Freitag, 13. Januar 2023

3 Was ist Bewusstsein? - Evolution von Kultur und Religion (Update: 15.08.2023)

Dieser Post Was ist Bewusstsein? betrachtet in der Postreihe über kulturelle Evolution Kernfragen sozialer Evolution von Kultur und Religion. Einen Überblick über die Reihe und Anmerkungen zu basalen Perspektiven bieten 2 Posts: 
 
Der Post 1 Aufstellungen der Postreihe Beobachtungen, Theorien, Vermutungen zur Evolution von Kultur und Religion zeigt Übersichten aller veröffentlichten sowie vorgesehener, aber noch nicht veröffentlichter Post.
Der Post 2 Beobachtungen, Theorien, Vermutungen zur Evolution von Kultur und Religion - Anmerkungen zur Postreihe benennt aus persönlicher Sicht relevante kulturwissenschaftliche Perspektiven und das eigene Verständnis von Wissenschaft, Erkenntnis, Fortschritt sowie die Motivation zur Entstehung dieser Reihe.
 
Posts dieser Serie sind keine abgeschlossenen Betrachtungen, sondern ein sich entwickelndes Work in Progress. An Posts jeweils angefügte Veränderungshistorien informieren über Inhalte und Zeitpunkte von Änderungen. An Vielfalt und Unbestimmtheit der inhaltlichen Bedeutung von Bewusstsein, Kultur, Religion erinnert die kursive Schreibweise der Begriffe in den Posts.

 
Inhaltsübersicht
 
1       Was ist Bewusstsein?
1.1    Evolution kognitiver Kompetenz
1.1.1 Evolution zentraler Nervensysteme
1.1.2 Evolution von Bewusstsein
2       Evolution des menschlichen Gehirns
2.1    Wachstum tertiärer Areale und kognitiver Fähigkeiten in der Evolution des Gehirns
2.2    Soziabilität, kognitive Kapazität, Dunbar-Zahl 
2.3    Naturalismus (Physikalismus) vs. Konstruktivismus (Kulturalismus)
3       Unbewusste Anteile des Bewusstseins verstehen
3.1    Kategoriales Denken
3.1.1 Kategoriales Epochendenken 
3.1.2 Kategorien-Blindheit wissenschaftlicher Erklärungen
3.2    Kausalattribuierung
3.3    Somatische Marker 
3.4    Kognitive Dissonanzen
3.5    Soziales Lernen
3.5.1 Kollektive Deutungsmuster
3.5.2 Prozesse der Internalisierung 
3.6    Stereotype und Vorurteile
4       Bewusstsein verstehen
4.1    Leib-Seele-Problem 
4.2    Rätsel der Qualia
4.3    Problem der Intentionalität
4.4    Monistische Positionen
4.5    Libet-Experimente: Wie deterministisch ist menschliches Verhalten?
5       Anlage-Umwelt-Interaktion, metabolische Prozesse, neuronale Korrelate, mentale Zustände
5.1    Kognitive Kontrollprozesse der Verhaltenssteuerung: Exekutive Funktionen und intrinsische Belohnungen und
5.2    Exekutive Funktionen
5.2.1 Ambivalenzkonflikte und Delay Discounting
5.2.2 Selbstregulation und Selbstkontrolle
5.2.3 Resilienz und Vulnerabilität
5.3    Selbstmotivation und intrinsische Belohnungen
5.3.1 Glückshormone, Motivation, Hedonismus, Ethik 
5.3.2 Flow
5.4    Produktion von Bedürfnissen und von hedonistischem Glück  
6       Wolfgang Prinz und das Rätsel Bewusstsein
6.1    Wie gelangt Subjektivität in ein subjektloses Universum?
6.2    Bewusstsein definieren
6.3    Was müssen Erklärungen von Bewusstsein leisten?
6.4    Mechanismen der Entstehung des Ich
6.4.1 Duale (symbolische) Repräsentation
6.4.2 Personale Attribution 
6.5    Schlussfolgerungen des Erklärungsmodells
6.5.1 Politische Implikationen 
6.5.2 Psychologische Implikationen  
6.5.3 Soziale Implikationen  
7       Julian Jaynes' Theorie der Erfindung des Selbst
7.1    Mentales Modell der bikameraler Psyche
7.2    Annahmen der Entstehung bikameraler Psyche
7.3    Annahmen der Auflösung bikameraler Psyche
8       Merlin Donalds Theorie kognitiver Evolution
8.1    Theorie und Narrativ bei Merlin Donald 
9       Haben Tiere Bewusstsein
10     Revolution oder Evolution kognitiver Kompetenz?  
11     Änderungshistorie des Posts

 
1 Was ist Bewusstsein?
 
Der Begriff Bewusstsein adressiert ein schwer durchdringbares diffuses Themenfeld. Einige der renommiertesten Philosophen nehmen an, dass das harte Problem des Bewusstseins naturwissenschaftlich mit dem heutigen Stand von Wissenschaft noch nicht zu erklären (u.a. Thomas Nagel) oder grundsätzlich nicht lösbar ist (u.a. Colin McGinn) oder als Gegenstand objektiver Wissenschaft ein unbrauchbarer Begriff sei, weil es sich um einer leere Begriffshülse handle, die verlustlos abgeschafft werden könne (Qualiaeliminativismus) und daher als Problem nicht existiere (Daniel Dennett).(1)  
 
Hans-Dieter Mutschler teilt diesen Skeptizismus nicht. Er fasst die verschiedenen Ansätze der Erklärung von Bewusstsein als "komplementäre Wahrheiten" auf und kommt zu dem Ergebnis, "dass die verschiedenen Versuche, sich dem Bewusstsein zu nähern, alle etwas Wahres enthalten, ohne dass diese Teilwahrheiten sich zu einem kohärenten Gesamtbild integrieren lassen."(2)
 
Angesichts verschiedener Verwendungsweisen von bewusst und Bewusstsein in Alltagssprache und in Wissenschaften sowie des vollständigen Fehlens eines äquivalenten Konzeptes in vielen Sprachen hält der Philosoph Thomas Metzinger für fraglich, ob Bewusstsein als ein einheitliches Phänomen aufzufassen ist. Metzinger vertritt die Auffassung, dass das erlebte Ichgefühl eine Illusion des Gehirns ist, die dadurch zustande kommt, dass Menschen das vom Gehirn konstruierte Selbstmodell nicht als Modell erkennen, sondern sich selbst als ein einheitliches Selbst erfahren.(3)    
 
Robert Bellah (1927-2012) bekennt sich in seiner Evolutionsgeschichte von Religion, auf die ein separater Post dieser Reihe eingeht, zu Konzepten des Neuroanthropologen und kognitiven Neurowissenschaftlers Merlin Donald (*1939).(4) Donald vertritt in seinem Entwurf einer Theorie der Evolution von Bewusstsein eine mimetische Theorie der Sprachentstehung und beschreibt ein im deutschen Sprachraum selten diskutiertes Modell der Evolution.(4,5) Kerngedanken dieser Theorie referiert Kapitel 8 dieses Posts. 
 
Annäherungen an das von Bellah und Donald ausgebreitete weite Themenfeld erfordern ein Verständnis darüber, was Bewusstsein ist, warum es so schwierig ist, Bewusstsein zu erklären und weshalb unterschiedliche Verständnisse von Bewusstsein miteinander konkurrieren. Der Autor dieses Posts stellt sich dieser Aufgabe, obwohl er sich in aller Bescheidenheit der Unzulänglichkeit eigener Expertise völlig bewusst ist. Wenn Texte des Posts unbefriedigend ausfallen, ist das kein Grund für Scham, solange selbst kluge Köpfe der Philosophie des Geistes Bewusstsein als ein bisher weitgehend ungelöstes und darum hartes bzw. schwieriges Problem kontrovers diskutieren.(7)
 
Thomas Metzinger erklärt in einem Interview: "Wir haben keine konsistente Theorie darüber, was genau Bewusstsein ist."(8) In einem Essay über Spiritualität und intellektuelle Redlichkeit beantwort Thomas Metzinger die Frage "Was ist Bewusstsein?" mit zwei Aussagen: (Endnote 14, S. 36)
  • "Es ist genau das, wodurch man erkennt, dass man jetzt gerade denkt."
  • "Dabei geht es (...) nicht um eine bestimmte kognitive Fähigkeit, nicht bloß um eine Form des höherstufigen Denkens, eine durch Begriffe vermittelte Form der Metakognition, sondern um etwas wesentlich Subtileres, nämliche das „Achthaben auf die Veränderungen der Seele“ – eine Form von innerer Aufmerksamkeit, die uns dann auch unmittelbar mit der Welt verbindet."
Hans-Dieter Mutschler stellt sich in einem Essay der Frage: Was ist Bewusstsein? In dem Essay skizziert Mutzinger bezüglich der Erklärung von Bewusstsein 4 Hauptrichtungen, die sich wechselseitig kaum zur Kenntnis nehmen und kein Ganzes, sondern eher eine Collage bilden: 1) Naturalismus, 2) Phänomenologie, 3) Sprachphilosophie, 4) Bewusstseinsphilosophie. Hinsichtlich naturalistischer Ansätze identifiziert Mutschler zwei Fraktionen: (a) praktizierende Neurowissenschaftler, die konkret-experimentell arbeiten (u.a. Gerhard Roth), (b) mehr spekulativ-materialistisch eingestellte Philosophen (u.a. Thomas Metzinger). 
 
Nachfolgende Zitate sind Mutzingers Essay entnommen:
  • "‚Bewusstsein‘ ist eines der schwierigsten Themen überhaupt, weil es im Grunde unfassbar ist. Man nennt es auch gerne ‚durchsichtig‘. Das heißt, dass wir zwar mittels des Bewusstseins erkennen, nicht aber dieses selbst. Zudem ist Bewusstsein privat. Habe ich Zahnschmerzen, so habe ich Zahnschmerzen, und niemand kann wissen, wie es sich für mich anfühlt, Zahnschmerz zu haben. Man nennt das auch ‚qualitatives Erleben‘ oder kurz ‚Qualia‘. Zu unseren eigenen Bewusstseinszuständen haben wir einen privilegierten Zugang, der unkorrigierbar ist, das heißt, für solche Zustände ergibt die Differenz zwischen Wesen und Erscheinung keinen Sinn mehr."
  • "Es gibt keinen Ansatz, der das Rätsel des Bewusstseins einfach nur ‚lösen‘ würde, ohne gravierende Einwände auf sich zu ziehen." 
 
1.1    Evolution kognitiver Kompetenz
 
Wenn Bewusstsein als wissenschaftlicher Sachverhalt ernst genommen wird, sind die Entstehung von kognitiver Kompetenz und von Subjektivität in einem subjektlosen Universum erklärungsbedürftige Fragen. Da gültige Antworten auf diese Frage bisher nicht gefunden wurden, treffen Wissenschaften auf das harte bzw. schwierige Problem des Bewusstsein, dessen Begriff der australische Philosoph David Chalmers prägte. 
 
Chalmers entwickelte eine Klassifikation verschiedener Positionen in der Philosophie des Geistes und legt dar, weshalb  aus seiner Sicht weder Monismus noch Dualismus Gültigkeit beanspruchen können. Chalmers selbst vertritt die Position eines Eigenschaftsdualismus. Er lehnt beide Positionen ab und erklärt, dass sich Erlebnisgehalte von Menschen nicht aus physikalischen Eigenschaften ableiten lassen, weshalb die materialistische Positionen falsch sei. Stattdessen sei anzuerkennen, dass Personen zwar aus einer Substanz bestehen (Materie), dieser Monismus aber nicht nur physische, sondern auch nichtmaterielle Eigenschaften habe und beide Eigenschaften sich wechselseitig beeinflussen. Dass ein aus logischen Argumenten abgeleiteter Eigenschaftsdualismus verifizierbar ist, bezweifeln auch Vertreter dieser Positionen. Darin besteht das harte Problem des Bewusstsein.

Bezüglich der Evolution kognitiver Kompetenz bestehen immerhin gesicherte Erkenntnisse über die Zeitachse der Entstehung.
  • Gemäß Standardmodell der Kosmologie entstand das Universum mit dem Urknall und mit diesem Zeit, Raum und Materie. Den Urknall selbst und Fragen danach, ob das Universum singulär ist und was außerhalb des Universums liegt, vermögen Naturwissenschaften nicht zu beantworten. Lücken füllen Narrative kosmogonischer Mythen.(9)
  • Das Alter des Universums hat das Weltraumteleskop Planck präzise gemessen: 13,81 ± 0,04 Milliarden Jahre. Das Sonnensystem, zu dem die Erde gehört, entstand vor ca. 4,6 Milliarden Jahren. 
  • Vor ca. 4,1 Milliarden Jahren setzte auf der Erde die Evolution von Lebewesen ein. 
  • Vor ungefähr 800 Millionen Jahren spalteten sich nicht mehr sesshafte Zweiseitentiere (Bilateria) von den übrigen Tieren ab. Alle Bilateria verfügen über ein Zentralnervensystem. Das ZNS reguliert Stoffwechselprozesse des Organismus, integriert innere und äußere Reize und koordiniert dessen Bewegung. Diese Entwicklung hat wahrscheinlich mit der Aufgabe von Sesshaftigkeit und räumlicher Bewegung eingesetzt. In der Gegenwart gehören ca. 95 % aller vielzelligen Lebewesen, darunter alle höheren Arten, zur Bilateria, d.h. sie haben einen symmetrischen zweiseitigen Bauplan mit einer durch ein Vorder- und Hinterende verlaufenden Hauptachse in Körperlängsrichtung und bewegen sich meistens in Richtung der Vorderseite ihrer Hauptachse. 
  • Vor ca. 541 Millionen Jahren setzte in der sog. kambrischen Explosion über einen geologisch kleinen Zeitraum eine fast explosionsartige Entwicklung mehrzelliger Tiere mit neuen Körperbauplänen ein und bildete die Ausgangsbasis der Vielfalt komplexer Lebewesen. 
  • Älteste Funde menschenähnlicher Lebewesen werden mit ca. 2,5 Millionen Jahren datiert. 
  • Die ältesten Funde von Steinwerkzeugen werden der Oldowan-Kultur zugeordnet und in die Zeit von etwa 2,9 bis 1,5 Millionen Jahren vor heute datiert. Unsicher ist jedoch, ob die frühesten Werkzeugmacher zur Gattung Homo gehörten.
  • Die ältesten bekannten Funde anatomisch moderner Menschen sind ca. 315.000 Jahre alt.
  • Die Entstehung symbolischen Denkens und des Sprachursprungs fallen mangels empirischer Voraussetzungen in einen nicht datierbaren Zeitraum, der spekulativ um ca. 150.000 v. Chr. vermutet wird. 
  • Die ältesten bekannten Formen von Bestattungen mit Grabbeigaben werden auf ca. 120.000 v. Chr. datiert. Die ältesten bekannten Höhlenmalerien entstanden ca. 40.000 Jahre v. Chr.. Bestattungen und Höhlenmalereien dieser Zeit sind nach allgemeiner Auffassung als Artefakte mit symbolischen Bedeutungen aufzufassen. Das Alter der Artefakte ist mit zuverlässigen Methoden relativ genau datierbar. Funktionen und Botschaften der Symbole sind jedoch unklar. Spekulative Deutungen weisen in unterschiedliche Richtungen. Vermutungen über Religion im Paläolithikum (Altsteinzeit) werden strittig diskutiert.
Vermutungen über Religion im Paläolithikum (Altsteinzeit) werden strittig diskutiert. Thomas Metzinger vertritt die Auffassung:(10)
Religion entstand (...) historisch gesehen (...) zuerst aus Bestattungsriten, aus Grabbeigaben und dem Ahnenkult, das heißt aus systematischen Formen der Sterblichkeitsverleugnung – Coping-Strategien in Bezug auf die eigene Endlichkeit. Wenn man von adaptiven Wahnsystemen redet, spricht man indirekt natürlich auch von geistiger Gesundheit und Krankheit. Eine interessante neue Einsicht könnte also sein, dass die Evolution insbesondere auch auf der psychologischen und soziokulturellen Ebene allem Anschein nach erfolgreiche Formen von geistiger Krankheit hervorgebracht hat.

 
1.1.1 Evolution zentraler Nervensysteme
 
Die ersten Nervensysteme entstanden vermutlich vor 600 bis 700 Millionen Jahren mit nicht mehr sesshaften neuen Lebensformen, die auf der Suche nach Nahrung und Fortpflanzungspartnern ihre Umwelt durchstreiften. Komplexitätsanforderungen von Bewegung erfordern schnelle Informationsübertragungen, denen bis dahin entstandene neuronale Übertragungsmechanismen nicht gewachsen waren. Dieser Druck ließ spezialisierte Sinnesorgane und Nervenzellen entstehen. Wo Sinnesorgane sitzen, besteht Bedarf zur schnellen Verarbeitung und Weiterleitung von Informationen. In Nähe von Sinnesorganen konzentrieren sich Nervenzellen, aus denen sich mit zunehmender Komplexität evolutionär Gehirne als Kommandozentrale entwickelten, die mit dem Rest des Körpers über Nervensysteme kommuniziert.(11)
 
 
1.1.2 Evolution von Bewusstsein
 
Mit zunehmender Komplexität von Leben entwickelten sich evolutionär Fähigkeiten der Selbstwahrnehmung, des Denkens und der Deutung von Erlebnisinhalten, die der Begriff des Bewusstseins implizit umschreibt.(12,13) 
  • Die ältesten menschenähnlichen Lebewesen werden mit ca. 2,5 Millionen Jahren datiert. 
  • Die ältesten Funde anatomisch moderner Menschen sind ca. 315.000 Jahre alt.
  • Die Entstehung symbolischen Denkens und des Sprachursprungs fallen mangels empirischer Voraussetzungen in einen nicht datierbaren Zeitraum. 
  • Prozesse der evolutionären Entstehung von Bewusstsein sind wissenschaftlich ungeklärt. Ab wann Bewusstsein und Vernunft auftraten ist so wenig bekannt wie Auslöser und Ablauf dieser Entwicklung. Mehrere Theorien bieten spekulative Antworten.
  • Vor ca. 120.000 Jahren begannen Formen von Bestattungen mit Grabbeigaben. Zu dieser Zeit waren symbolisches Denken und Sprache bereits entwickelt. Ob diese Bestattungen auf religiöse Vorstellungen hinweisen, ist wissenschaftlich strittig.
Thomas Metzinger macht darauf aufmerksam, dass die Evolution kognitiver Kompetenz nicht nur zu immer intelligenteren Formen von Bewusstsein befähigt:(14)
"In der Evolution des Bewusstseins sind nämlich nicht einfach nur immer bessere Wahrnehmungen und immer bessere Formen von Denken und Intelligenz entstanden. Es sind auch nützliche falsche Überzeugungen, positive Illusionen und komplette Wahnsysteme aufgetaucht, die sich möglicherweise deshalb erhalten haben, weil sie letztendlich dazu geführt haben, dass der Fortpflanzungserfolg der betreffenden Wesen anstieg, dass sie also mehr Gene erfolgreich in die nächste Generation kopieren konnten."

