Links: Ca. 20.000 Jahre alte Aboriginal Felsmalerei am Nourlangie Rock, Kakadu NP, mit Darstellung mythischer Wesen der
Traumzeit: Namondjok, Namarrgon (Blitzmann), Barrginj (Namarrgons Frau), Kinder und Ahnen (eigene Aufnahme 1997)
Mitte: Himba People der Marienfluss Conservancy, Namibia (eigene Aufnahme 2016)
Rechts: Kölner Altstadt-Rheinpanorama mit Rathausturm, Groß St. Martin, Kölner Dom (eigene Aufnahme 2012 von Deutzer Brücke)
Dieser Post über die Konstruktion und Dekonstruktion des Narrativs vom Fortschritt ist ein Ausschnitt des Posts 3 Was ist Kultur?.
Inhaltsübersicht
1 Konstruktion der großen Erzählung vom Fortschritt
1.1 Entstehung des Fortschrittsparadigmas westlicher Kulturen
2 Dekonstruktion der großen Erzählung vom Fortschritt 2.1 Grenzen des Wachstums
2.2 Struktur wissenschaftlicher Revolutionen
2.2.1 Normalwissenschaft
2.2.2 Paradigmenwechsel
2.3 Von Kuhn angestoßene Veränderungen des wissenschaftlichen Weltbildes
3 Änderungshistorie des Posts
1 Konstruktion der großen Erzählung vom Fortschritt
"Der
wissenschaftliche Fortschritt erzeugt den technischen Fortschritt. Der
technische Fortschritt erzeugt den ökonomischen Fortschritt. Der
ökonomische Fortschritt erzeugt den sozialen Fortschritt. Der soziale
Fortschritt erzeugt den individuellen Fortschritt. Der individuelle
Fortschritt erzeugt – durch die Befreiung von niederer Arbeit durch
Bildung und Wissen – den kulturellen Fortschritt. Der kulturelle
Fortschritt wiederum erzeugt weiteren wissenschaftlichen Fortschritt.
Und so weiter, bis irgendwann das Paradies der Vollkommenheit in einer
Welt des ewigen Fortschritts erreicht wäre."(1)
In der Welt monotheistischer Religionen prägten und prägen teilweise noch immer eschatoligische Vorstellungen eines endzeitlichen Geschehens das Denken von Menschen. Christliche Kulturen kannten bis zum Ende des ausgehenden Mittelalters keinen kulturellen Fortschritt. Die wahrgenommene Welt hatte Gott vermeintlich so eingerichtet, wie sich darstellt, also richtig und gut. Aufgrund des Versagens der Menschheit war der Tag des Weltengerichts unausweichlich und in Kürze zu erwarten.
Seit dem ausgehenden Mittelalter bewirken imperialer Kolonialismus, europäische Expansion, rationalistische Verwissenschaftlichung der Welt und industrielle Revolution ein Umdenken. Zunächst gegen
Widerstand traditioneller Denkweise setzten sich im westeuropäischen
Kulturraum Überzeugungen der universalen Überlegenheit europäischer
Werte durch. Mit wachsender politischer und
wirtschaftlicher Macht breitet sich Deutungsmacht westlicher Denkweise
global aus. Von christlichem
Gedankengut infizierte wissenschaftliche Vorstellungen linearer
Evolution rechtfertigen im Kern dieser Deutungsmacht diskriminierende Auffassungen unzivilisierter Naturvölker, die es zu zivilisieren
gilt. Dieses Denkmuster versteht kulturelle Evolution als
Prozess kontinuierlicher Zivilisierung, mit dem sich zunehmender Fortschritt dank Überlegenheit europäischer Werte sukzessive global ausbreitet.
