: Fortschritt und Entwicklung
- David Graeber, David Wengrow, Anfänge: Eine neue Geschichte der
Menschheit, Stuttgart 2022 (Original: The Dawn of Everything. A New
History of Humanity, London, New York 2021)
- Siehe Post: Der Gang der Geschichte und ihre Anfänge - Anmerkungen zum Buch 'Anfänge' von David Graeber und David Wengrow
- Thomas S. Kuhn: The Structure of Scientific Revolutions
(International Encyclopedia of Unified Science. Band 2, Nr. 2).
University of Chicago Press, Chicago 1962. Deutsche Übersetzung: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 1967.
- Kuhn bemerkte, dass seine Gedanken bereits vom polnischen Philosophen Ludwik Fleck (1896-1961) formuliert waren und erwähnte Fleck im Vorwort des eigenen
Hauptwerks. Damit stieß Kuhn eine Rezeption Flecks an, die nach 1980
einsetzte. In der Gegenwart gilt Flecks Werk als Klassiker der
Wissenschaftsgeschichte, -soziologie und -theorie.
Vor Ludwik Fleck machte bereits Ignaz Semmelweis (1818-1865) als Chirurg die Erfahrung, dass seine lebensrettenden Erkenntnisse zu Hygienemaßnahmen von Kollegen als spekulativer Unfug abgelehnt wurden. Während Semmelweis Erkrankungen und Todesraten dank Hygiene signifikant reduzieren konnte, hielten viele Ärzte Sauberkeit für unnötig und wollten nicht wahrhaben, dass sie aufgrund mangelnder Hygiene Krankheiten mit hohen Todestaten verursachten. Kollegen feindeten Semmelweis an und bezeichneten ihn als Nestbeschmutzer. Der Sachverhalt, dass neue wissenschaftliche Entdeckungen von Vertretern verbreiteter Lehrmeinungen ohne Überprüfung erst einmal abgelehnt und Entdecker bekämpft werden, wird Semmelweis-Reflex genannt. - FAZ-Artikel zur Dynamik von Forschungsprozessen:
- Dietmar Dath: Erst raten, dann testen
- Ulf von Rauchhaupt: Krise der Physik: Verführte Physiker
- Ulf von Rauchhaupt: Man kann nicht immer wissen, was man gemessen hat
- Ulf von Rauchhaupt: Gleichungen sind einfach nicht alles
- Sibylle Anderl: FAZ: Quantenkosmologie: Wenn die Daten fehlen, bleibt die Metaphysik
- FAZ: Zum Tod von John Wheeler: Zwischen Schwarzen Löchern und der Atombombe
- Paul Hoyningen-Huene: 100 Jahre Thomas Kuhn. Die Normalwissenschaft weiß alle Antworten
- Ein Artikel der FAZ des Soziologen André Kieserling macht am Beispiel der Berufung von Nachwuchswissenschaftlern deutlich, wie Mechanismen wirksam werden: Spezialisten bevorzugt
- Artikelsammlung zu physikalischen Mythen (verlinkte FAZ-Artikel liegen teilweise hinter einer Bezahlschranke):
- Ulf von Rauchhaupt: Am Urknall: Chaos und Kosmos
- Ulf von Rauchhaupt: Frühphase: Der letzte Horizont
- Ulf von Rauchhaupt: Quantengravitation: Die letzte Theorie
- Wikipedia: Kosmogonie.Kosmogonischer Mythos
- Wikipedia: Weltformel
- Wikipedia: Quantengravitation
- Spektrum: Die 10 größten physikalischen Rätsel unserer Zeit
- Vorlesungsfolien einer Lehrveranstaltung an der LMU zu wissenschaftshistorischen und wissenschaftsphilosophische Grundlagen: Was ist wissenschaftlicher Fortschritt?
- Nachrufe auf Hayden White:
- Christine Gerwin: Postkoloniale Entwürfe einer dichtenden Klio
- Karl-Heinz Kohl: Ethnologie, a.a.O., S. 186ff.
- Wikipedia: Soziokulturelle Evolution
6 Änderungshistorie des Posts
18.08.2023: Vollständige Überarbeitung des Posts
17.08.2023: Änderung der Überschrift
25.05.2023: Kapitel 3.2.1: Anmerkung 7 ergänzt, Anmerkung 9 eingefügt, Änderungshistorie korrigiert
20.05.2023: Kapitel 3.2.1: neu eingefüg
18.02.2023: Kapitel 1: Sprachliche Ergänzungen
Kapitel 2.5: Überarbeitung mit Untergliederung
Anpassung Gliederungsstruktur
10.02.2023: Kapitel 3.3.1: Überarbeitung
Kapitel 3.3.2: Ergänzungen zum Paradigmenbegriff und Untergliederung des Kapitels
Kapitel 3.3.2: Ergänzungen zum Paradigmenbegriff und Untergliederung des Kapitels
08.02.2023: Überarbeitung der Einleitung
01.02.2023: Kapitel 3: Ergänzungen zum kategorialen Denken
27.01.2023: Kapitel 1.2.3: Ergänzung Pierre Bourdieu
24.01.2023: Anmerkung 12 in Kapitel 3 eingefügt
18.01.2023: Überarbeitung der Einleitung und Kapitel 1
Kapitel zur Gegensätzlichkeit von Natur und Kultur verschoben
Anpassung Gliederungsstruktur
Anpassung Gliederungsstruktur
Kapitel 3: Inhaltliche Überarbeitung mit Ergänzungen
Kapitel 3.3: Inhaltliche Ergänzungen und Anmerkung mit Fußnote 9 eingefügt
Kapitel 3.3: Inhaltliche Ergänzungen und Anmerkung mit Fußnote 9 eingefügt
Korrektur Fußnoten-Nummerierung
17.01.2023: Überarbeitung Kapitel 3.2, Korrektur Fußnoten
16.01.2023: Veröffentlichung der Version 2 auf Basis der Vorgängerversion 1
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