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  1. Nachzulesen in mehreren Quellen:
  2. Hans-Dieter Mutschler: Was ist Bewusstsein?, Vierteljahresschrift Theologie und Philosophie, Jahrgang 92, Heft 1 2017, S. 1-37  
  3. Thomas Metzinger: Bewusstsein, In: Hans Jörg Sandkühler: Enzyklopädie der Philosophie. überarbeitete Fassung. Meiner, Hamburg 2009. 
  4. Robert Bellah: Der Ursprung der Religion. Vom Paläolithikum bis zur Achsenzeit. Freiburg 2021, Seite 23 (Original: Robert N. Bellah: Religion in Human Evolution. From the Paleolithic to the Axial Age. Cambridge Mass. 2011)
  5. Mimetische Theorien beziehen sich begrifflich auf Mimesis und erklären Lernprozesse als Aneignung durch Nachahmungen. Sie nehmen an, dass in der Frühphase menschlicher Evolution diese Lernprozesse ausschließlich symbolisch durch Gestik, Mimik, Körperhaltungen und Bewegungen vermittelt wurden. Gemäß mimetischer Theorie entstanden mit erweiterter Kapazität des Gehirns Sprache als Abstraktion von Mimik und Gestik sowie in einer weiteren Abstraktionsstufe Schriftsysteme als externe Wissensspeicher.
    Da bisher keine zuverlässigen Forschungsergebnisse vorliegen, unterscheiden sich theoretische Erklärungsansätze deutlich hinsichtlich der Art und des Zeitraums der Entstehung. - Quellen:
  6. Merlin Donald: Triumph des Bewusstseins. Die Evolution des menschlichen Geistes (2008 bei Klett-Cotta erschienen, aktuell vergriffen, aber antiquarisch verfügbar). 
(Original: A Mind So Rare: The evolution of human consciousness, Norton, 2001)
  7. Im neuzeitlichen Diskurs der Philosophie des Geistes über das Leib-Seele-Problem, das sich auf den als Rätsel von Qualia diskutierten subjektiven Inhalt mentaler Zustände bezieht (siehe Kapitel 4.1), identifiziert Thomas Metzinger neun verschiedene Modelle zur Lösung des Leib-Seele-Problems (Spiritualität und intellektuelle Redlichkeit, S. 23). Das harte bzw. schwierige Problem des Bewusstsein (siehe Kapitel 1.1) betrachten wissenschaftstheoretische Positionen aus drei grundlegenden Richtungen, die nicht in Übereinstimmung gebracht werden können:
    • Monistische Modelle nehmen in verschiedenen Varianten an, dass die gesamte Realität aus einem Stoff besteht. Populäre funktionalistische Theorien der Soziologie, Ethnologie und Psychologie beruhen auf physikalischem Monismus und nehmen an, dass geistige Phänomene unabhängig vom Material auf funktionale Mechanismen reduzierbar sind. Somit wären eine wie ein menschliches Gehirn denkende Maschine bzw. Künstliche Intelligenz prinzipiell möglich.
      Für monistische Annahmen spricht das allgemeine Verständnis von Wissenschaft, gemäß dem Naturgesetze für die gesamte Realität gelten und frei von Widersprüchen sind.
      Gegen monistische Annahmen spricht, dass bedeutende theoretische Modelle der Physik (Quantenmechanik und allgemeine Relativitätstheorie) und der Philosophie (Leib-Seele-Problem) bisher nicht widerspruchsfrei vereint werden können und darum vermutlich fehlerhaft sind.
      • Unter monistischen Modellen am weitesten verbreitet ist Physikalismus, der alle Phänomene von Welt auf Materie und physikalische Gesetzmäßigkeiten zurückführt und Bewusstsein zur reinen Illusion erklärt. Gegen Physikalismus spricht das harte bzw. schwierige Problem des Bewusstsein.
      • Den Mangel des radikalen Physikalismus behebt die in mehreren Varianten diskutierte Annahme eines Zwei-Aspekte-Monismus (Dual-Aspekt- oder Doppelaspekt-Monismus), der physikalische und phänomenologische Eigenschaften als extrinsische und intrinsische Eigenschaften von Materie versteht.
      • Panpsychismus ist eine radikale Variante dieser Erklärung, gemäß der alle Objekte geistige Eigenschaften besitzen und der intrinsische Aspekt von Objekten als Bewusstsein zu verstehen ist.
        Moderne Varianten des Panpsychismus betrachten als Möglichkeit, dass Bewusstsein den konkrete Stoff von Realität im Sinne einer fundamentalen Hardware bildet, die die Software physikalischer Theorien implementiert. Trotz der unplausibel und merkwürdig scheinenden Umkehrung des allgemeinen Verständnisses von Hardware und Software gewinnt die radikale Idee in der Gegenwart an Boden, weil Panpsychismus die härtesten Probleme der Naturwissenschaft und der Philosophie auf einen Schlag löst.
        (FAZ, Hedda Hassel Mørch: Rätselhaftes Bewusstsein: Wie kommt der Geist in die Natur?)
        Der US-amerikanische Neurowissenschaftler Christof Koch betrachtet das Modell der Integrierten Informationstheorie als wissenschaftliche Form des Panpsychismus.
    • Dualismus postuliert physische Materie und mentalen Geist als sich ausschließende materielle und immaterielle Entitäten. Gegen Dualismus spricht das allgemeine Verständnis von Wissenschaft.
    • Pluralistische Erklärungen nehmen an, dass neben physischen Phänomenen (Objekte, Eigenschaften, Ereignisse) nichtphysische Entitäten mit jeweils spezifischen Eigenschaften existieren (Bewusstsein, Zahlen, Normen, Symbole etc.).
      Pluralistische Erklärungen korrespondieren mit Konzepten starker Emergenz, gemäß der sich Eigenschaften eines Systems nicht vollständig aus Eigenschaften seiner Komponenten erklären lassen.
      Evolutionäre Innovationen werden als Entwicklungssprünge der Komplexität lebender Systeme aufgefasst, durch die neue emergente Phänotypen entstehen. Erklärt werden Innovationen mit rekursiven Prozessen der Autopoiesis, d.h. der Fähigkeit lebender Systeme zur emergenten Selbstorganisation (Selbsterschaffung und Selbsterhaltung).
      Humberto Maturana und Francisco Varela beschreiben in ihrem Werk Der Baum der Erkenntnis, wie auf Basis dieser Konzepte die Evolution von Leben spekulativ erklärbar ist.
    In Kognitionswissenschaften waren und sind Annahmen vom Computermodell des Gehirns verbreitet, gemäß der das Gehirn als informationsverarbeitendes System wie ein Computer operiere und Gehirn und Geist analog Hardware und Software aufzufassen seien. Geist galt als abbildungsähnliche mentale Repräsentation von Umweltinformationen. Mit dem Wissenszuwachs von Neurowissenschaften wurde deutlich, dass mentale Prozesse des Gehirns nicht als symbolische Repräsentation von Objekten der Welt zu verstehen und im Gehirn gespeicherte Informationen nicht binär codiert sind. Dynamische Modelle neuronaler Netze haben das Computermodell verdrängt. Die Suche nach neuronalen Korrelaten bewussten Erlebens hat begonnen und befindet sich in einem noch sehr frühen Stadium.
    Ob der neuronale Code zu knacken ist und sich Erklärungslücken zwischen bewusstem Erleben und biologischen Prozessen schließen lassen, ist unsicher. Vertreter der Integrierten Informationstheorie (Giulio Tononi, Christof Koch) sind sich sicher, "dass keine noch so ausgereifte Computersimulation eines menschlichen Gehirns Bewusstsein erlangen kann – selbst, wenn sich ihre Antworten nicht von denen eines Menschen unterscheiden lassen" (Spektrum, Christof Koch: Was ist Bewusstsein?). Aussichten auf Validität einer Integrierten Informationstheorie sind eher unsicher. Gewisser ist dagegen die Erwartung, dass die Entschlüsselung des neuronalen Codes nicht frei von Missbrauch bleiben würde.
  8. hpd: "Wir haben keine konsistente Theorie darüber, was genau Bewusstsein ist."
  9. Artikelsammlung zu physikalischen Mythen (verlinkte FAZ-Artikel liegen teilweise hinter einer Bezahlschranke):
  10. Thomas Metzinger: Spiritualität und intellektuelle Redlichkeit (PDF, S. 21f.) 
  11. Die beiden Posts
    beschreiben mit Quellenangaben Wissen und Annahmen über die Evolution von Leben und Bewusstsein.  
  12. Quellen zum Themenfeld Bewusstsein:
  13. Deutschlandfunk: Bewusstsein: Das Geheimnis hinter der Intelligenz 
  14. Thomas Metzinger: Spiritualität und intellektuelle Redlichkeit (PDF, S. 19)


2 Evolution des menschlichen Gehirns(1)

Wissenschaftliche Erklärungen der Evolution des Gehirns (Zerebralisation), sowie des menschlichen Gehirns, seiner Anatomie (Gehirn), seiner Struktur der Großhirnrinde sowie der funktionalen Kartierung von Hirnfunktionen sind strukturell breit akzeptiert. Für die im Prozess der Hominisation im Vergleich zum Körpervolumen überproportionale Zunahme des Hirnvolumens kursieren verschiedene Szenarien:
"Die meisten Autoren nehmen drastische Umweltveränderungen, z.B. Versteppung, und entsprechend notwendig gewordene Anpassungen der Hominiden an, z.B. das Leben in der Savanne und die damit verbundene Notwendigkeit, in Gruppen zu jagen und in diesem Kontext bestimmte Sozial- und Kommunikationsformen auszubilden. Da sich aber im Zeitraum von 4 Mio. Jahren in Afrika, Europa und Asien die Umweltbedingungen viele Male drastisch veränderten, die Gehirngröße unserer Vorfahren aber gleichzeitig über lange Zeiträume mehr oder weniger konstant blieb, sind Zweifel an einem direkten Zusammenhang zwischen Umweltbedingungen und Gehirnevolution angebracht. Viele für den Menschen als typisch angesehenen Merkmale wie aufrechter Gang und Werkzeuggebrauch bildeten sich weit vor einer signifikanten Vergrößerung des Gehirns über das Menschenaffenniveau aus."(2)
 
 
2.1 Wachstum tertiärer Areale und kognitiver Fähigkeiten in der Evolution des Gehirns(3)

Die modellhafte Kartographie des Gehirns lokalisiert im Cortex (Großhirnrinde) funktional unterscheidbare primäre, sekundäre und tertiäre Zentren oder Areale:
  • Primäre Zentren sind der sensorische Cortex der Sinneswahrnehmung und der motorische Cortex der Bewegungssteuerung, die Schnittstellen zur Außenwelt und zur eigenen Körperwahrnehmung bilden und die Ausführung von Exekutivfunktionen kontrollieren.
  • Sekundäre Zentren sind nicht direkt mit der Außen- oder Innenwelt verbunden, sondern empfangen Signale aus primären Zentren. Sekundäre Zentren integrieren Informationen aus primären Zentren. Sie speichern per Lernprozess erworbene Muster und ermöglichen die Anwendung von Mustern. Evolutionär hat sich die Gewichtung verteilter Cortex-Areale bei Menschenaffen in Richtung sekundärer Zentren verschoben und korrespondiert mit zunehmender Abstraktion von Wahrnehmung und Differenzierung von Bewegungsabläufen.
  • Tertiäre Zentren verarbeiten Ergebnisse sekundärer Zentren, stellen Verschaltungen zu weiteren Arealen des Gehirns her und integrieren deren Leistungen mittels Abstraktion zu einem Gesamtbild. Bei Menschen sind tertiäre Zentren im Vergleich zu Menschenaffen deutlich vergrößert und bilden die größten Strukturen des menschlichen Gehirns. Merlin Donald beschreibt tertiäre Zentren als Areale, die zu erweiterten menschlichen Exekutivfunktionen des Gehirns und zur Erzeugung abstrakter mentaler Modelle befähigen. Das Metamodell aller Modelle versteht Donald als oberste kognitive Hierarchie, die die eigene Person repräsentiert sowie die Ich-Mitte der Wahrnehmung und das eigene Körperbild erzeugt.
Zunehmende Leistungsfähigkeit des Gehirns korreliert mit einer Evolution des Denkens. Die Evolution des Denkens verdeutlicht ein mehrstufiges Modell von Intentionalität im Sinne von selbstregulierter kognitiver Art und Weise des Umgangs mit Anforderungen. Dieses Modell unterscheidet 
  • individuelle Intentionalität, zu der Menschenaffen fähig sind,
  • von geteilter Intentionalität bei Menschen, die sich in 2 Arten ausprägt:
    • Gemeinsame Intentionalität bildet bereits bei Frühmenschen die Basis für Sozialverhalten.
    • Kollektive Intentionalität bezieht sich auf die Weitergabe von Wissen und Fertigkeiten über Generationen hinweg und setzt die Entwicklung von Sprache und Symbolen voraus.
Mit intentionalem Verhalten, das sich auf Motive des Verhaltens bezieht, hat sich zugleich die als Mentalisierung bezeichnete Art des Denkens im Sinne der Fähigkeit entwickelt, mentale Zustände in sich selbst wahrzunehmen und zu verstehen oder zu vermuten, was und wie andere Menschen denken sowie die Fähigkeit, diese Denkweisen in Beziehung zu setzen, um daraus eigenes Verhalten abzuleiten. Als Mentalisierung bezeichnete Fähigkeiten des Denkens konkretisieren sich als Bewusstsein. Unverstanden ist jedoch bisher, wie Erlebnisse von Gedächtnis und Bewusstsein zustande kommen und in Sprache übersetzt werden.
 
Die Theorie des sozialen Gehirns nimmt an, dass soziale Umgebungen und Gruppengrößen Einfluss haben auf die Evolution von Volumen, Strukturen, Funktionen des Gehirns sowie auf die Art des Denkens. Demnach verstärkten Bevölkerungswachstum und Klimabedingungen in den letzten 2 Millionen Jahren den Selektionsdruck und führten zum Zwang zunehmender Gruppengrößen mit evolutionären Vorteilen, wodurch größere Gehirne mit komplexerem Denkvermögen selektiert wurden.(4) 
 
 
2.2 Soziabilität, kognitive Kapazität, Dunbar-Zahl
 
Soziabilität bezeichnet die Fähigkeit von Individuen, sich in soziale Gemeinschaften einfügen und kooperieren zu können. Der Psychologe Robin Dunbar nahm an, dass diese Fähigkeit nicht ausschließlich kulturell via Sozialisation vermittelt wird, sondern mit der kognitiven Kapazität von Lebewesen variiert. Dunbar unternahm Untersuchungen über Zusammenhänge zwischen dem Gehirnaufbau von Säugetieren und der Gruppengröße, in denen Arten jeweils leben. Aufgrund von Vergleichen mit Social Grooming bei Primaten nahm Dunbar an, dass kognitive Sozialfähigkeiten eine Funktion des Neocortex sind und aus dem Volumen der Hirnregion abgeleitet werden können. In einer 1992 veröffentlichten Studie erklärte Dunbar die Zahl 150 als theoretische kognitive Grenze der Anzahl von Menschen, in der Individuen enge soziale Beziehungen unterhalten können.
 
Per Saldo sind Zusammenhänge zwischen kognitiven Fähigkeiten und Soziabilität gewiss. Gruppengrößen indigener Ethnien scheinen Dunbars Theorie zu bestätigen. Das Muster dieser Zahl ging als vielfach reproduzierte Dunbar-Zahl in wissenschaftliche und populäre Literatur ein. U.a. bezieht sich das populärwissenschaftliche Magazin Quarks in einem Artikel auf dieses Muster, lässt aber nicht unerwähnt, dass neuere Studien auf höhere Zahlen kommen.(5) 
 
Die Dunbar-Zahl ist ein aus empirischen Beobachtungen abgeleitetes Konstrukt, das möglicherweise Richtwerte für Grenzen optimal funktionierender Gruppengrößen angibt. So einfach wie gedacht, verhält sich jedoch die Realität nicht. Bei Überprüfungen zeigte sich, dass die Dunbar-Zahl auf fehlerhaften Annahmen, Vereinfachungen und statistischen Artefakten beruht. Grenzen von Gruppengrößen sind nicht scharf und als Indikator (für was auch immer) ist jede Dunbar-Zahl fragwürdig.(6) Soziabilität ist keine durch einen konstanten Einzelfaktor kausal erklärbare Variable, sondern eine in linearen Skalen nicht messbare, multifaktoriell zusammengesetzte Variable. Orchestrierungen von Einflussgrößen variieren stück- und fallweise. 

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  1. Soweit nicht anders angemerkt, basiert Kapitel 3 auf folgenden Quellen:
  2. Lexikon der Neurowissenschaften, Gerhard Roth: Evolution der Nerensysteme und Gehirne
  3. Quellen Kapitel 3.1
  4. Spektrum: Hirngröße und menschliche Evolution  
  5. Quarks: Darum haben nicht alle Menschen in deinem Leben Platz
  6. Darstellungen und Diskussionen der Dunbar-Zahl:


3 Unbewusste Anteile des Bewusstseins verstehen
 
Bewusste mentale Prozesse der Wahrnehmung, des Erlebens und des Nachdenkens enthalten Anteile, die der Selbstwahrnehmung verborgen bleiben.(1) Für das Alltagsdenken haben Bedeutung und Stärke von Einflüssen unbewusster Prozesse auf Prozesse bewussten Erlebens keine bzw. nur geringe Relevanz, aber sie werden unterschätzt und übersehen. Erst mit Hilfe von Wissenschaften werden unbewusste Prozesse aufgrund ihrer Wirkung erkannt, sie bleiben aber ähnlich wie Elektrizität unsichtbar. Trotz Unsichtbarkeit sind Wirkungen und Einflüsse unbewusster Prozesse bedeutend und im Kontext von Kultur und Religion von besonders hoher Relevanz, weshalb sie nicht ignoriert werden dürfen. Allerdings können sie im Rahmen dieses Posts lediglich in Ausschnitten skizziert werden. 
 