Seit 1867 veranstaltete Weltausstellungen
präsentieren mit großer Zustimmung aufgenommene öffentliche
Leistungsschauen des Fortschritts. Zunehmender Wohlstand, Verbesserung von Gesundheit und sozialer Sicherheit, Verlängerung
der Lebenserwartung, Ausdehnung individueller
Freiräume und Handlungsoptionen gelten als verdiente Früchte eigener Anstrengungen. Dass
diese Früchte mit Sklaverei, Ausbeutung und Unterdrückung weiter Teile
der Menschheit erkauft sind, bereitet keine Skrupel, sondern gilt als natürliche Selektion der Fitness von Kulturen. An der Spitze einer kulturellen Fortschrittspyramide entfalten vermeintlich fittere Kulturen Dominanz über rückständige heidnische Kulturen, deren Mitglieder über Jahrhunderte als keine vollwertigen Menschen galten (woran Rassisten noch immer festhalten). Naiven Fortschrittsglauben begründen soziale Evolutionstheorien, Empirismus, Positivismus, Liberalismus mit vermeintlich wissenschaftlichen sowie von christlicher und utilitaristischer Ethik gestützten Argumenten. Konträre Auffassungen eines kleinen Kreises Ethnologen galten als wissenschaftlich und politisch irrelevante Positionen von Außenseitern.
Spirituelles, magisches, esoterisches Denken und mit ihm verknüpfte traditionelle Verhaltensweisen sind tief verwurzelt. Der Wandel von eschatologischen zu optimistischen Weltanschauungen verdrängt dogmatische religiöse Lehren erst zeitlich
verzögert. Einsetzende Säkularisierungsprozesse verursachen Legitimationskrisen marginalisierter religiöser Institutionen. Säkularisierungsprozesse lösen ehemals religiös konnotierte Spiritualität keineswegs auf. Spiritualität heftet sich mit Fortfall religiöser Glaubens-Verbote und -Gebote an alternative metaphysische Sinngefüge. Das Spektrum fundamentalistischer Überzeugungen wird nicht kleiner,
sondern breiter und irrationaler.
1.1 Entstehung des Fortschrittsparadigmas westlicher Kulturen
Alle höheren biologischen Arten entwickeln in der Auseinandersetzung mit
ihrer Umwelt Strategien des Überlebens, der Reproduktion und des
existenziellen Krisenmanagements. Einige höhere Arten verfügen in einem weiten Verständnis des Begriffes über Kultur
im Sinne der Fähigkeit, Strategien individuell zu lernen und zu teilen.
Kulturelle Strategien bevorraten Praktiken der Weltbewältigung.
Mit
der evolutionären Entwicklung der menschlichen Art entwickeln sich im
mentalen System primäre Bedürfnisse kohärenter Sinnhaftigkeit. Auf
Lebensrisiken reagiert das mentale System mit Alarmmeldungen, die
als Aufmerksamkeit erzeugende emotionale Angstzustände empfunden werden
und Aktivität erfordern. Die Etablierung externer Kohärenzsysteme
ermöglicht und unter prekären Bedingungen relative Entscheidungs- und
Verhaltenssicherheit und erhöht Lebenschancen.
Nicht
erklärbare empirische Phänomene können auf unbekannte Risiken hinweisen
und erzeugen daher Alarmzustände. Wenn nicht erklärbare empirische
Phänomen regelmäßig auftreten, ohne dass Risiken zu erkennen sind,
stören sie das Koheränzbedürfnis des mentalen Systems und erzeugen kognitive Dissonanzen,
die das mentale System mit Hilfe kausaler Erklärungskonstrukte auflöst.
Narrative der Erklärung von Kausalität befriedigen Bedürfnisse
kohärenter Sinnhaftigkeit, indem sie rational nicht erklärbare
empirische
Phänomene verständlich machen und Ängste vor Risiken des Lebens
reduzieren.
Fähigkeiten
zur evolutionären Kumulierung kultureller Strategien sind eine
spezielle Eigenschaft von Homo sapiens, die ihn von anderen
biologischen Arten absetzt. In diesem Kontext entstanden religiöse
Deutungsmuster und Handlungsvorschriften für kausal nicht erklärbare
empirisch wahrnehmbare Zustände und Ereignisse.