Zusammenhänge zwischen bewussten und unbewussten Erlebnisanteilen kennt jeder von uns aus Erfahrungen in Lernprozessen. Das Erlernen neuer Bewegungsmuster, Sprachen, Musikinstrumente, fachlichem Wissen bzw. generell neuer Fähigkeiten erfolgt bewusst und ist mit Anstrengung verbunden. Mit Erlernen von Abläufen, Zusammenhängen, Bedeutungen etc. werden neu erworbene Fähigkeiten als kognitive Muster auf bisher nur unvollständig verstandene Art und Weise im Gehirn gespeichert und bei Bedarf willkürlich ohne große Mühe oder längere Überlegung als Automatismen abgerufen. 
 
Beispielsweise entstehen Bewegungen durch elementar einfaches Strecken und Zusammenziehen von Muskeln im  Zusammenspiel willkürlicher Aktionen und unwillkürlicher Kontraktionsmechanismen. An komplexen Bewegungsabläufen wie Gehen, Laufen, Schwimmen, Radfahren etc. sind eine Vielzahl unterschiedlicher Muskeln beteiligt, deren Koordination komplex ist und darum erlernt werden muss. Motorisches Lernen verändert kognitive Strukturen im Motorcortex der Großhirnrinde.  (Auf Details des motorischen Lernens wird hier verzichtet.) Wenn der Bewegungsablauf erlernt ist, wird er intuitiv praktiziert und erfordert bei der Ausübung kein Nachdenken.(2) Im Gegenteil können sogar durch Nachdenken über Details einer Bewegung Störungen im Ablauf auftreten.

Neben individuell bewusst erlernten Fähigkeiten verfügen Lebewesen über artspezifisch evolutionär erworbene und genetisch codierte Fähigkeiten. Einige individuell zu erlernende Fähigkeiten sind Erweiterungen genetisch codierter Fähigkeiten. Hierzu zwei Beispiele:

  • Zahlreiche Lebewesen verfügen über numerische Kompetenz, die in gewissen Grenzen intuitives Abschätzen von Mengen oder auch einfaches Zählen ermöglicht, ohne dass diese Fähigkeit individuell erlernt werden muss. Rechnen muss dagegen individuell erlernt werden und ist höherer kognitiver Kompetenz vorbehalten, die Bewusstsein voraussetzt.(3,4) 
  • Unstrittig ist, dass Sprachfähigkeit auf evolutionär erworbenen biologischen Strukturen beruht. Ob Spracherwerb und Sprachverwendung auf einer genetisch codierten Universalgrammtik beruhen und Annahmen einer generativen Transformationsgrammtik gerechtfertigt sind, wird jedoch seit den 1950er Jahren in der Linguistik kontrovers diskutiert.  
Vertiefungen dieser spannenden Themen würde den Rahmen des Posts sprengen und sind an anderer Stelle beschrieben.(5) Dieses Kapitel beschränkt sich mit Blick auf Kontexte dieser Postserie auf eine Auswahl genetisch codierter unbewusster Fähigkeiten, die für die Themenfelder Kultur und Religion relevant sind.
 
 
3.1 Kategoriales Denken
 
Das Prinzip der Zweiseitigkeit scheint sich über den biologischen Bauplan hinaus (siehe Kapitel 1.1) in kognitiven Strukturen fortzusetzen. Von Sinnesorganen wahrgenommene Phänomene verarbeitet der kognitive Apparat oftmals mit binären Denkmustern. Kategoriales Denken von Menschen bevorzugt ebenfalls wertende Zweiseitigkeit und ordnet Dinge und Begriffe in bilateralen Gegensätzen (schwarz – weiß, innen – außen, oben – unten, essbar – nicht essbar, gefährlich - ungefährlich etc.). Ohne den Tag gäbe es keine Nacht, ohne Feinde keine Freunde, ohne Fremdheit keine Vertrautheit, ohne Unwissen kein Wissen, ohne Lüge keine Wahrheit, ohne das Böse nicht das Gute.
 
Bedingungen unvollständiger Informationen einer komplexen Umwelt erfordern schnelle Entscheidungen. Intuitive Entscheidungsheuristiken (‚Bauchgefühle‘) befähigen zu effizienten und überwiegend erfolgreichen Entscheidungen. Mittels vom kognitiven Apparat erzeugten Kategorien und begrifflichen Ordnungen entstehen Deutungsmuster von Kategorien und begriffliche Ordnungen als Fundamente sozialen Verhaltens. Kategoriales Denken ist in der Interaktion mit Umwelt ein überwiegend unbewusster elementarer Vorgang von Entscheidungsprozessen der Deutung, Bewertung und Sortierung wahrgenommener Sinneseindrücke.
 
Vom kognitiven Apparat erzeugte binäre Denkmuster vereinfachen wahrgenommene Phänomene und sortieren sie dualistisch. Trotz kognitiver Verzerrungen haben sich diese Denkmuster evolutionär bewährt.(6) Bilaterale Einordnungen wahrgenommener Objekte ermöglichten erfolgreiches Verhalten. Wie real diese Vorstellungen des Alltagsdenkens tatsächlich sind und ob sie logischen Überprüfungen standhalten, zeigen erst wissenschaftliche Betrachtungen. Bei kritischer Betrachtung zeigt sich oftmals, dass Vereinfachungen kategorialen Denkens fehlerhaft sind oder in die Irre führen können, weil sie 
  • Extremwerte betrachten und Abstufungen zwischen ihnen eliminieren,
  • Abgrenzungen bzw. Eingrenzungen vornehmen, obwohl Übergänge tatsächlich fließend sind,
  • Vernetzungen und Interdependenzen zwischen Phänomenen nicht erfassen,
  • vermeintliche Eindeutigkeit herstellen, die tatsächlich nicht besteht.
 
3.1.1 Kategoriales Epochendenken 
 
Kategoriales Denken umfasst über Objekte hinaus auch gedankliche Konstrukte unterschiedlicher Art. Objekte und gedankliche Konstrukte, die sich über Zeit via mutierender vererbbarer Merkmale verändern, werden als Zeitreihen evolutionärer Prozesse aufgefasst. Um Veränderungen über lange Zeitreihen analytisch erfassen zu können, werden lange Zeitreihen evolutionärer Prozessketten üblicherweise in markante Abschnitte untergliedert, die als Epochen bezeichnet werden. 
 
Epochen bezeichnen keine objektiven Sachverhalte. Jede Art von Ordnung beruht auf gedanklichen Konstrukten von Ordnungsprinzipien aus Sicht von Perspektiven, die ebenfalls keine Objektivität beanspruchen können, weil sie auf subjektiven Ansichten bzw. auf Konsens einer wissenschaftlichen Community über gemeinsame subjektive Ansichten zu vermeintlich relevanten Ordnungsprinzipien beruhen. 
 
In Anlehnung an biologische Entwicklungsprozesse haben mehrere wissenschaftliche Disziplinen Gliederungen dieser Art für Gegenstandsfelder entwickelt, deren Veränderungsprozesse als evolutionäre Abfolgen temporärer Phänomene verstanden werden. Neben Kulturwissenschaften (Geschichte, Politik, Kunst, Architektur, Literatur) stellen auch Sprachwissenschaften, Geologie und Kosmologie Zeitreihen evolutionärer Prozesse als Epochen dar. 
 
Epochenkonstrukte langfristiger evolutionärer Prozesse umfassen Ketten zeitlich abgrenzbarer Zeiträume, die aufgrund als prägend geltender Merkmale als Zusammenhänge verstanden werden (Zeitalter), die in Summe eine strukturierte Abfolge unterscheidbarer Abschnitte einer Zeitreihe darstellen. Wie Epochen skaliert werden, welche Merkmale als konstituierend für Epochenabschnitte gelten, welche Ursachen Epochenumbrüche auslösen und wie zeitliche Abfolgen einzuordnen sind, beschäftigt wissenschaftliche Diskurse. Über Ordnungen wissenschaftlicher Gegenstandsbereiche, Identifizierungen ihrer Strukturen und Prozesse, Treiber ihrer Veränderungen sowie Bewertungen ihrer Relevanz bestehen oftmals unterschiedliche Auffassungen. 
 
Übereinstimmung besteht hinsichtlich der Ansicht, dass Periodisierungen von Zeitreihen ein unentbehrliches Hilfsmittel sind, um Prozesse und Strukturen zu verstehen. Wie weit diskutierte Ordnungen der Realität entsprechen, ist eine Frage wissenschaftlicher Diskurse der Philosophie, denen dieser Post nur andeutungsweise nachgeht. Im gegenwärtigen Verständnis von Wissenschaften besteht ebenfalls Übereinstimmung hinsichtlich der Auffassung, dass jedes Verständnis von Welt auf Annahmen aus Sicht bestimmter Perspektiven beruht und daher kommunikative Prozesse des wissenschaftlichen Diskurses keine Entscheidungen über objektive Realität treffen, sondern lediglich wissenschaftliche Aussagen vergleichend auf ihre Belastbarkeit überprüfen. 
 
Methoden der Kategorisierung von Objekten und der Gliederung von Zeitreihen sind jedoch nicht als bewusste Techniken in Domänen von Wissenschaft misszuverstehen. Wissenschaften thematisieren sie lediglich. Originär handelt es sich um evolutionär erworbene Strukturen von Denkprozessen, die unwillkürlich angewendet werden, aber durch kognitiv kontrollierte Denkprozesse modifizierbar sind. Im Alltagsdenken sind diese Denkmuster als unbewusste Stereotype allgegenwärtig (siehe Kapitel 3.6). Genetisch codierte Denkmuster haben sich als nützliche kognitive Strategien evolutionär entwickelt, weil sie in komplexen Situationen schnelle Entscheidungen und vermeintlich angemessenes Verhalten ermöglichen.
 
 
3.1.2 Kategorien-Blindheit wissenschaftlicher Erklärungen
 
Neurowissenschaften und Psychologie nehmen an, dass Menschen nur begrenzt rational entscheiden und Entscheidungen eher von Emotionen beeinflusst sind. Handlungsmodelle der Wirtschaftswissenschaft (Homo oeconomicus) und teilweise auch der Mikrosoziologie (RREEMM) basieren auf Theorien der rationalen Entscheidung, die Entscheidungen von Akteuren mit Erwartungen der Nutzenmaximierung bzw. Kostenminimierung erklärt. Nutzen ist kein Synonym für Emotionen. Emotion ist keine ökonomische oder soziologische Kategorie. Individuelle Befindlichkeiten, Emotionen, Kognitionen, organischer Stoffwechsel und Hirnaktivitäten liegen außerhalb des Gegenstandsbereichs von Ökonomie und Soziologie.(7)
 
Soziologie (insbesondere Makrosoziologie) macht soziale Tatbestände und Sozialstrukturen sowie die ihnen zugrunde liegenden sozialen Wertvorstellungen und Normen zum Untersuchungsgegenstand. Soziologische Gegenstände dieser Art existieren unabhängig vom Einzelnen. Sie werden unbewusst wahrgenommen und üben trotzdem Einfluss auf Verhalten aus. 
 
Bedingungen soziologischer Verhaltenserklärung liegen außerhalb des Horizonts wissenschaftlicher Disziplinen der Biologie, Physiologie, Neurowissenschaften, Psychologie, Informatik. Kognitionen umfassen, was Individuen über sich selbst, andere Menschen und ihre Umwelt wissen und denken. Kognitionen sind individuelle Konstrukte, mit denen Menschen die Welt erkennen und erklären. Jeder Wahrnehmungsvorgang hat einen kognitiven und einen emotionalen Anteil. Kognitionen und Stimmungslagen bzw. Emotionen beeinflussen sich wechselseitig und enthalten Anteile nicht bewusster Wahrnehmung. Selbst wenn wir über soziale Strukturen informiert wären, bleiben sie unsichtbar und hinterlassen dennoch Spuren in Kognitionen, beeinflussen unbewusst Wahrnehmung, filtern Informationsverarbeitung und bilden Randbedingungen für Entscheidungen und Verhalten.
 
 
3.2 Kausalattribuierung
 
Das kognitive Muster der Kausalattribuierung weist wahrgenommenen Ereignissen Bedeutung zu, indem es Ereignisse mit angenommenen Ursachen verknüpft. Kausalattribuierung ist ein angeborenes Denkmuster der Erzeugung von Wissen. Verknüpfungen von Ereignissen und Ursachen finden unbewusst und selbst dann statt, wenn Auslöser von Ereignissen unsicher oder unbekannt sind. Für Muster der Kausalattribuierung ist typisch, dass Personen im Fall positiv gewerteter Ereignisse Ursachen des Erfolges bei sich selbst sehen, aber Ursachen für negativ gewertete Ereignisse und Erklärungen für Ursachen von Misserfolgen bei anderen Personen oder externen Faktoren suchen. 
 
Im Unterschied zu kontrollierten rationalen Denkprozessen sind Urteilsheuristiken und Kausalattribuierung automatisch ablaufende unbewusste  Denkprozesse, die intuitiv schnelle Entscheidungen ermöglichen. Typisch ist für Denkmuster die Reduzierung komplexer systemisch vernetzter Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge auf wenige lineare Kausalfaktoren als vermeintliche Verursacher von Ereignissen. Da Zuschreibungen von Ursachen zu Ereignissen von kognitiven Automatismen ausgelöst werden, sind Urteilsheuristiken anfällig für Attributionsfehler (irrtümliche Zuschreibungen), d.h. sie erzeugen häufig illusorische Korrelationen, die vermeintlich deutlich wahrnehmbare kausale Zusammenhänge erkennen, obwohl diese objektiv nicht vorhanden sind. Kontrolliertes Denken kann automatische Denkprozesse unterbrechen und korrigieren. Umgekehrt können automatische Denkprozesse unbewusste Hintergrundeinflüsse auf kontrolliertes Denken ausüben.   


3.3 Somatische Marker

Der portugiesische Neurowissenschaftler António Damásio entwickelte die Somatische Marker Hypothese (SMH), welche besagt, dass an Erfahrungen haftende Emotionen analog zum Wissen im präfrontalen Cortex des Gehirn gespeichert sind und mit Stimulus-Situationen assoziieren. Unterschieden wird dabei zwischen primären und sekundären Auslösern. Primäre Auslöser sind Sinneswahrnehmungen (Stimuli), die unmittelbare emotionale Zustände bewirken. Sekundäre Stimuli sind Erinnerungen an primäre Auslöser, die entsprechende Reaktionen bewirken.(8,9) 
 
Damásio nimmt an, dass der evolutionäre Vorteil somatischer Marker von Erfahrungen in der Unterstützung von Entscheidungen besteht, die mit Hilfe der Einbindung kognitiver Ressourcen des emotionalen Gedächtnisses mit deutlich höherer Geschwindigkeit zustande kommen. Aufgrund von Wechselwirkungen zwischen Körper und Bewusstsein bekennt sich Damásio zum Monismus und nimmt an, dass Geist und Materie untrennbar miteinander verbunden sind.(10,11)


3.4 Kognitive Dissonanzen

Auf mentale Ereignisse, die unvereinbare Kognitionen enthalten (Wahrnehmungen, Gedanken, Meinungen, Einstellungen, Wünsche, Absichten etc.) reagieren Menschen mit kognitiver Dissonanz (als unangenehm empfundene Spannungszustände), aus der prinzipielle Handlungsbereitschaft zur Auflösung dieser Spannungszustände resultiert.


3.5 Soziales Lernen 
 
Gemäß sozialkonstruktivistischer Perspektive sind Lebenswelten von Menschen keine objektive Realität, sondern soziale Konstrukte. Diese werden durch Sprache und Interaktion produziert bzw. reproduziert oder modifiziert und in menschlicher Wahrnehmung im Sinne eines naiven Realismus als objektive Realität aufgefasst (siehe Kapitel 6). Bewusstseinsinhalte und Aussagen von Bobachtern zur Realität sind von variierenden, insbesondere kulturellen Bedingungen und Deutungsmustern abhängig, in die Menschen durch unbewusste Prozesse der Enkulturation hineinwachsen. Durch Enkulturation vermittelte soziale Lernprozesse beruhen überwiegend auf unbewusster Nachahmung (Mimesis). Enkulturation bestimmt weitgehend die Art und Weise des Erkennens der Welt. Im Vorgang des Erkennens konstruieren Betrachter erkannte Gegenstände durch Deutungen. 
 

3.5.1 Kollektive Deutungsmuster

Mentale Strukturen sind keine Serienprodukte mit statischer Architektur, sondern sie entwickeln sich generisch auf kollektiv gemeinsamer Basis und verändern sich dynamisch gemäß Anforderungen oder Einfluss volatiler individueller Lebensbedingungen. 
 
Gemäß dieser Perspektive bildet eine kollektiv gemeinsame Basis von Werten, Regelsystemen, Mustern und Deutungen von Informationen eine symbolische Architektur, die Zusammenleben und Kooperation von Menschen ermöglicht oder auch verhindert. Die Kodifizierung von Verbindlichkeit gelingt mittels Symbolen, Normen, Traditionen, Narrativen. Die Architektur dieser Basis ist nicht für alle Zeit in Stein gemeißelt, aber um kollektive Wirkung zu entfalten, benötigt sie Persistenz. Einvernehmlichen Konsens über einen Grad verlässlicher Verbindlichkeit erzeugt Persistenz. In Maßstäben menschlicher Lebenserwartung verändert sich diese Architektur i.d.R. langsam über Generationen, aber in Ausnahmen auch sprunghaft (revolutionär). Wenn Veränderungen stattfinden, müssen von ihnen betroffene Menschen informiert sein, damit sich kognitive Strukturen und Verhaltensmuster an Änderungen anpassen können.

Kollektive Verständnisse von Welt erzeugen persistente symbolische Modelle der Repräsentation von Welt, die als Kultur unbewusste Deutungsmuster hervorbringt und persistiert. Kultur ermöglicht und strukturiert Kommunikation und Kooperation im Sinne sozialer Interaktionen und verleiht Handlungssicherheit unter Bedingungen unvollständiger Informationen einer chaotischen Welt. Soziale Differenzierung bewirkt sozial desintegrierenden Zerfall und Zersplitterung ehemals relativ einheitlicher Kulturen.(12) Die Herausbildung von Staatsmodellen wirkt diesem Zerfall mit Instrumenten und Methoden von Politik mit unterschiedlichem Erfolg entgegen.
 
 
3.5.2 Prozesse der Internalisierung
 
Dominanz von Individuen in Face-to-Face-Beziehungen entfaltet kurzlebige extrinsische Persistenz, die an Kontrollen durch anwesende dominante Individuen (oder Stellvertreter) gebunden ist (typisch für Primaten). Reproduktionsprozesse menschlichen Lebens erfordern jedoch auf Dauerhaftigkeit abgestellte kooperative Verhaltensmuster, die auf Vertrauen basieren und nicht an körperliche Anwesenheit von Kooperationspartnern gebunden sind. 
 
Prozesse der Internalisierung übertragen den kulturell geprägten Rahmen kollektiver Denk- und Verhaltensmuster, indem sie langlebige intrinsische Muster kollektiver Verbindlichkeit erzeugen, die als Kontrollmechanismen kognitiver Instanzen auf individuelles Verhalten einwirken. Internalisierung verhilft mittels Übertragung durch Verinnerlichung zur individuellen Aneignung gesellschaftlicher Werte, Sitten, Normen, sozialer Rollen und vermittelt so den kulturell geprägten Rahmen des Verhaltens individueller Persönlichkeiten.

Die individuelle Aneignung kollektiver Muster von Weltverständnis erfolgt in komplexen Lernprozessen der Sozialisation, in denen kollektive Muster modellierend auf individuelle kognitive Strukturen einwirken und auf diesem Wege kollektive Muster individuell übertragen. Prozesse der Sozialisation und Internalisierung erzeugen kulturell kompatible individuelle Persönlichkeitsstrukturen, die Individuen mit mehr oder weniger großen Chancen einer erfolgreichen Anpassung an ihre Lebenswelt ausstatten. Lebensläufe von Menschen, in deren Sozialisation sich diese Fähigkeiten nicht ausreichend entwickeln konnten, verlaufen weniger erfolgreich oder prekär.
 
Verschiedene Menschen erleben und erinnern identische Sachverhalte nicht unbedingt gleichartig, sondern im Gegenteil oft unterschiedlich. Differenzen machen deutlich, dass individuelle Wahrnehmungen nicht normiert sind. Über Sinnesreize aufgenommene Wahrnehmungen treffen auf individuell gespeicherte kognitive Strukturen und modellieren diese dynamisch zu Informationen, aus denen sich individuelle Verhaltensoptionen ableiten.
 
Wertvorstellungen und mit ihnen verbundene Regelwerke bleiben als Fundamente sozialen Verhaltens der Alltagspraxis innerhalb kultureller Biotope überwiegend unbewusst. Verhaltenskontrollen kognitiver Instanzen werden nicht als externer Zwang, sondern als eigenmotivierte Intentionen empfunden. Menschen, die sich im öffentlichen Raum bewegen, müssen sich nicht ständig über Regeln der kollektiven Basis informieren oder diese in Erinnerung rufen. Die kollektive Basis bleibt im Hintergrund und übt kontrollierenden Einfluss auf Verhalten aus, ohne dass Menschen explizites Wissen über die kollektive Basis und ihre funktionale Bedeutung benötigen. Im regulären Betrieb erleben Menschen sich ähnlich wie Akteure auf einer Bühne in Rollen, die soziale Kontext ähnlich Drehbüchern vorgeben. In der Rolle vergessen oder übersehen Akteure bei ihrem Spiel die Umgebung ihres Theaters mit dessen Infrastruktur, Betriebsbedingungen, Voraussetzungen, Historie der Entstehung.

Beispielsweise müssen Verkehrsteilnehmer Vorfahrtsregeln nicht erst aushandeln. Gewöhnlich wissen sie, wer gehen oder fahren darf und wer warten muss. Im Fall von Regelverletzungen ist bekannt, dass falsches Verhalten nicht per Faustrecht bestraft werden darf, sondern dass nur rechtsstaatliche Institutionen Sanktionsmaßnahmen veranlassen dürfen. Darüber hinaus wissen Verkehrsteilnehmer i.d.R., auf welchen Kommunikationswegen rechtsstaatliche Institutionen zu erreichen sind, und sie kennen zumindest grob die Qualität drohender Sanktionsmaßnahmen. Erst wenn Menschen als individuelle Akteure bewusst oder grob fahrlässig kollektiv geltende Vereinbarungen verletzen, rückt der vorher unbewusste Hintergrund in den bewussten Vordergrund. Störungen des Gleichgewichts können auch von Institutionen und Organisationen als kollektive Akteure ausgehen. Wenn normsetzende Veränderungen der kollektiven Basis auf Ablehnung stoßen, drohen Konflikte, die in für Änderungen verantwortlichen Institutionen und Organisationen zu Krisen eskalieren können.


3.6 Stereotype und Vorurteile

Wie Persönlichkeiten entstehen, sich verhalten und verändern, untersucht die Psychologie. Unabhängig davon, ob das Selbst einer Persönlichkeit als Fiktion des Bewusstseins oder als Entität aufzufassen ist, entsteht dieses Selbst aus der Kombination zahlreicher Bedingungen in variablen Ausprägungen. Bedingungen und ihre Ausprägungen bilden keine konstanten Merkmale, sondern sie variieren prozesshaft. Als Resultat entsteht eine kaleidoskopartige unendliche Vielfalt komplexer Persönlichkeiten, die begrifflich nicht fassbar ist und sich jeder universellen Beschreibung entzieht. Kein Versuch der Kategorienbildung kann dieser Vielfalt gerecht werden. Daher beschreiben von der Psychologie entwickelte theoretische Modelle der Typisierung (z.B. Resilienzmodell) lediglich verallgemeinernde Richtungen der Persönlichkeitsentwicklungen.
 
Dennoch neigen Menschen in sozialen Interaktionen zu Typisierungen in Form von Stereotypen und Vorurteilen. Unbewusste Mechanismen der Typisierungen haben sich evolutionär als nützliche Wahrnehmungsfilter herausgebildet.(13)
 
Mit der Verdichtung von Lebensräumen aufgrund exponentieller Zunahme des Bevölkerungswachstums verändert sich dieses Wahrnehmungsmusters zunehmend toxisch und verhindert friedliches Zusammenleben der Weltbevölkerung.(14) Vor 10.000 Jahren lebten 5 - 10 Millionen Menschen auf der Erde. Um das Jahr 0 knapp 200 Millionen. 1650 rund 500 Millionen. 2013 ca. 8.02 Milliarden. Prognosen über die weitere Entwicklung sind strittig. Immerhin verlangsamt sich das Wachstum:
- Deutsche Stiftung Weltbevölkerung: Weltbevölkerungsuhr
 

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  1. Unterscheidung zwischen Bewussten und Unbewussten mentalen Inhalten: Gerhard Roth: Wie das Gerhirn die Seele macht (PDF)
  2. Inzwischen weiß man, dass für die Steuerung willkürlicher Bewegungen ein als Motorcortex bezeichneter Bereich des Neocortex verantwortlich ist, der seit 150 Jahren erforscht wird und der Wissenschaft immer wieder neue Rätsel aufgibt. (Vgl.: Das Gehirn: Kommandozentrale für Bewegung sowie Das Gehirn: Das Rätsel der Bewegung)
  3. FAZ, Sibylle Anderl: Zahlenkompetenz als Überlebensfaktor
  4. Dissertation Franco Calouri: Die numerische Kompetenz von Vorschulkindern – Theoretische Modelle (PDF, 278 Seiten)
    und empirische Befunde 
  5. Kognitive Funktionen und mentale Strukturen allgemeiner Art sind Themen des Posts Architektur von Erinnerung, Wissen, Wahrheit - interdisziplinär betrachtet im Kapitel 3. Unbewusste (implizite) Kognitionen referiert das Kapitel 3.2.
  6. Wikipedia: Liste kognitiver Verzerrungen
  7. Empirische Sozialforschung verwendet als Sozialindikatoren auch Glücksindikatoren, um mittels Befragungen zu ‚messen’, unter welchen Bedingungen der Lebensbewältigung Menschen mehr oder weniger glücklich, zufrieden oder unzufrieden sind. Indikatorensysteme sind nicht problemfrei und vergleichende ‚Glücksmessungen’ über Bevölkerungsgruppen (Kohorten) gelten als besonders problematisch.
  8. Wikipedia: Hypothese der somatischen Marker - António R. Damásio: Die Theorie der somatischen Marker
  9. Der Philosoph Ulf Hlobil erklärt in seiner Magisterarbeit psychologische Handlungserklärungen aus Sicht des deduktiv-nomologischen Modells wissenschaftlicher Erklärung (HO-Schema) generell zu Aussagen, die Anforderungen des analytischen Wissenschafts-Paradigmas nicht erfüllen, weil psychologische Handlungserklärungen keine Kausalerklärungen menschlicher Handlungen seien. Aufgezeigte Zusammenhänge seien nicht empirischer, sondern begrifflicher Art und daher redundant.
    (Ulf Hlobil: Eine theoretische Kritik der Somatischen Marker Hypothese von Antonio Damasios, PsychArchives: https://doi.org/10.23668/psycharchives.8507)
    Allerdings ist das HO-Schema nicht problemfrei (vgl. Spektrum: Hempel-Oppenheim-Modell). Lt. dem Wikipedia-Eintrag zur Hypothese der somatischen Marker ist die SMH mit Angabe von Quellen empirisch bestätigt.
  10. Wikipedia: António R. Damásio
  11. Bzgl. Monismus und Dualismus siehe: Anmerkung 5 zu Kapitel 1 dieses Posts sowie Post 1 Vor- und Randbemerkungen zur Postreihe "Beobachtungen, Theorien, Vermutungen zur Evolution von Kultur und Religion", Kapitel 2. 
  12. Siehe Post 1 Vor- und Randbemerkungen zur Postreihe "Beobachtungen, Theorien, Vermutungen zur Evolution von Kultur und Religion", Kapitel 2.1. 
  13. Bundeszentrale für politische Bildung: Stereotypen und Vorurteile (PDF)
  14. Auf der Erde lebten vor 10.000 Jahren 5 - 10 Millionen Menschen, um das Jahr 0 knapp 200 Millionen, 1650 rund 500 Millionen, 2013 ca. 8.02 Milliarden. Prognosen über die weitere Entwicklung sind strittig. Immerhin verlangsamt sich das Wachstum:
 
 
4 Bewusstsein Verstehen

Der Begriff des Bewusstseins assoziiert mit dem Begriff des Wissens im Sinne von Wissen über etwas haben. Bei genauerer Betrachtung ist diese Bedeutung zu eng gefasst. Bewusstsein ist keine binäre Eigenschaft, sondern bezeichnet mentale Prozesse, an denen unbewusste Emotionen beteiligt sind, die als somatische Marker (siehe 3.1) filternde und bewertende Einflüsse auf Situationen und Entscheidungen ausüben. Philosophie und Naturwissenschaften unterscheiden je nach Kontext zwischen verschiedenen Arten von Bewusstsein.
 
Mentale Prozesse der Erzeugung von Bewusstsein ermöglichen Entscheidungen und intentionales Handeln, indem sie Weltbilder generieren, die als reale Bedingungen für Verhalten wahrgenommen werden. Wahrnehmungen von Welt entstehen in Feedbackschleifen, die extrinsische Umwelt-Parameter mit intrinsischer Wahrnehmung eigenen Wissens (oder Unwissens) und eigener Emotionen verknüpfen. Parameter dieses Prozesses sowie Art und Menge von Feedbackschleifen variieren kontextabhängig.   
 
Rätselhaft ist, wie Bewusstsein es schafft, Sinneswahrnehmungen so zu integrieren, dass Menschen das Gefühl haben, nicht in vielen Welten, sondern in einer einheitlichen Welt zu leben und (abgesehen von pathologischen Zuständen) das Gefühl haben, nicht viele Personen, sondern eine einheitliche Person zu sein. Bekannt und empirisch nachweisbar ist jedoch auch, dass bewusst wahrgenommene Zustände von Welt und von der eigenen Person unzuverlässig sind und sich oft häufig als Irrtümer herausstellen. Homogenität und Kohärenz wahrgenommener phänomenaler Räume sind von Mechanismen des Bewusstseins erzeugte Illusionen, an deren Erklärung sich Wissenschaften bisher die Zähne ausbeißen.  
 
Definitionen von Bewusstsein korrespondieren eng mit nachfolgend skizzierten Kernproblemen der Philosophie des Geistes, die nach der Natur mentaler Zustände und ihrem Verhältnis zu physischen Zuständen fragt.
 

4.1 Leib-Seele-Problem(1)

Das Leib-Seele-Problem (auch Körper-Geist-Problem) bildet das Kernproblem der Philosophie des Geistes, das sich um Frage der Beziehung zwischen mentalen Zuständen (bzw. Seele, Geist) zu physischen Zuständen (bzw. Leib, Körper, Materie) dreht:
 
"Sind Geist und Körper 2 verschiedene Substanzen? Wenn ja, wie sind sie miteinander verbunden? Wenn nein, ist der Geist etwas Körperliches, oder ist der Körper eine Form des Geistes? Oder sind Körper und Geist verschiedene Manifestationen einer einzigen neutralen Substanz?"(2)

Im Alltagsdenken verstehen mehr als 90 % aller Menschen Körper und Geist als getrennte Substanzen und nehmen an, dass das Gehirn (Körper) den Geist nicht vollständig erklären kann.(3) Traditionelle wissenschaftliche Antworten auf diese Fragen basieren auf zwei als Dualismus sowie als Monismus bezeichnete gegensätzlichen Positionen, die Wissenschaften der Gegenwart aufzulösen versuchen. Im neuzeitlichen Diskurs der Philosophie des Geistes über das Leib-Seele-Problem identifiziert Thomas Metzinger neun verschiedene Modelle zur Lösung des Leib-Seele-Problems und stellt fest, dass der Dualismus nur noch extrem wenige Vertreter hat (Spiritualität und intellektuelle Redlichkeit, S. 23).
  • Dualismus betrachtet in verschiedenen Varianten Materie und Geist als 2 verschiedene Substanzen (Substanzdualismus) oder als 2 verschiedene Eigenschaften eines Objekts (Eigenschaftsdualismus), zwischen denen Wechselwirkungen bestehen oder zumindest möglich sind. Für den Dualismus sprechen Qualia-Argumente. Gegen den Dualismus spricht, dass er Wechselwirkungen zwischen physischen und mentalen Zuständen nicht kausal erklären kann.
  • Monismus führt in verschiedenen Varianten alle Phänomene von Welt auf ein einheitliches Grundprinzip zurück und postuliert, dass nur eine Substanz existiert, entweder Geist oder Materie oder eine unbekannte neutrale Substanz. Gegen materialistische Positionen des Physikalismus sprechen kritische Eigenschaften von Qualia und Intentionalität, die nicht in Begriffen der Physik als Objekte beschrieben werden können.
    In der Kognitionswissenschaft ist ein 'Computermodell des Geistes' verbreitet, dass analog Software und Hardware das Gehirn als ein informationsverarbeitendes System versteht und mit Künstlicher Intelligenz (KI) das Ziel verfolgt, menschliche kognitive Fähigkeiten in Maschinen zu realisieren.(Siehe Anmerkung 4) Zahlreiche Philosophen bezweifeln, dass sich Erklärungslücken zwischen bewusstem Erleben mentaler Zustände und biologischen Prozessen im Sinne neuronaler Korrelate des Bewusstseins schließen lassen. Eine Gruppe von Kognitionswissenschaftlern teilt Skepsis gegenüber technischen KI-Architekturen der Gegenwart, nimmt aber ein, dass mit veränderten Architekturen in der Zukunft starke KI-Systeme möglich sind, die menschlicher Intelligenz ähnlicher werden. Wann das sein wird und wie stark solche Systeme sind, bleibt reine Spekulation.(4)
Während Monismus mentale Zustände und kognitive Prozesse nicht befriedigend erklären kann, vermag Dualismus nicht zu erklären, wie Geist als Substanz aus Materie entsteht. Beide Positionen belasten Erklärungsprobleme, die weitere Positionen aufzulösen versuchen (siehe auch Anmerkung 5 zu Kapitel 1):
  • Funktionalismus in der Philosphie des Geistes, der nicht identisch ist mit Funktionalismus in Sozialwissenschaften, erklärt mentale Zustände als funktionale Zustände, die nicht von der Art physischer Realisierung abhängen, weshalb nicht nur Lebewesen, sondern auch Robotern oder Computern mentale Zustände zugestanden werden. Die Annahme der multiplen Realisierbarkeit mentaler Zustände macht Funktionalismus zum bevorzugten Erklärungsmodell für Kognitionswissenschaften und Künstliche Intelligenz. Da die Gleichsetzung mentaler und funktionaler Zustände jedoch kein Bewusstsein zu erklären vermag, bestehen gewichtige Einwände.
  • Eine als Pluralismus bezeichnete Postion jüngerer Zeit erklärt mehrere unterschiedliche Perspektiven für legitim und lehnt einheitliche grundlegende Perspektiven bzw. jeden Dogmatismus ab.  
  • Sprachphilosophische Positionen betrachten das Leib-Seele-Problem als ein von sprachlogischen Kategorienfehlern verursachtes wissenschaftliches Scheinproblem.
  • Panpsychismus bietet einen nicht-materialistischen monistischen Lösungsvorschlag des Leib-Seele-Problems mit der Annahme, dass Vorstufen des Geistigen oder Mentalen in der Grundstruktur der materiellen Welt enthalten sind.(Siehe Anmerkung 4)
 
4.2 Rätsel der Qualia
 
Als Rätsel von Qualia (subjektive Erlebnisinhalte mentaler Zustände) diskutiert Philosophie aus unterschiedlichen Perspektiven Zusammenhänge zwischen subjektiven Inhalten mentaler Zustände und auslösenden physiologischen Reizen. Erklärungsprobleme resultieren aus dem Sachverhalt, dass Phänomene der Innenperspektive (Emotionen und generell sensorische Wahrnehmungen wie Gerüche, Farben, Töne etc.) als intrinsische Kerne von Bewusstsein keine abstrahierbare innere Struktur haben und für Beschreibungen von außen unzugänglich sind. Der Sachverhalt, dass die subjektive Perspektive von Qualia nicht in naturwissenschaftlichen Begriffen beschrieben werden kann, begründet dualistische Annahmen.