Menschen bevorzugen prägnante Begriffe als Anker eigener abstrakter
Vorstellungen. Die begriffliche Verdichtung einer speziellen Klasse
kultureller Phänomene auf den Begriff Religion vermittelt
implizit Vorstellungen relativ gleichartiger kultureller Deutungsmuster
mit relativ ähnlichen Praktiken. Tatsächlich handelt es sich um einen
vielgestaltigen kulturellen Komplex, der zeitlich, räumlich, ethnisch,
geschlechtlich eine große Bandbreite an Strategien und Praktiken
ausprägt.
Nach mehr als 1000 Jahren setzte um das Jahr 1700 in westlichen Kulturen mit der Aufklärung
und der beginnenden Industrialisierung eine Umkehrung von
Zukunftsvisionen ein. Die Kumulierung von Wissen und Fähigkeiten im
Prozess kultureller Evolution verdrängte zuvor als sicher geltende
Vorstellungen apokalyptischer Eschatologie zugunsten optimistischer
Erwartungen evolutionären Fortschritts. Narrative rechtfertigten
Irrtümer und Kollateralschäden als unvermeidbare Begleiterscheinungen
iterativer Prozesse kulturellen Fortschritts und erwarten mit wachsendem
Fortschritt die Minimierung von Irrtümern und Kollateralschäden gegen
Null.
Im
Kontext der Umwelt kooperierte Homo sapiens 99 % des Zeitraums
seiner Existenz in kleinen Gruppen unter egalitären Bedingungen
weitgehend friedlich und gendergerecht. Vor ca. 10.000 Jahren entstanden
mit der Neolithisierung (Übergang zur Sesshaftigkeit) soziale
Ungleichheit und Ausbeutung und verdrängten egalitäre Kultur. Die Frage, ob diese Wende als Katastrophe oder als Erfolgsstory zu
werten ist, wird kontrovers diskutiert. Erfolge westlicher
Kulturen geben der optimistischen Weltsicht dieser Kulturen scheinbar
Recht.
Innerhalb westlicher Kulturen reklamieren insbesondere
Kulturwissenschaftler Einwände gegen diese Ansichten. Diese bleiben
überwiegend ungehört oder unverstanden. Attraktiv und
sympathisch ist die westliche Perspektive vor allem für Menschen, die
als WEIRD
gelten. Global
sind das ca. 12 %. Menschen der WEIRD-Kulturen
ignorieren gerne, dass Wohlstand auf Fundamenten von
Imperialismus, Dogmatismus, Rassismus errichtet ist, die Ausbeutung und
Unterdrückung rechtfertigen. Außerhalb westlicher Kulturen
teilen längst nicht alle Menschen westliche Weltsichten und deren Werte.
Daher erzeugt die globale
materielle Überlegenheit westlicher Kultur terroristischen
Widerstand, dessen Ethik nicht weniger problematisch ist.
Das WEIRD-Modell hat der in Harvard lehrende kanadische Anthropologe Joseph Henrich In einer jüngeren Veröffentlichung entwickelt.(1,2) WEIRD ist ein englisches Akronym für western (westlich), educated (gebildet), industrialized (industrialisiert), rich (wohlhabend, reich) und democratic (demokratisch) und zugleich ein Wortspiel. Im Englischen bedeutet weird
seltsam, sonderbar, merkwürdig. Als Ethnologe hat Henrich aufgrund
zahlreicher zitierter empirischer Studien erkannt, dass westliche
Verhaltensmuster, Werte und Normen in weiten Teilen der Welt als seltsam
und sonderbar gelten. Anhand
sozialpsychologischer und soziologischer Studien verweist Henrich auf
Unterschiede bei Menschen westlicher Kulturen:
- Sie fallen auf optische Täuschungen herein und können sich Gesichter schlecht merken.
- Sie wertschätzen analytisches Denken, Individualismus, Freiheit, Fleiß, Vertrauenswürdigkeit, Geduld, Selbstbeherrschung.
- Sie bevorzugen Rechtsstaatlichkeit und Institutionen der Gewaltenteilung sowie Marktwirtschaft gegenüber Cliquenwirtschaft.