 
 4.3 Problem der Intentionalität(5)
 
Intentionalität (kognitiv durch Absichten gesteuertes zielorientiertes Handeln) bezeichnet die menschliche Fähigkeit, eigenes mentales Erleben und Verhalten zielgerichtet auf reale oder imaginierte Objekte oder auf wahrgenommene Zustände zu beziehen. Intentionaler Realismus vertritt die Ansicht, dass alle mentalen Zustände intentional sind und menschliche Absichten aus der Repräsentation natürlicher Indikatoren bestehen. Sozial vermittelte innerpsychische Vorstellungen repräsentieren lediglich Wahrnehmungen von Welt als real, ohne dass aus diesen Vorstellungen Aussagen über reale Zustände von Welt abgeleitet werden können. Der Sachverhalt von außen nicht zugänglicher intentionaler mentaler Zustände begründet dualistische Annahmen.
 
 
4.4 Monistische Positionen
 
In der Philosophie des Geistes vertritt eine Gruppe von Philosophen ein naturalistisches bzw. physikalistisches Weltbild, das sämtliche Phänomene von Welt auf Natur und ihre Gesetzmäßigkeiten zurückführt. Naturalistische Ansätze verstehen Kultur als Ausprägung von Natur und soziokulturelle Evolution als Entwicklung der biologischen Evolution.(6)
 
Gemäß dieser Denkweise sind mentale Zustände aus physischen Zuständen zu erklären. Qualia gilt als ein wissenschaftlich nicht existentes Problem (Qualiaeliminativismus). Intentionale Aussagen werden nicht als Tatsachenbeschreibung verstanden, sondern als Erklärungen, die Verhalten von Menschen verständlich machen, ohne dass daraus auf kausale Gesetzmäßigkeiten geschlossen werden kann. Annahmen über Intentionalität des Denkens gelten als nützliche Fiktion.
 
Um soziokulturelle Evolution erklären zu können, bedarf es jedoch der Annahme zusätzlicher Entitäten als Replikationseinheiten, die in Anlehnung an den Begriff Gene als Meme bezeichnet werden.(7) Meme werden als Bewusstseinsinhalte aufgefasst, die mittels Kommunikation als Informationen weitergegeben bzw. vervielfältigt (repliziert) werden und wie biologische Vererbung von Genen soziokulturell vererbbar sowie durch soziokulturelle Evolution veränderbar sind.
 

4.5 Libet-Experiment: Wie deterministisch ist menschliches Verhalten?

Der US-amerikanische Physiologe Benjamin Libet führt 1979 eine Reihe von Experimenten durch, in denen er zeitliche Abfolgen bewusster Handlungsentscheidungen und ihrer motorischen Umsetzung maß. In den Experimenten zeigen Messungen mittels EEG und EMG, dass das motorische Zentrum des Gehirns bereits 0,35 s vor einer bewussten Bewegungsabsicht mit der Vorbereitung der Bewegung beginnt und weitere 0,2 s bis zur Ausführung der Bewegung vergehen, also Hirnaktivitäten insgesamt 0,55 s vor der Bewegung einsetzen. Da die bewusste Willensentscheidung zur Bewegungsabsicht 0,35 s hinter der einleitenden Nervenaktivität liegt, besagt dieser Sachverhalt vermeintlich, dass die Aktivierung von Hirnaktivitäten nicht kausal von der Willensentscheidung verursacht ist und Annahmen eines freien Willens eine Illusion sind. Offenbar trifft nicht das Ich Entscheidungen, sondern das Gehirn und vermittelt dem Ich Illusionen von Willensentscheidungen. 

1980 veröffentlichte Ergebnisse der Versuchsreihen erregten großes Aufsehen und lösten kontroverse Diskussionen über das sog. Libet-Experiment sowie über Fragen menschlicher Willensfreiheit aus. Spätere Überprüfungen der Experimente zeigten gemäß wissenschaftlicher Standards eine nur schwache Evidenz der Ergebnisse aufgrund der kleinen Anzahl von Probanden. Außerdem konnten von Libet gemessene Zeitintervalle nicht repliziert und Messfehler der ursprünglichen Experimente nachgewiesen werden. Veränderte Versuchsbedingungen führten zu weniger eindeutigen Ergebnissen, sodass die Frage aufkam, was das Experiment tatsächlich gemessen hat und wie Hirnaktivitäten zu deuten sind.
 
In veränderten Versuchsanordnungen erwies sich, dass gemessene Bereitschaftspotentiale der Handlung keineswegs als Ursache einer Entscheidung oder Handlung zu verstehen sind, sondern als einer unter vielen Faktoren, die Einfluss auf Absichten ausüben und die Durchführung von Handlungen erleichtern, aber nicht verursachen. Gemessene Bereitschaftspotentiale zeigten deutlich streuende Stärken und schlugen in einem Drittel der Durchgänge entgegen der erwarteten Richtung aus. Instruierte Probanden konnten die Stärke von Bereitschaftspotentialen bewusst verändern.(8) 
 
Abgesehen von methodischen Fehlern wertet Merlin Donald das ursprüngliche Libet-Experiment im Ergebnis ein Deutungsartefakt mit nicht belastbaren Schlussfolgerungen. Donald versteht die Architektur des Bewusstsein als ein hierarchisches Schichtenmodell. Reizangebote experimenteller Laborsituationen sprechen unter restriktiven Bedingungen der Situation lediglich das funktional eingeschränkte und nur über ein Intervall von ca. 15 Sekunden aktive Kurzzeitgedächtnis an. Diese Reize beschäftigen in einem engen Aufmerksamkeitsfenster das Bewusstsein, sie aktivieren aber nur eine schmale Schicht eines breit angelegten mehrschichtigen Regulierungssystems, als das Donald Bewusstsein auffasst. Donald bezweifelt, dass Daten aus Laborexperimenten allgemeingültige Aussagen über Bewusstsein erlauben.(9)
 
Andererseits machen die Libet-Experimente aber auch deutlich, dass 
  • an bewussten Entscheidungen unbewusste Prozesse beteiligt sind, die nicht immer mit bewussten Absichten übereinstimmen,
  • freier Wille nicht binär zu verstehen ist, sondern als eine Ausprägung, deren bewusste und unbewusste Anteile situationsspezifisch variieren,
  • Mechanismen dieser Verteilung und die Rolle des Bewusstseins bisher nur unvollständig verstanden sind.(19)
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  1. Artikelsammlung zum Leib-Seele-Problem:
  2. Spektrum, Lexikon der Biologie: Leib-Seele-Problem
  3. Stangl Online-Lexikon für Psychologie und Pädagogik: Dualismus
  4. Spektrum: Was KI über unsere Intelligenz lehrt
  5. Spektrum, Metzler Lexikon der Philosophie: Intentionalität
  6. Protagonisten dieser Richtung: Richard Dawkins, Daniel Dennett
  7. Wissenschafts-Magazin Spektrum: Evolution: Die Macht der Meme
  8. Scinexx: Warum unser Wille freier ist als gedacht
  9. Merlin Donald: Triumph des Bewusstseins, a.a.O., S. 76
  10. Spektrum: Libet-Experimente: Die Wiederentdeckung des Willens
  
 
5 Anlage-Umwelt-Interaktion, metabolische Prozesse, neuronale Korrelate, mentale Zustände
 
Jedes Lebewesen verfügt über eine genetische Ausstattung bzw. Anlagen und lebt in einer von Kultur geprägten Umwelt. Völlig unstrittig ist, dass ererbte Anlagen und Umweltbedingungen von Lebensräumen miteinander interagieren. Kontrovers und teilweise auch ideologisch wird jedoch diskutiert, zu welchem Anteil Merkmale, Fähigkeiten, Verhalten von Menschen biologisch oder kulturell determiniert, dominiert oder beeinflusst sind und wie Anlagen und Umwelt miteinander interagieren. Diese Frage gehört zu den bisher nur unzureichend beantworteten großen wissenschaftlichen Fragen. Die Diskussion über die Verteilung von Einflussfaktoren betrifft vor allem Fähigkeiten (Begabungen, Intelligenz etc.), individuelles Verhalten sowie Chancen und Risiken erfolgreicher oder gescheiterter Sozialisation aufgrund sozialer Herkunft (Milieu) und Gender. In der Vergangenheit fand die Diskussion zwischen zwei Hauptrichtungen statt:(1,2)
  • Für Nativisten spielt das Erbgut die Hauptrolle. Vertreter dieser Position sind vor allem in Naturwissenschaften zu finden.
  • Geisteswissenschaftler vertreten eher empiristische bzw. environmentalistische Positionen und tendieren zur Auffassung einer Vorherrschaft von Umweltbedingungen. 
Inzwischen schlägt diese Diskussion eine andere Richtungen ein, die biologische und soziokulturelle Evolution nicht als Widerspruch betrachtet, sondern als zwei interagierende Ressourcenpools. Gemäß dieser Auffassung variiert die Herausbildung von Fähigkeiten und Verhaltensoptionen über die soziokulturell geprägte Weite von Grenzen, innerhalb der diese beiden Pools interagieren.
 

5.1 Kognitive Kontrollprozesse der Verhaltenssteuerung: Exekutive Funktionen und intrinsische Belohnungen

Höhere Lebewesen verfügen über Fähigkeiten der kognitiven Kontrolle, die ihnen ermöglichen, ihr eigenes Verhalten an Umweltsituationen anzupassen, um ein für sie möglichst günstiges Verhaltensergebnis zu erzielen. Psychologie erklärt die Umsetzung von Handlungsmotiven (Beweggründe und Ziele) in Entscheidungen und Handlungen mit zwei Quellen, die als extrinsisch (aufgrund äußerer Anreize) und intrinsisch (aufgrund der Sache selbst) bezeichnet werden.(3,4) Hirnforschung bzw. Neuropsychologie untersucht neuronale Korrelate der als exekutive Funktionen bezeichneten Kontrollprozesse der Selbstregulation und des zielgerichteten Handelns. Exekutive Funktionen sind vor allem dann aktiv, wenn automatisiertes Handeln oder routiniertes Verhalten einer Situation nicht gerecht wird und aufmerksames, konzentriertes Handeln notwendig ist.(5)
 
 
5.2 Exekutive Funktionen
 
Exekutive Funktionen umschreiben psychische Fähigkeiten, die der Durchführung von Handlungen vorausgehen und Handlungen kontrollierend begleiten. Zu den exekutiven Funktionen zählen: Selbstmotivation, Willensbildung, Initiative, Setzen von Zielen, strategische Planung, Entscheidungsfindung, Steuerung von Aufmerksamkeit, Handlungsplanung, Selbstkontrolle und Selbstdisziplin. Exekutive Funktionen werden in überwiegend unbewussten Lernprozessen kulturell vermittelt und individuell durch Nachahmung angeeignet.
 
Komplexe systematische Lernprozesse erfordern in einem hohen Maß individuelle Fähigkeiten exekutiver Funktionen.(6) Wer in der persönlichen Sozialisation bzgl. der Ausstattung mit exekutiven Funktionen im Vergleich zu kulturellen Standards benachteiligt ist, ist auch in komplexen systematischen Lernprozesse benachteiligt und lebt mit reduzierten Chancen einer erfolgreichen Sozialisation. Wie Erfahrungen bzw. Lernprozesse die Persönlichkeit und ihre Fähigkeiten hinsichtlich Impulskontrolle (siehe Kapitel 5.2.2) und Resilienz (siehe Kapitel 5.2.3) formen, erläutert der Neurowissenschaftler Gerhard Roth in einem bemerkenswerten Artikel.(7) 
 
 
5.2.1 Ambivalenzkonflikte und Delay Discounting

In Entscheidungssituationen bestehen oftmals gleichzeitig vorliegende und sich widersprechende Gedanken, Wünsche und Gefühle, die als Spannung und Zerrissenheit empfundene innere Konflikte bewirken (in der Psychologie als Ambivalenzkonflikte bezeichnet). Menschen, deren Persönlichkeitsentwicklung belastbare exekutive Funktionen (interne Kontrollprozesse) ausprägen konnten, sind in der Lage, solche Situationen zu ertragen und Konflikte zu lösen. Weniger reife Persönlichkeiten sind in ihrer Entscheidung gehemmt und empfinden derartige Situationen als Dilemma ohne situationsgerechten Ausweg.
 
Das psychologische Modell des Delay Discounting (Abwertung zeitlich verzögerter Belohnungen) betrifft den speziellen Fall von Entscheidungen zwischen zeitlich auseinanderliegenden Belohnungen vom Typ Spatz in der Hand oder Taube auf dem Dach. Derartige Entscheidungen erfordern Abwägungen zwischen kurzfristigen kleinen Belohnungen versus langfristig größere Vorteile versprechendes Verhalten unter Verzicht auf kurzfristig verfügbare kleine Belohnungen. Während die zeitnahe kleine Belohnung garantiert ist, enthält die zeitlich entferntere Zukunft immer Unsicherheiten. Z.B. verschafft eine Pizza sofort Genuss, aber der Genuss unterläuft langfristige Bemühungen um Gewichtsreduzierung, Gesundheit, schlanke Figur, Sparsamkeit etc., deren Erreichbarkeit nicht garantiert ist.
 
Delay Discounting verdeutlicht Auswirkungen unterentwickelter exekutiver Funktion und macht darüber hinaus darauf aufmerksam, dass Entscheidungen und Verhaltensmuster nicht alleine auf rationalen Bewertungen beruhen, sondern im Fall zeitlicher Verzögerung von der nicht bewusst kontrollierbaren Konkurrenz zwischen Hirnsystemen des präfrontalen Cortex und des limbischen Systems beeinflusst sind. 
  • Präfrontale Hirnstrukturen bewerten Bedingungen für eine situationsangemessene Handlungssteuerung und regulieren emotionale Prozesse. 
  • Das limbische System steuert unter Beteiligung anderer Hirnregionen insbesondere Emotionen sowie das Triebverhalten und arbeitet nach dem Prinzip der Maximierung von Lust und Minimierung von Schmerz. 
Bei Entscheidungen zwischen zeitlich auseinanderliegenden Belohnungen bewirken Konflikte zwischen den beiden Hirnregionen eine stärkere neuronale Aktivierung von Hirnregionen des limbischen Systems, wodurch rationale Erwägungen des präfrontalen Cortex eine Abwertung erfahren und sich triebhaftes Verhalten oftmals durchsetzen kann.(8) Delay Discounting macht verständlich, weshalb in wohlhabenden Ländern trotz besseren Wissens Bewegungsarmut und unvernünftiges Ernährungsverhalten verbreitet sind und Zivilisationskrankheiten ausbreiten. 
 

5.2.2 Selbstregulation und Selbstkontrolle

Aus der Falle des Delay Discounting ist Entkommen möglich. Um langfristig individuellen Erfolg zu ernten, müssen Menschen lernen, dass Erfolg in der Zukunft ausdauerndes Engagement verlangt und erst Verzicht auf sofort und anstrengungslos zu erhaltende kleine Belohnungen in der Zukunft größere Belohnungen ermöglicht. Anders gesagt: Um das eigene Leben in den Griff zu bekommen und nachhaltige Zufriedenheit zu erreichen, müssen Menschen ihre exekutiven Funktionen entwickeln. In oft mit Unlust und Anstrengung verbundenen Lernprozessen der Sozialisation entwickeln Menschen Fähigkeiten der Selbstregulation durch Selbstkontrolle bzw. der Impulskontrolle, des Gratifikationsaufschubs und der Selbstmotivation, die sich erst längerfristig als Kompetenzen einer erfolgreichen Sozialisation und Lebensbewältigung bewähren.(9)

Gewöhnlich bewirkt die Höhe der Anstrengung, die für das Erreichen einer Belohnung erforderlich ist, eine Steigerung des Wertes einer Belohnung. Verkaufspsychologie und Verhaltensökonomik zeigen jedoch auch, dass kostenlose Angebote Impulskontrolle, Selbstregulation und rationales Denken reduzieren oder ausschalten.(10)


5.2.3 Resilienz und Vulnerabilität(11)
 
Das Konzept der Resilienz beruht als Erklärungsmodell der Persönlichkeitspsychologie auf der Beobachtung, dass psychische Verwundbarkeit (Vulnerabilität) sowie psychische Widerstandsfähigkeit (Resilienz) von Menschen individuell unterschiedlich ausgeprägt sind und die Stärke der Ausprägung sowie Strategien der Krisenbewältigung durch eine Reihe von Einflussfaktoren bestimmt werden, die das Big-Five-Modell beschreibt. Resiliente Menschen haben gelernt, dass sie selbst ihr eigenes Schicksal bestimmen. Sie haben ein realistisches Bild ihrer Fähigkeiten, hoffen nicht auf Glück oder Zufall und nehmen Dinge selbst in die Hand. Resiliente Menschen bewältigen Krisen nicht nur leichter als andere Menschen, sondern sie nutzen Krisen als Anstoß für Entwicklungen ihrer Persönlichkeit.
 
 
5.3 Selbstmotivation und intrinsische Belohnungen   
 
Stoffwechselprozesse und ihre Interaktionen mit Auslösern und mentalen Zuständen sind zwar noch nicht vollständig entschlüsselt, aber Wissenschaften erkennen Zusammenhänge zwischen Aktivitäten, Stoffwechselprozessen, beteiligten neuronalen Strukturen und beginnen zu verstehen, wie Stoffwechselprozesse Einfluss auf das Gefühlsleben nehmen. Für die biologische Erklärung von Empfindungen wie Freude, Lust, Motivation hat im Gehirn von Wirbeltieren das mesolimbische System zentrale Bedeutung. 
 
Stoffwechselprozesse erzeugen temporäre mentale Zustände zunächst situationsspezifisch. Wer sich z.B. in Tätigkeiten vertieft, die gerne und mit Kompetenz betrieben werden, provoziert Ausschüttungen von Botenstoffen wie Serotonin, Dopamin, Adrenalin und Noradrenalin, die als Glückshormone gelten, weil sie vorübergehend als belohnend empfundene mentale Zustände evozieren. Über Zeit betrachtet wird das weitreichende Potential dieser Prozesse verständlich. Sie wirken nämlich nicht nur temporär auf Verhalten und Empfinden von Menschen ein, sondern sie verfestigen neuronale Strukturen, erzeugen Motivation und wirken formend, modellierend, verändernd auf das als individuelle Persönlichkeit umschriebene Konstrukt ein.(12) 
 
Wenn sich Denkmuster und Verhaltensweisen unter dem Einfluss interner Belohnungssysteme zu Gewohnheiten entwickeln, verändern und verfestigen sich kognitive und neuronale Strukturen und prägen Verhaltensmuster. Die Erzeugung oder Veränderung von Verhaltensmustern geschieht überwiegend relativ mühelos durch Nachahmung. Mehr Mühe und Anstrengung erfordern in expliziten Lernprozessen neu anzueignende oder zu verändernde Verhaltensmuster. Besondere Mühe erfordert die Umprogrammierung von Verhaltensmustern des Lebensstils, die nur mit großer Mühe und starker Selbstdisziplin gelingt, wenn über Fähigkeiten der Selbstregulation und der Resilienz in ausreichender Qualität verfügt wird, um Quellen intrinsischer Belohnung zu erschließen. Dieser Sachverhalt macht verständlich, weshalb es zahlreichen Menschen trotz besseren Wissens nicht gelingt, Verhaltensweisen eines ungesunden Lebensstils zu ändern.
 
 
5.3.1. Glückshormone, Motivation, Hedonismus, Ethik 

Als Glückshormone bezeichnete biochemische Botenstoffe metabolischer Prozesse erzeugen mentale Zustände, die als belohnend empfunden werden. Glückshormone aktivieren Verhaltensdispositionen, die der Begriff Motivation umschreibt und sind Treiber hedonistischer Handlungsprinzipien. In Kulturen ausgeprägte ethische Handlungsprinzipien verhindern ungehemmten Hedonismus, indem sie durch kulturelle Symbolsysteme vermittelte reglementierende Normen exekutiver Verhaltenskontrolle verbindlich machen. Quantität und Qualität des normativ regulierten Hedonismus und der vorgeschriebenen Verhaltenskontrolle variieren kulturspezifisch und provozieren daher interkulturelle Missverständnisse und Unverständnisse, wie wir sie in Diskussionen über Migrantenpolitik und Integrationsprobleme täglich erleben.


5.3.2 Flow

Flow ist ein psychologisches Modell eines mentalen Grenzzustands zwischen bewusstem und unbewusstem Erleben, das spezielle Prozesse und positiv emotionale Phänomene intrinsischer Motivation erklärt.(13,14,15) Intrinsische Belohnungen werden als Wechselwirkungen zwischen psychologischen und neurophysiologischen Prozesse aufgefasst. Neurobiologische Mechanismen von Flow-Erlebnissen und beteiligte Botenstoffe sind nicht abschließend geklärt.
 
Sozialpsychologe Johannes Keller identifiziert 5 Elemente der Entstehung von Flow (Uni-Ulm: Flow-Erleben):
  • verändertes Zeiterleben (Einschränkung oder Verlust des Zeitgefühls),
  • Kontrollerleben (das Gefühl, den Ablauf der Tätigkeit unter Kontrolle zu haben),
  • intrinsische Motivation,
  • hohe Konzentration (eine Art Tunnelblick),
  • stark reduzierte Selbstaufmerksamkeit (die sich nachteilig auswirken kann).
Flow ist nicht identisch mit euphorischen Zuständen, die ausgeschüttete körpereigene Opiate auslösen. Vermutlich können insbesondere körpereigene Neurotransmitter wie  Endocannabinoide Menschen in rauschhafte Zustände versetzen, das Wohlbefinden steigern und Schmerzempfindlichkeit sowie Ängstlichkeit reduzieren. Strittig ist, ob Endorphine (körpereigene Opioidpeptide, die in der Hypophyse und im Hypothalamus von Wirbeltieren produziert werden) zu den Hauptverdächtigen zählen, weil Endorphine vor allem Schmerzen unterdrücken und damit Extremsituationen erträglicher machen.
 
Bedingungen für das Auftreten von Flow
  • Hohe intrinsische Motivation,
  • bei der Tätigkeit vermischen sich Inhalte einer Aufgabe (was zu tun ist) mit dem Prozess der Aufgabe (wie es zu tun ist),
  • Aufgaben werden um ihrer selbst willen bewältigt, ohne eine externe Belohnung oder Bestrafung zu erwarten,
  • die Tätigkeit erzeugt maximale intrinsische Belohnung.
Maximale intrinsische Belohnung wird erzielt, wenn Anspruchsniveau einer Aufgabe und Fähigkeitsniveau einer Person ohne körperliche oder mentale Unter- oder Überforderung so zueinander passen, dass in einem relativ schmalen Fenster der Passung ein Gleichgewicht zwischen Anforderung der Aufgabe und Kompetenz der Person entsteht. In diesem Gleichgewichtszustand entsteht Flow als Belohnung des intrinsischen Motivationssystems.
 
Die Belohnung der Aufgabenbewältigung besteht im Erreichen eines als angenehm, beglückend oder auch als tranceartig bis rauschhaft empfundenen mentalen Zustands völliger Vertiefung und Weltvergessenheit, bei der Akteure völlig in ihrer Aufgabe aufgehen und die Tätigkeit scheinbar mühelos wie ein Automatismus abläuft.  An der Entstehung tranceartiger Zustände scheinen neben Art und Stärke von Anforderungen Entspannung und gleichbleibende rhythmische Bewegungen  beteiligt zu sein.

Das Erlebnis von Flow-Zuständen bedingt klare Zielsetzungen, volle Konzentration auf das Tun, Harmonie und Kontrolle von Anforderung und Fähigkeit jenseits von Angst oder Langeweile. Scheinbare Mühelosigkeit bewirkt ‚Weltvergessenheit’, in der Gefühle für Zeit und Raum oder für Bedürfnisse wie Essen und Trinken vorübergehend suspendiert sind und Erschöpfung oder Schmerzen nicht wahrgenommen werden. Das Modell macht verständlich, warum Menschen Freude empfinden, wenn sie Tätigkeiten ausüben, denen Dritte nichts abgewinnen können oder die sie als unnötig, überflüssig, scheinbar sinnlos werten. Flow-Erlebnisse können bei vielen Tätigkeiten auftreten, wenn sie dank Kompetenz beherrscht werden sowie freiwillig und gerne (mit Autonomie) ausgeübt werden:
  • Kreative Tätigkeiten (Musizieren, Malen, Schauspielen, Tanzen, Basteln, Handarbeit, Editieren von Texten, Fotos, Filmen etc.)
  • Spielerische Tätigkeiten (Brettspiele, Kartenspiele, Computer-Spiele, Ballspiele etc.)
  • Ausübung von Hobbys (Gartenarbeit, Modelleisenbahn, Briefmarkensammeln bzw. Sammeln generell etc.), die genannte kreative Tätigkeiten umfassen können
  • Ausdauer-Sport (Laufen, Wandern, Bergsteigen, Klettern, Segeln, Surfen, Skifahren, Radfahren, Tanz, Kanu/Kajak, Rudern, Schwimmen, Tauchen etc.)
  • Meditation, Yoga, autogene Übungen etc.
  • Eintauchen in Großveranstaltungen von Konzerten, Sport-Events, Demos etc.
  • Teilnahme an religiösen Riten wie Messen, Gottesdienste, Prozessionen etc. 
  • selbst berufliche Aufgaben können bei geeigneten Bedingungen Flow-Erlebnisse vermitteln, wenn sie nicht als fremdbestimmt empfunden werden (z.B. im Rahmen persönlich motivierender Projekte)
An allen Formen von Leben sind steuernde molekulare biochemische Prozesse beteiligt. Ohne diese Prozesse ist keine Art von Leben möglich. Wissenschaftlich strittig ist, ob Leben vollständig durch Materie und molekulare biochemische Prozesse erklärt werden kann (Monismus) oder ob die Erklärung von Leben eine weitere geistige Substanz erfordert (Dualismus). Auf diese Fragen geht Kapitel 4 ein. Zusätzlich wirken Umwelt- bzw. Lebensbedingungen als Kultur auf kognitive Strukturen und auf organische Prozesse ein. Zusammenhänge zwischen mess- und darstellbaren Stoffwechselprozessen auf der Molekularebene einerseits sowie mentalen Zuständen des individuellen Bewusstseins andererseits bilden unter dem Einfluss von Kultur ein komplexes, schwer durchschaubares Bedingungsgeflecht.
 
 
5.4 Produktion von Bedürfnissen und von hedonistischem Glück 

Unbewusste biochemische Prozesse, die als emotionale und motivationale Impulse wahrgenommen werden, steuern Aktivierung und Sättigung von Bedürfnissen. Bedürfnisse resultieren nicht allein aus unmittelbaren Lebensanforderungen, wie sie Ernährung, biologische Reproduktion, soziale Selektion, Kooperationsanforderungen etc. darstellen. Zusätzlich wirken kognitive Fähigkeiten, Kommunikation und Interaktion modellierend auf Bedürfnisse ein und ermöglichen Plastizität von Bedürfnissen.

Die Koppelung elementarer neurophysiologischer Mechanismen mit kognitiven Strukturen weist deutlich über individuelle Befindlichkeiten hinaus. Sie bildet die Voraussetzung für die Entwicklung kultureller Lebensräume und lässt Systeme entstehen, die ihre Dynamik aus selbst kreierten Bedürfnissen speist. Hedonistisches Glücksstreben treibt marktwirtschaftlich organisierte Kulturen an, in denen Marketing und Werbung Gegenstände (Objekte, Symbole und Aktivitäten) des Konsums mit Glücksattributen oder Glücksversprechen ausstattet. Ein hoher Anteil zirkulierender Waren und Dienstleistungen dient der Befriedigung hedonistischer Bedürfnisse gegen Geld. Ob Menschen durch Konsum tatsächlich glücklich werden, wie lange dieses Glück ggf. anhält und welcher Preis dafür zu zahlen ist, sind keine verbotenen, aber offenbar eher irrelevante Fragen. 

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  1. Spektrum: Anlage-Umwelt-Diskussion 
  2. Wikipedia: Anlage-Umwelt-Interaktion
  3. Landeszentrale für politische Bildung: Intrinsische und extrinsische Motivation (PDF) 
  4. Wikipedia: Varianten der intrinsischen Motivation
  5. Wikipedia: Exekutive Funktionen 
  6. Am TransferZentrum für Neurowissenschaften und Lernen Ulm und ähnlichen Einrichtungen durchgeführte wissenschaftliche Studien zeigen, dass exekutive Funktionen nicht nur kognitiv entwickelt und trainiert werden, sondern in jeder Lebensphase auch von körperlicher Aktivität profitieren.
  7. Vortrag Gerhard Roth im Portal Das Gehirn: Wie das Gehirn die Seele formt
  8. Corinna Nüsser, TU Dresden: Neuronale Korrelate von Delay Discounting  
  9. Prozesse der Internalisierung verhelfen zur Aneignung und Verinnerlichung gesellschaftlicher Werte, Sitten, Normen, sozialer Rollen, die im Sozialisationsprozess inkl. konnotierter Fähigkeiten erlernt werden. Internalisierung vermittelt den kulturell geprägten Rahmen des Verhaltens individueller Persönlichkeiten. Lebensläufe von Menschen, in deren Sozialisation sich diese Fähigkeiten nicht ausreichend entwickeln konnten, verlaufen weniger erfolgreich oder prekär. 
  10. Das als Zero-Preis-Effekt bekannte Phänomen nutzen Marketing und auch vermeintlich kostenlose Social Media, was Nutzer letztlich teuer bezahlen. Ein ähnliches Phänomen besteht bei frei zugänglichen öffentlichen Gütern, deren Qualität und Verfügbarkeit potentiell vom Trittbrettfahrerproblem und von der Tragik der Almende bedroht sind. Unkontrollierte Nutzung scheinbar kostenlos vorhandener Natur führt zu Naturverlusten, die uns alle teuer zu stehen kommt. - FAZ: Was nichts kostet, kann nicht viel Wert sein?
  11. Übersichtsartikel Wikipedia:
  12. Quellen zum Thema Persönlichkeit:
  13. Den Begriff für das zuvor bereits bekannte Phänomen und die Flow-Theorie prägte der in den USA lehrende ungarische Psychologe Mihály Csíkszentmihályi.
  14. Quellen zum Thema Flow-Theorie:
  15. Zwei Posts beschreiben das Flow-Phänomen in anderen Kontexten:
 
 
6 Wolfgang Prinz und das Rätsel Bewusstsein
 
Der Kognitionswissenschaftler Wolfgang Prinz unternimmt den kühnen Versuch, das Rätsel des Bewusstseins durch Nachfragen einzukreisen und Antworten auf Fragen nach der Erklärung von Bewusstsein zu formulieren:(1,2) 
  • Wie gelangt Subjektivität in ein subjektloses Universum?
  • Was müssen Erklärungen von Bewusstsein leisten?
  • Wie entsteht individuelles Bewusstsein?
 
6.1 Wie gelangt Subjektivität in ein subjektloses Universum?
 
Physikalistische Perspektiven betrachtet Bewusstsein als eine Eigenschaft von Materie, die man Lebewesen zuschreibt, ohne jedoch anzunehmen, dass diese Eigenschaft tatsächlich als Gegenstand objektiver Wissenschaft existiert, weshalb sie als Gegenstand von Wissenschaft ausscheidet. Wer Bewusstsein als Gegenstand wissenschaftlicher Erklärung ernst nimmt, trifft auf das harte bzw. schwierige Problem des Bewusstsein.(Siehe 1.1)
 
 
6.2 Bewusstsein definieren
 
Eine Erklärung von Bewusstsein muss zunächst den Begriff inhaltlich definieren. Prinz bezieht Bewusstsein auf einen Zustand bewusster mentaler Inhalte, die wir im Unterschied zu unbewussten, vorbewussten oder zu nicht bewusstseinsfähigen Inhalten wahrnehmen und beschreiben können. Mit den Worten von Prinz erzeugen Gegenstände im Zustand des Bewusstseins eine bewusste Repräsentanz der Situation und ihres Inhaltes. Wie diese Aussage zu verstehen ist, erklärt Prinz anhand eines Beispiels:
 
Wenn wir etwa während eines Spaziergangs in ein Gespräch verwickelt sind, das unsere ganze Aufmerksamkeit beansprucht, ist unsere bewusste Wahrnehmung auf den Inhalt des Gesprächs und auf die Gesprächssituation selbst konzentriert. (…) Andere Merkmale der Situation – nämlich die Szenerie, die wir durchschreiten – nehmen wir mit Bewusstsein nicht zur Kenntnis. Natürlich kann kein Zweifel darin bestehen, dass diese Informationen verarbeitet werden, denn andernfalls wäre nicht zu erklären, dass wir, obwohl ins Gespräch vertieft, voll in der Lage sind, unsere Schritte umgebungsgerecht zu steuern. Die Verarbeitung erzeugt aber keine bewusste Repräsentation, die auf das implizit anwesende Ich bezogen ist.


563 Was müssen Erklärungen von Bewusstsein leisten?

Eine Theorie des Bewusstseins muss die Rolle des implizit anwesenden Ich erklären. Erklärungen dieser Art erfordern Zweierlei: die Spezifikation von Leistungen (d.h. Nutzen bzw. Vorteile, von denen ein Individuum durch die ein implizit anwesendes Ich profitiert) sowie die Spezifikation von Mechanismen (d.h. die Art und Weise, in der diese Leistungen erbracht werden). 
 
Da sich das Ich und dessen Arbeitsweise empirischer Beobachtung entziehen und daher in physikalistischen Perspektiven nicht als Gegenstände objektiver Wissenschaft gelten, beruhen Antworten auf Fragen nach Leistungen und Mechanismen des Ich auf plausiblen Narrativen, die erklären, wann in nicht exakt zu spezifizierender Zeit aufgrund welcher Nutzenvorteilen das mentale Ich entstanden ist. 
  • Die Frage nach den Leistungen des Ich wird üblicherweise funktionalistisch mit der Annahme beantwortet, dass Homo sapiens mit der evolutionären Hervorbringung einer solchen Instanz Fitnessvorteile gewinnt.
  • Auf Fragen nach der zeitlichen Entstehung des Ich sind keine belastbaren Antworten möglich, weil menschliche Frühgeschichte anhand fragmentarischer Fossilien nur unvollständig rekonstruierbar ist. Es können jedoch Voraussetzungen benannt werden.
    • Als notwendige Bedingung müssen über einfache Lautartikulierung hinaus  Fähigkeiten zur Abstraktion mittels Zeichensystemen und deren Codierung in Sprache ausgebildet sein. Der Sprachursprung fällt mangels empirischer Voraussetzungen in einen nicht datierbaren Zeitraum. 
    • Der Philosoph und Soziologe Georg Simmel (1858-1918) nimmt an, dass Individualität erst unter Bedingungen sozialer Differenzierung, also in komplexeren sozialen Gemeinwesen entsteht und erklärt diesen Zusammenhang in seinem Modell sozialer Kreise. In sozial differenzierten Gemeinwesen sind Menschen Angehörige verschiedener sozialer Kreise (z.B. Familie, Beruf, Religionsgemeinschaft, Bürger, Käufer, Verkäufer, Verkehrsteilnehmer, Vereinsmitglied etc.), die unterschiedliche Verhaltensanforderungen stellen und daher Fähigkeiten zur Übernahme situationsspezifisch wechselnder und sich mehr oder weniger stark unterscheidender Rollen erfordern. Innerhalb einer Person gelingt die Integration unterschiedlicher und möglicherweise auch widersprechender Anforderungen und Verhaltensmuster mit der Ausbildung von Individualität, durch die sich das Ich als eine eigene Instanz versteht.
  • Kapitel 5 beschreibt ein alternatives Erklärungsmodell. Von Wolfgang Prinz identifizierte erforderliche Mechanismen für die Entstehung des Ich-Bewusstseins beschreiben die nachfolgenden Kapitel 4.4 und 4.5.
 
6.4 Mechanismen der Entstehung des Ich
 
Die Evolution von Bewusstsein erfordert als Voraussetzung zwei aufeinander aufbauende Entwicklungsschritte, die Prinz als duale Repräsentation und als personale Attribution bezeichnet.
  • Als duale Repräsentation definiert Prinz die Fähigkeit zur symbolischen Repräsentation abwesender Sachverhalte mittels Sprache (von Prinz als Vergegenwärtigung bezeichnet), die es ermöglicht, Wahrnehmungen von Situationen von ihrer symbolischen Repräsentation zu trennen.
  • Im zweiten Schritt entsteht als personale Attribution die Fähigkeit, selbsterzeugte Vergegenwärtigungen als Kommunikationshandlungen zu interpretieren.
 
6.4.1 Duale (symbolische) Repräsentation
 
Kognitive Mechanismen der Entstehung bewusster Inhalte beschreiben Erklärungsmodelle unterschiedlich. Konsens besteht jedoch darüber, dass hierzu eine Struktur mit mindestens zwei Repräsentationsebenen vorausgesetzt ist und dazu befähigt, situativ wahrgenommene Inhalte von gegenwärtig nicht wahrnehmbaren symbolisch repräsentierten sprachlichen Inhalten zu unterscheiden und funktional getrennt parallel zu verarbeiten. 

Die Entwicklung dieser Fähigkeit "(...) macht eine tiefgreifende Erweiterung der kognitiven Verarbeitungsarchitektur erforderlich. Erforderlich wird jetzt eine Architektur, die zwischen Vordergrund- und Hintergrundverarbeitung unterscheidet und die es erlaubt, vorübergehend vergegenwärtigte Information im Vordergrund zu verarbeiten und gleichzeitig im Hintergrund die Verarbeitung der aktuellen Wahrnehmungsinformation fortzusetzen – jedenfalls so weit, dass elementare Grundfunktionen intakt bleiben, wie z. B. die Bewegungssteuerung oder auch Orientierungsreaktionen, mit denen der Organismus auf überraschende Reize reagiert."
 
 
6.4.2 Personale Attribution

Auf der Basis einer dualen Repräsentationsarchitektur entwickelt sich als Erweiterung die Fähigkeit, sprachliche Inhalte nicht nur von außen (extrinsisch) zu empfangen, sondern auch von innen (intrinsisch) als Gedanken, Erinnerung, Phantasien symbolisch zu repräsentieren. Während von außen angestoßene sprachliche Mitteilungen im Rahmen wahrgenommener Kommunikationshandlungen ausgetauscht werden, sind intern erzeugte Gedanken nicht notwendig mit Kommunikationshandlungen verknüpft. Mit diesem Sachverhalt entsteht das Attribuierungsproblem der Erklärung einer Instanz, die Gedanken erzeugt und diese mit wahrgenommenen Situationen verknüpft. Prinz identifiziert zwei Lösungsoptionen des Attribuierungsproblems:
  • Gedanken werden als Stimmen personaler Autoritäten aufgefasst (Götter, Priester, Könige, Ahnen, Geister etc.), die in der Situation vermeintlich unsichtbar anwesend sind und zum Akteur sprechen.
  • Gedanken sind Stimmen des eigenen Ich, das als eine eigenständige personale Instanz wahrgenommen wird.
Evolutionsgeschichtlich ist anzunehmen, dass die erste Lösung älter ist. Wann und wie der Übergang zur zweiten Lösung stattfand, ist nur spekulativ erklärbar. Eine solche Spekulation entwickelte der US-amerikanische Psychologe Julian Jaynes (1920-1997), dessen Theorie das Kapitel 1.5 betrachtet.
 
 
6.5 Schlussfolgerungen des Erklärungsmodells
 
6.5.1 Politische Implikationen
 
Aus den beiden Lösungen des Problems personaler Attribution resultieren unterschiedliche politische Implikationen:
  • Soziale Gemeinschaften, in denen Verhalten aus Stimmen weltlicher oder überweltlicher personaler Autoritäten abgeleitet wird, bringen Eliten hervor, die für sich die Rolle natürlicher Autoritäten in Anspruch nehmen und daraus die Legitimation von Herrschaft beziehen.  
  • Wenn das Ich zur personalen Autorität wird, verlieren autoritäre Konstruktionen von Göttern und Eliten ihre Legitimation und werden von Organisationsformen abgelöst, die Quellen des Handelns als moralische Prinzipien in Akteuren verankern.
 
6.5.2 Psychologische Implikationen 
 
Prinz deutet das Ich als eine Erfindung zur Lösung des Attribuierungsproblems. Nachdem das Ich konstituiert ist, manifestiert es sich in mentalen Prozessen als Bewusstsein seiner selbst.  Erst mit der Entwicklung eines Ich-Konzepts verstehen sich Individuen als Personen mit kohärenter Biografie. Wenn das Ich erst einmal als personale Quelle konstituiert ist, nimmt es über Zeit und Raum hinweg als vermeintlich identische Autorität an sozialen Situationen teil. 
 
Aus diesem Szenario folgt als Konsequenz, dass das Ich keine fundamentale mentale Instanz ist, als das es Menschen vermeintlich wahrnehmen und wertschätzen, sondern ein in Lernprozessen gebildeter und in sozialen Interaktionen geformter mentaler Inhalt. Das Ich agiert jedoch wie eine mentale Instanz, die in sozialen Interaktionen mentale Inhalte erzeugt. Das Ich entsteht als ein kulturell geprägtes soziales Konstrukt! Die soziale und kulturelle Umwelt eines Individuums bestimmen vermutlich nicht absolut, aber mit dominanten Anteilen, welches Ich ein Individuum ausprägt.
 
 
6.5.3 Soziale Implikationen 
 
In kulturell modellierten Prozessen des sozialen Austausch wird das subjektive Ich durch Zuweisung ich-förmiger mentaler Strukturen mittels Fremdzuschreibung und Selbstzuschreibung erzeugt (was Georg Simmel weniger eloquent, aber leichter verständlich mit anderen Worten ähnlich beschreibt). Modellierende Ergänzungen und Erweiterungen erfahren die Rolle und der Status von Bewusstsein durch wissenschaftliche Reflexion. Aus diesen Überlegungen folgt: 
 
"Die Ich-Förmigkeit unserer mentalen Organisation (ist) kein Naturphänomen (...), sondern ein kulturelles Artefakt, das in Attributionsprozessen konstituiert wird. (...) Einheitlichkeit und Konsistenz des Ich sind keine natürliche Notwendigkeit, sondern eine kulturelle Üblichkeit."
 
Vor diesem Hintergrund sind nicht normgerechte Ich-Konstruktionen psychischer Erkrankungen als Ich-Konstruktionen zu verstehen, die, aus welchem Grund auch immer, den kulturell normalen Weg der Ich-Konstitution nicht gefunden haben:
  • (Schizophrene) "Wahnpatienten leiden darunter, dass ihnen das genormte Attributionsschema nicht zur Verfügung steht, welches die Quellen der Gedanken im Ich lokalisiert. Deshalb sind sie darauf angewiesen, den Ursprung ihrer Gedanken, Vorstellungen und Wünsche auf andere Weise zu erklären. Sie führen sie dann auf personale Quellen zurück, die unsichtbar anwesend sind – wie Angehörige, Ärzte, berühmte Personen oder Außerirdische. Oft konstruieren sie auch Wirkungsmechanismen, die plausibel machen, wie die von diesen Quellen ausgehenden Gedanken übertragen werden, etwa durch Stimmen oder Bilder, die über Strahlen oder Drähte weitergeleitet werden, neuerdings auch oft über Telefone, Funkgeräte oder Computer."
  • Während Wahnpatienten das Ich fehlt, haben multiple Persönlichkeiten mehrere unabhängige Persönlichkeiten gebildet, von denen jede ein Eigenleben führt, sodass sich die Persönlichkeit aufspaltet.
Abschließend betrachtet Wolfang Prinz die Frage, "ob und wie weit andere Lebewesen als Menschen über ichförmige mentale Organisation und Bewusstsein verfügen und ob es auch sein kann, dass es Menschen gibt, die nicht darüber verfügen" und kommt zu zwei Ergebnissen:
  • Auch wenn Menschen z.B. Hunde so behandeln, als seien sie Menschen, entwickeln Hunde keine ichförmige mentale Organisation, weil ihnen die notwendige Voraussetzung der dualen Repräsentation fehlt.
  • Wenn Menschen ohne soziale Interaktionen aufwachsen, können sie keine personale Attribution entwickeln, d.h. sie leben ohne Ich-Bewusstsein.
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  1. Wolfgang Prinz, „Wie das Bewusstsein erfunden wurde“, in Denkströme. Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, Heft 2 (2009), http://www.denkstroeme.de/heft-2/s_49-63_prinz
    Aussagen und Zitate des Kapitels 1.3 beziehen sich auf den angegebenen Text und sind teilweise um eigene Anmerkungen ergänzt.
  2. Eine detaillierte Darstellung unter Berücksichtigung neuerer Veröffentlichungen bietet Wolfgang Prinz' Buch: Bewusstsein erklären, Berlin 2021
 
 
7 Julian Jaynes' Theorie der Erfindung des Selbst(1)

Die allgemeine Idee eines 'geteilten Selbst' (im Gegensatz zu einem 'einheitlichen Selbst') findet Unterstützung durch psychologische und neurologische Studien. Bewusstsein im Sinne von Selbst- oder Ich-Brewusstsein hält der US-amerikanische Psychologe Julian Jaynes (1920-1997) für eine rein kulturelle Erfindung aus jüngerer Zeitgeschichte. Wie sich der evolutionäre Übergang von einem geteilten Selbst zu einem einheitlichen Selbst vollzogen hat, beschreibt Jaynes in einem mentalen Modell mit der neurowissenschaftlichen Hypothese einer bikameralen Psyche (Zweikammernverstand).(2)
 
In der Fachwelt ist dieses Modell umstritten.Wolfgang Prinz bekennt sich nicht explizit zu diesem Modell, aber er nimmt es ebenso ernst wie der kanadische Neuroanthropologe und kognitive Neurowissenschaftler Merlin Donald und wie der Philosoph Daniel Dennett, der als einer der führenden Vertreter der Philosophie des Geistes gilt. Bemerkenswert ist, dass Jaynes den Zusammenbruch der bikameralen Psyche in einem Zeitraum verortet, der einem als Achsenzeit bezeichneten angenommenen Epochenumbruch unmittelbar vorausgeht und als Auslöser dieses Umbruchs aufgefasst werden kann.(3)
 
 
7.1 Mentales Modell der bikameraler Psyche
 
Jaynes rekonstruiert die evolutionäre Entwicklung des menschlichen Bewusstseins anhand der zentralen Hypothese einer bikamerale Psyche, die er als eine hypothetische Vorstufe des menschlichen Bewusstseins im Sinne des Ich-Bewusstseins versteht.
 
Das mentale Modell der bikameralen Psyche unterscheidet kognitive Funktionen des Gehirns zwischen einem sprechenden und ausführenden sowie einem zuhörenden und gehorchenden Teil, die das Verhältnis zwischen Gott (befehlender Teil) und Mensch (abhängiger Teil) realisieren. In diesem Zustand denken und handeln Menschen ähnlich wie Schizophrene und treffen in Situationen keine bewusste eigene Entscheidungen, sondern halluzinieren die Stimme einer nicht physisch, aber vermeintlich mental anwesenden Autorität, die verbindliche Ratschläge oder Befehle erteilt.
 
 
7.2 Annahmen der Entstehung bikameraler Psyche
 
Jaynes fasst bikamerale Psyche als Endstadium der Entwicklung von Sprache auf, den Jaynes als vermeintlichen Epochenwechsel versteht, der vor ca. 9000 Jahren in Mesopotamien als neolithische Revolution den Übergang von Jäger-Sammler-Kleingruppen zu Ackerbau- und Stadtkulturen einleitete.(4)
 
Bikamerale Psyche versteht Jaynes als einen funktionalen Mechanismus sozialer Kontrolle, der mit dem Übergang zu Ackerbau- und Stadtkulturen als göttliche Kontrollinstanzen religiöser Systeme entstanden ist bzw. diese kulturelle Entwicklung als bikameraler Zivilisation erst möglich machte und ihr mittels religiöser Institutionen soziale Stabilität verschaffte. Jaynes nimmt an, dass in dieser Phase kultureller Evolution halluzinierte Stimmen von Königen und Göttern das Entstehen und Funktionieren komplexerer sozialer Gemeinschaften, in denen nicht mehr jeder jeden kennt, notwendige Voraussetzungen bildeten.
 
Das Aufkommen von Schrift als fixierter Sprache nimmt Jaynes funktional als Resultat bikameralen Denkens an. Komplexe Kulturen erzeugen unter Anonymität Freiheiten von Denk- und Verhaltensweisen, die im Interesse der Persistenz von Kulturen eingehegt werden müssen. Das Festhalten von zuvor nur gehörten Geboten und Weisungen und deren Umwandlung in Gesetzen erhöht den Verbindlichkeitsgrad von Verhaltensnormen.
 
Spuren dieser mentalen Struktur identifiziert Jaynes an der Schwelle zur Entstehung menschlichen Bewusstseins bei Homer in der Ilias sowie im Alten Testament der Bibel.  Religion, Hypnose, Besessenheit, Schizophrenie sowie das Bedürfnis nach externer Autorität bei Entscheidungsfindungen versteht Jaynes als Relikte des Zweikammergeistes in der Gegenwart. (Ergänzen ließe sich ein bunter Strauß mentaler Modelle wie Spiritualität, Esoterik, Aberglaube, Verschwörungstheorien, magisches Denken etc..)
 
 
7.3 Annahmen der Auflösung bikameraler Psyche
 
Vor ca. 3000 Jahren datiert Jaynes die Auflösung bikameraler Zivilisation, mit der die Entstehung des menschlichen Ich-Bewusstseins einsetzte. Die Abkehr vom Bikameralismus versteht Jaynes als den Beginn der Selbstbeobachtung und des Bewusstseins, wie wir es heute kennen. Das bikamerale Modell begann zu versagen, weil sich mit zunehmender sozialer Dynamik und mit ihr sich ausbreitender sozialer Komplexität eine Zweikammer-Denkweise nicht länger bewährte.
 
Massenmigrationen des zweiten Jahrtausends v. Chr. und Interaktionen mit wandernden Stämmen schufen eine Flut neuer Anforderungen, die im Interesse des kulturell-sozialen Überlebens flexibleres, kreativeres und schnelleres Denken verlangte. Ebenso wie sich zuvor Bikameralität als neurologische Anpassung an soziale Komplexität entwickelte, zwang kulturelle Notwendigkeit erneut zur Entwicklung neuer Lösungen in Form von Ich-Bewusstsein und Selbsterkenntnis. Bewusstsein fasst Jaynes nicht als biologische, sondern als kulturelle Evolution auf.
 
Die Bedeutung des eigenen Bewusstseins deutet Jaynes im praktischen Alltag eines Individuums als Nebenrolle und oftmals auch als Störquelle, wenn es um die routinierte Praktizierung eingeübten Verhaltens geht. Bei routinierten Tätigkeiten wie Gehen, Schwimmen, Radfahren, Singen, Musizieren etc. sind Kontrollen des Bewusstseins weitgehend ausgeschaltet, weil sie stören würden. Eingeschaltet ist das Bewusstsein dagegen in Lernprozessen oder bei Konzentration verlangenden anspruchsvollen Aufgaben, die keiner Routine unterliegen. 
 
Jaynes nimmt an, das Bewusstsein die Illusion umfassender Erkenntnis produziert, was insbesondere für das eigene Seelenleben und Vorstellungen von Kontinuität und Identität des Selbst gilt. Verständlich macht Jaynes diesen Sachverhalt am Beispiel einer Taschenlampe, die in einen dunklen Raum gerichtet ist. Ein Betrachter kann nur Objekte im Lichtkegel der Taschenlampe sehen. Objekte außerhalb des Lichtkegels sind für das wahrnehmende Bewusstsein nicht lediglich unsichtbar, sondern ohne Vorwissen nicht existent. 
 
Jaynes Hauptthese besagt, dass sich die Auflösung bikameraler Strukturen und die Entwicklung des Ich-Bewusstseins zwischen  den Jahren 1300 und 700 v. Chr. vor der klassisch-griechischen Hochkultur in den sog. dunklen Jahrhunderten vollzogen haben. Den Übergang macht Jaynes literaturwissenschaftlich an den homerischen Epen Ilias und Odyssee fest. Helden der Ilias hatten kein Selbst und erlebten ihre Gedanken, Gefühle, Absichten nicht als Produkte eines eigenen Ich, sondern als Anweisungen von Göttern. Dagegen verfügte Odysseus über ein denkendes und handelndes Ich, das sich an die Stelle von Göttern  setzte. Genau diesen Übergang beschreiben Vorstellungen einer Achsenzeit, mit der sich der Post Evolution von Religion im Kontext von Kultur [Link nachtragen! KK] befasst.

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  1. Soweit nicht anders angemerkt, basiert Kapitel 7 auf folgenden Quellen:
  2. Julian Jaynes Society: Der Ursprung des Bewusstseins durch den Zusammenbruch der Bikameralen Psyche - Original: The Origin of Consciousness in the Breakdown of the Bicameral Mind. Boston/New York 1976
  3. Annahmen einer Achsenzeit betrachtet der Post Evolution von Religion im Kontext von Kultur [Link nachtragen! KK] im Kapitel 1.4: Umbrüche der Achsenzeit
  4. Zeitliche Datierung und revolutionärer Charakter dieser Entwicklung sowie Epochenkonstrukte resultieren aus spekulativen Vorstellungen linearer kultureller Evolution, die wissenschaftlich vielfach widerlegt sind.
 
 
8  Merlin Donalds Theorie kognitiver Evolution(1)
 
Merlin Donald versteht Bewusstsein systemisch als Hybridprodukt einer Symbiose von Gehirn (Organ eines Lebewesens) und Kultur (von Menschen erschaffene Netzwerke von Artefakten). Vermutlich entstand diese Symbiose als eine Mutationen, die Veränderungen des präfrontalen Cortex bewirkte und sich aufgrund von 4 Voraussetzungen evolutionär zu dem entwickeln konnte, was als Bewusstsein bezeichnet wird:
  • hohe neuronale Plastizität des Gehirns
  • hohe Kapazität des Gedächtnisses
  • erweiterte exekutive Funktionen des Gehirns
  • neuartige kognitive Strategie in Form einer Symbiose zwischen individueller interner Hirnaktivität und kollektiver externer Kultur
Diese vier Bedingungen befähigen in einer dynamischen Umwelt zur Selbstregulation, zielgerichteten Handlungssteuerung, Willensbildung und Selbstmotivation sowie zum symbolischen Denken und zur kollektiven Kooperation. Unter diesen Voraussetzungen erschafft kollektives Bewusstsein Kultur, die ihrerseits Bewusstsein formt. Kultur und Bewusstsein treiben im Sinne reziproker Co-Evolution die Dynamik sich selbst erzeugender und verändernder Entwicklungsprozesse von Kultur und Bewusstsein.(2)
 
Evolutionäre Entwicklungsprozesse dieser Fähigkeiten entfalten sich gemäß Merlin Donalds Modell in vier kulturellen Phasen, die sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern ergänzende Erweiterungen darstellen, bei denen Fähigkeiten früherer Phasen erhalten bleiben und neben neu hervorgebrachten Fähigkeiten weiter bestehen und relevant bleiben:
  1. Die lt. Donald vor 5 Millionen Jahren beginnende früheste kulturelle Phase bezeichnet Donald als episodische Kultur, in der alle höheren Säugetiere und frühe Menschen gelernt haben, unmittelbare Situationen ihrer Umwelt zu verstehen und darauf zu reagieren.
  2. Vor ca. 2,5 Millionen Jahren entstand eine vorsprachliche, aber nicht unbedingt vorstimmliche mimetische Kultur, in der Individuen unter Einsatz ihres Körpers und unter Verwendung expressiver Gesten im Sinne des Austauschs von Signalen miteinander kommunizieren. In der Phase mimetischer Kultur entwickelten sich vorsprachliche Ausdrucksformen wie Rituale und Tanz sowie Gesten wie Händeschütteln, Kopfschütteln, Kopfnicken, Lächeln etc. oder auch symbolische Körperhaltungen, die Unterlegenheit, Überlegenheit, Freundlichkeit, Feindlichkeit, Zugewandtheit, Gemeinsamkeit etc. symbolisch kommunizieren und bis heute genutzt und universell verstanden werden.
  3. Mit der Entwicklung von Sprache entstand vor ca. 150.000 Jahren (gemäß Donalds spekulativer Annahme) durch Spracherwerb und mit der Erfindung von Symbolen mythische Kultur, die Donald als ein kollektives System erklärender und regulativer Metaphern beschreibt, das über episodische Wahrnehmungen von Ereignissen und mimetische Rekonstruktionen von Episoden hinausgeht. Mythen durchdringen alle Lebensbereiche und vermitteln via oralem Austausch von Metaphern und Narrativen ein umfassendes Verständnis des Lebens.(3) Mythen operieren nicht mit rationalen Argumenten, sondern erzählen Geschichten, die empirisch nicht prüfbar (falsifizierbar) sind.(4)
  4. Die vierte Stufe bezeichnet Donald als theoretische Kultur. Schlüsselelemente dieser Kultur bilden grafische Darstellungen (Körperbemalungen, Sandbilder, Höhlenmalerei, Petroglyphen etc.), mit denen Grundlagen für externe symbolische Gedächtnisse durch Verschriftlichung von Sprache (Literalität) und Voraussetzungen für Theoriebildung entstehen. Wenn sich Gehirne mit externen Gedächtnisnetzwerken verknüpfen, werden sie vorübergehend Teil dieses Netzwerkes, das die individuelle Gedächtnisstruktur verändert und die kognitive Steuerung übernimmt. Mimetische, mythische und theoretische Kultur schließen sich nicht gegenseitig aus. Sie bilden auf der vierten Stufe kultureller Evolution eine Synthese, in der sie nicht verschmelzen, sondern kontextabhängig ihre Bedeutung bewahren.(5)

8.1 Theorie und Narrativ bei Merlin Donald

Den Begriff Theorie verwendet Donald als Unterscheidung vom Narrativ (Geschichte, Erzählung, Storytelling), das Informationen mit Emotionen verknüpft und der sozialen Kartierung dient. In Abgrenzung von Narrativen mythischer Kultur bezeichnet theoretische Kultur die Fähigkeit zum analytischen und schlussfolgernden Denken im Sinne eines Denkens zweiter Ordnung, das Grundlagen seiner Darlegungen berücksichtigt, widersprüchliche Erfahrungen auf einer höheren Abstraktionsebene kritisch reflektiert und sich Kritik von Außen stellt. Den von einigen Autoren als Achsenzeit diskutierten Durchbruch dieses Denkens zweiter Ordnung verorten Donald und andere Autoren in der frühen griechischen Antike vor ca. 800 Jahren v. Chr..(6) Gemäß diesem Verständnis resultiert die theoretische Haltung dieses Denkens auf einer Transformation von Bewusstseinsstrukturen, die den Keim einer neuen Evolutionsstufe rationaler Kultur sowie von erweiterter menschlicher Kognition als Basis neuzeitlichen wissenschaftlichen Denkens bildet.

Mit der Erfindung von Grafik, Bemalungen und Schriftsystemen entstehen externe Gedächtnisspeicher außerhalb des Gehirns. Externe Gedächtnisspeicher sind Voraussetzung einer theoretischen Kultur, die zum analytischen Denken, zum Nachdenken über das Denken, zum Denken auf Metaebene, zur Säkularisierung des Denkens und zur Theoriebildung befähigt. Theoretische Kultur setzt sich jenseits des menschlichen Alltagsdenkens als fachspezifische Errungenschaft im Sinne von Wissenschaft durch. 
 
Rationales analytisches Denken mindert zwar die Glaubwürdigkeit von Mythen, es verdrängt jedoch nicht narratives Denken, sondern ergänzt es. Mythenspekulationen bleiben erhalten und werden unter dem Rechtfertigungsdruck analytischen Denkens durch Radikalisierung immunisiert. Menschen bleiben weiterhin episodische, mimetische und mythische Geschöpfe, die ihr Alltagsleben wie zuvor mit Face-to-Face-Interaktionen und Face-to-Face-Ritualen gestalten, die bereits in stammesgeschichtlicher Zeit entstanden sind und in ähnlicher Art und Weise bis heute fortbestehen. 
 
Theorien können Narrative kritisch analysieren. In Naturwissenschaften ersetzen Theorien zuvor als real angenommene Geschichten. Theorien können Narrative jedoch nicht in allen Lebensbereichen ersetzen. Ethische, politische, religiöse Fragen nach dem Guten und Richtigen basieren auf Narrativen. Narrative beschreiben die Art und Weise, wie wir Leben sowie persönliche und kollektive Identität verstehen. Theoretische und mythische (narrative) Kultur bezeichnen zwei grundlegende, unverzichtbare Denkweisen. Theorien erzählen keine Geschichten. Geschichten erzählen Narrative, die den Bezug zur Welt herstellen, Persönlichkeiten von Menschen konstituieren sowie wechselseitige Verständnisse von Persönlichkeiten erzeugen und so Kooperation ermöglichen. Theorien und Narrative interagieren miteinander. Auch Theorien benötigen Narrative, um sich durchsetzen zu können. Umgekehrt können Theorien an Narrativen scheitern.

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  1. Merlin Donald: Triumph des Bewusstseins. Die Evolution des menschlichen Geistes (2008 bei Klett-Cotta erschienen, aktuell vergriffen, aber antiquarisch verfügbar). 
(Original: A Mind So Rare: The evolution of human consciousness, Norton, 2001)
    Rezensionen:
  2. Zeitliche Datierung und revolutionärer Charakter dieser Entwicklung sowie Epochenkonstrukte resultieren aus spekulativen Vorstellungen linearer kultureller Evolution, die wissenschaftlich vielfach widerlegt sind.
  3. Bewusstsein ist ein diffuser, schwer bestimmbarer Begriff, der auf mentale Zustände verweist, die sich objektiver Beobachtung von außen entziehen und mit dem intuitiven subjektiven Erleben der eigenen Persönlichkeit korrespondieren. Wissenschaftlich gilt Bewusstsein als ein noch nicht entschlüsseltes Rätsel, das in der Gegenwart 'künstlicher Intelligenz' Grenzen aufzeigt.
    Das komplexe Themenfeld Bewusstsein betrachten Kapitel 1 dieses Posts.
  4. Der Begriff Mythos ist je nach Kontext mit unterschiedlichen Bedeutungen belegt (Wikipedia: Mythos). Robert Bellah übernimmt eine abstrakte Definition des deutschen Altphilologen Walter Burkert (1931-2015): "Mythen sind traditionelle Erzählungen, die sich sekundär und partiell auf etwas von kollektiver Bedeutsamkeit beziehen." (Bellah: Der Ursprung der Religion, a.a.O., S. 480)
    Bellah weist darauf hin, dass sich Bedeutungen der Begriffe Erzählung, Narrativ (sinnstiftende Erzählung), Mythos und Geschichtsschreibung überlappen. Wenn Narrative mit kollektiven Bedeutungen aufgeladen sind, handelt es sich um Mythen. Während Mythen Erzählungen über Interaktionen zwischen Menschen und überirdischen Mächten enthalten können, die keiner zeitlichen Einschränkung unterliegen, erzählt Geschichtsschreibung menschliches Handeln und deren Folgen in der Vergangenheit. (Bellah: Der Ursprung der Religion, a.a.O., S. 480) 
  5. Bellah: Der Ursprung der Religion, a.a.O., S. 548f.
  6. Bellah: Der Ursprung der Religion, a.a.O., S. 545ff.
 
 
9 Haben Tiere Bewusstsein

Aus psychologischen Experimenten ist bekannt, dass etliche Tierarten auch ohne Sprachkompetenz über numerische Kompetenz im Sinne eines Schätzalgorithmus verfügen, jedoch über keine diskreten Repräsentationen von Zahlen. Kleinkinder verfügen über einen vergleichbaren Schätzalgorithmus. Offensichtlich ist dieser Schätzalgorithmus als numerische Repräsentation der Umwelt für das Überleben einer Art von Bedeutung und hat sich daher evolutionär entwickelt.(1,2) Möglicherweise können einige Tierarten sogar zählen, aber sie können ebenso wie Kleinkinder nicht rechnen. Offenbar bedarf es hierzu höherer kognitiver Kompetenzen, die Bewusstsein voraussetzen. Das bedeutet jedoch nicht, dass nicht auch Tiere über Bewusstsein verfügen können. Bewusstsein ermöglicht mentale Zustande, die sich evolutionär in unterschiedlicher Qualität entwickelt haben.(3) Methodischer Standard für Untersuchungen zu Bewusstsein bei Tieren ist der Spiegeltest. Einige Ergebnisse dieser Tests sind bemerkenswert. Sie werden aber auch kritisch diskutiert.(4)
 
Bezüglich der Frage, ob und wie weit andere Lebewesen als Menschen über ichförmige mentale Organisation und Bewusstsein verfügen, kommt Wolfgang Prinz zu dem Ergebnis, dass Tieren eine ichförmige mentale Organisation abzusprechen sei, weil Tieren die notwendige Voraussetzung der dualen Repräsentation fehle [gemeint ist die Fähigkeit zur Symbolbildung]. Diese Aussage besagt nicht, dass Tiere kein Bewusstsein haben. Im Gegenteil erklärt Wolfgang Prinz:
Von diesen Tieren [gemeint sind Wirbeltiere, KK] glauben wir nämlich, dass mit den Mitteln dieser Wissenschaften nicht alles gesagt werden kann, was über sie zu sagen ist. Wir schreiben ihnen ein darüber hinausgehendes Innenleben zu, abgestuft vielleicht, aber im Prinzip ähnlich und verwandt mit unserem eigenen bewussten Erleben.
 
Tier-Psychologen und Neurowissenschaftler sind sich aufgrund experimenteller Nachweise zu Fragen des Bewusstseins bei Tieren sicher, dass Wirbeltiere ein Ich-Bewusstsein haben, das sich jedoch artenspezifisch in unterschiedlicher Komplexität stufenweise ausprägt. Diese Annahme ist plausibel, weil mit hoher Wahrscheinlichkeit angenommen werden kann, dass sich Bewusstsein nicht erst sprunghaft bei Menschen, sondern evolutionär bei vielen biologischen Arten in unterschiedlicher Qualität entwickelt hat. Im Sinne von Architektur des Gehirns und mentaler Zustände verfügen Tiere je nach Lebensraum über artspezifisch unterschiedlich ausgeprägtes Bewusstsein. Tiere sind lernfähig und können Erlerntes situationsgerecht anwenden. Fähigkeiten zu aufgeschobenen Anwendungen mentaler Zustände haben aber nur höhere Arten entwickelt, die in sich schnell verändernden komplexen Umgebungen leben.
 
Primaten werden sich vermutlich ihrer selbst und ihres Handelns bewusst. Bei Hunden und Elefanten konnte ein Körperbewusstsein nachgewiesen werden. Höhere soziale Tiere scheinen Gefühle für Peinlichkeit zu haben.(5) Rabenvögel verfügen über bemerkenswerte Fäigkeiten.(6) Bewusstsein im Sinne der Fähigkeit zur Symbolbildung bzw. der symbolischen Repräsentationen scheint sich jedoch nur Menschen entwickelt zu haben.
 
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  1. Sibylle Anderl: Zahlenkompetenz als Überlebensfaktor
  2. Dissertation Franco Calouri: Die numerische Kompetenz von Vorschulkindern – Theoretische Modelle (PDF, 278 Seiten9)
    und empirische Befunde
  3. Merlin Donald: Triumph des Bewusstseins, a.a.O., S. 140ff.
  4. Artikel zum Spiegeltest:
  5. Quellen zu Tierbewusstsein:
  6. FAZ: Intelligente Raben: Diese Vögel sind hintersinnige Trickser 
 
 
10 Revolution oder Evolution kognitiver Kompetenz?
 
Nach mehr als 13,8 Milliarden Jahre Vorgeschichte zeigen Funde des afrikanischen Middle Stone Age, dass vor ca. 75.000 Jahren Veränderungen des Denkens stattgefundenen haben müssen, die einige Autoren als kognitive Revolution verstehen.(1) Künstlerische Artefakte wie Schmuckstücke, gemahlene Farbpigmente und Knochenflöten belegen erstmals abstraktes künstlerisches Denken, das in Malerei und Musik Ausdruck fand.(2)
 
Auffassungen einer kognitiven Revolution implizieren eine sprunghafte Zunahme der Komplexität kognitiver Fähigkeiten (Lernfähigkeit, Gedächtnis, komplexe Sprache, kommunikative Kompetenz), die mit der Entwicklung von Intelligenz einhergeht und Vorstellungen des Bewusstseins von sich selbst sowie Fähigkeiten zur Selbstreflexion voraussetzt.
 
Die Annahme einer kognitiven Revolution findet keine ungeteilte Zustimmung. Jürgen Kaube nimmt mit anderen Wissenschaftlern an, dass kulturelle Innovationen nicht über evolutionäre Umbrüche entstanden sind, sondern sich wegen funktionaler Überlegenheit über lange Zeiträume allmählich ausbreiteten. Kaubes Erzählung über Die Anfänge von allem setzt die Entwicklung von Sprache deutlich früher an.(3) Über die erforderliche anatomische Ausstattungen verfügte bereits der in Südafrika gefundene Schädelknochen Florisbad 1, dessen Alter auf 259.000 +/- 35.000 Jahre datiert wird. Die ersten anatomisch modernen Menschen brachten vor etwa 190.000 bis 130.000 Jahren Mittel und Techniken der symbolischen Kommunikation hervor und haben demnach über die erforderliche kognitive Ausstattung und über Sprache verfügt.(4)
 
Ergebnisse einer groß angelegten interdisziplinären Untersuchung in der Panga ya Saidi Höhle nahe der kenianischen Küste sprechen ebenfalls gegen eine vor ca. 70.000 Jahren stattgefundene kognitive oder kulturelle Revolution. In älteren Bodenschichten wurden sorgfältig gefertigte Steinwerkzeuge gefunden, deren Alter auf mehr als 78.000 Jahre datiert wird. Bis zu 67.000 Jahre alte Funde jüngerer Bodenschichten machen durchaus Innovationen deutlich, die jedoch keinen radikalen Wandel von Verhalten zeigen, sondern allmähliche Verbesserungen von Werkzeugen und Anpassungen an veränderte Lebensbedingungen.(5,6)
 
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  1. Yuval Noah Harari setzt in seinem international stark beachteten Buch Sapiens: Eine kurze Geschichte der Menschheit die kognitive Revolution vor 70.000 Jahren an und entfaltet von diesem Startpunkt eine Geschichte kultureller Evolution.
  2. Wikipedia: Middle Stone Age - Blombos-Höhle 
  3. Jürgen Kaube: Die Anfänge von allem, Berlin 2017
  4. Die Evolution des Menschen: Wie, wann und warum entstand Sprache?
  5. FAZ, 12.05.2018: Spektakuläre Steinzeit-Funde in Ostafrika
  6. Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte: Archäologische Ausgrabungen in der Panga ya Saidi Höhle
 
11 Änderungshistorie des Posts
 
15.08.2023   Kapitel 5.3.2: Ergänzung 5 Elemente von Flow 
14.04.2023   Kapitel 1:       Anmerkung 8 eingefügt
01.03.2023   Kapitel 3.6:    neu eingefügt
20.02.2023   Kapitel 1:       Überarbeitung; Ergäzung von Anmerkungen zu Hans-Dieter Mutschler
10.02.2023   Kapitel 1.1:    Ergänzung Bilateria und Zeitleiste
                     Kapitel 3.1:    Ergänzungen zum Prinzip der Zweiseitigkeit 
                     Kapitel 9:       Ergänzung Artikel FAZ in Fußnote 5
08.02.2023   Kapitel 1:       Ergänzungen zu Thomas Metzinger im 1. Absatz und in Anmerkung 1
04.02.2023   Kapitel 1:       Überarbeitung Anmerkung 5
                     Kapitel 3.5.2: Korrektur Anmerkung 2
                     Kapitel 4.1:    Textergänzungen
                                            Korrektur Linkfehler Monismus
03.02.2023   Kapitel 1, 1.1, 1.1.2: Ergänzung Zitate von Thomas Metzinger
26.01.2023   Kapitel 3.1:     Verlinkung kognitive Verzerrung
                     Kapitel 3.1.2:   Kategorien-Blindheit wissenschaftlicher Erklärungen eingefügt
                     Kapitel 3.4:      Kognitive Dissonanzen eingefügt und Inhaltsübersicht angepasst
                     Kapitel 3.5.2:   Internalisierung überarbeitet
                     Kapitel 5:         grundlegende Bearbeitung, Flow integriert
22.01.2023   Kapitel 5.3.2:   Flow eingefügt
                     Kapitel 9:         Ergänzungen: Haben Tiere Bewusstsein?
21.01.2023   Kapitel 3:         neu eingefügt 
                     Kapitelreihenfolge geändert und Inhaltsübersicht angepasst
                     Überarbeitung der Einleitung und Foto hinzugefügt 
                     Neues Kapitel 5 für das Thema Flow reserviert
18.01.2023   Überarbeitung der Einleitung und Kapitel 1
                     Kapitelreihenfolge 7 und 8 vertauscht
                     Ergänzung 'numerische Kompetenz' in Kapitel 7
16.01.2023   Veröffentlichung der Version 2 auf Basis der Vorgängerversion 1

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