- Ein von Schuldnormen integriertes Gemeinwesen ist ihnen wichtiger als von Normen der Scham regierte Verwandtschaftssysteme.
- Während Menschen westlicher Kulturen Vetternwirtschaft, Korruption, Clans, arrangierte Ehen überwiegend verurteilen und Rechtssysteme oder Compliance-Regeln Verstöße ahnden, verlangt Moral des Stammesdenkens nicht-westlicher Kulturen gegenüber der Familie und Verwandtschaftsbeziehungen Loyalität und gegenseitige Unterstützung sowie gegenüber Fremden einen Vertrauensvorschuss an Fairness, der in westlichen Kulturen unüblich ist.
Henrich
nimmt an, dass sich westliche Kulturen mit allen positiven und
negativen Begleiterscheinungen aufgrund dieser Unterschiede gegenüber
Kulturen durchsetzen konnten, in denen Risiken prekärer
Lebenssituationen signifikant größer sind. Westliche Kulturen haben
dank höhere Produktivität vergleichsweise größeren Wohlstand sowie Schutzmechanismen gegen prekäre
Lebenssituationen entwickelt, die als Fortschritt empfunden werden und
zur Ausprägung von Ideologien des Fortschrittsdenken geführt haben. Ob
Menschen in westlichen Kulturen zufriedener oder glücklicher werden, ist
eine andere Frage.
Unstrittig ist, dass soziale Normen kulturell vermittelt werden. Erklärungsbedarf besteht jedoch bezüglich der Fragen:
- Warum konnten sich diese Unterschiede in der kulturellen Evolution ausprägen?
- Welche Bedingungen bewirken, dass sich westliche Kulturen in der Gegenwart gegenüber autokratischen Systemen zunehmend in der Defensive befinden?
- Welche
Sachverhalte bewirken, dass sich innerhalb westlicher Kulturen
reaktionäre populistische Bewegungen zunehmend ausbreiten?
Henrichs zentrale These greift Max Webers
Annahmen zur protestantischen Ethik als Motor des Kapitalismus auf (3),
er sieht aber die Entwicklung deutlich früher einsetzen und nimmt an,
dass die Ausbreitung christlicher Religion ab ca. dem Jahr 500 die
entscheidende Veränderung des Austauschs tribaler Schamkultur gegen
westliche Schuldkultur bewirkt. Normen christlicher Religion verdrängten
tribale Strukturen mit persönlichen Verpflichtungen in Clans und
Verwandtschaftssystemen zugunsten unpersönlicher
Prosozialität, mit der sich von Moraltheologie und Rechtssystemen
gerechtfertigte Schuldsysteme ausbreiten. Ab ca. dem Jahr 1000 sind in
Westeuropa Clans zugunsten von Kernfamilien aufgelöst. Kernfamilien verbinden sich in
Städten, Klöstern, Universitäten und entwickeln Individualität jenseits
von Clan- und Verwandtschaftsstrukturen.
Moraltheologie und Rechtssysteme regulieren unpersönlichen Wettbewerb
zwischen Individuen und motivieren Individuen zu eigenen Leistungen. Als eher zufällig wirksame Katalysatoren der Zerschlagung verwandtschaftsbasierter Institutionen identifiziert Henrich Gebote der Monogamie und der Neolokalität als Residenzregel von Kernfamilien sowie Heiratsregeln
mit Verbot der Vetternehe.(4) Indem die christliche Religion das Denken
von Europäern veränderte, verursacht sie unbeabsichtigt Aufklärung,
industrielle Revolution, Demokratie, Individualismus, ökonomisches und
rationales Denken und bewirkt als Konsequenz dieser Entwicklung ihre
Selbstzerstörung durch säkulares Denken.
Dass westliches Denken zunehmend in die Defensive gerät, Demokratien erodieren, weil Krisen als Regierungsversagen verstanden werden und Clanstrukturen in westlichen Kulturen wieder stärker werden, erklärt Henrichs in einem Interview als Folge unkontrollierbarer globaler Krisen. In kultureller Evolution entwickelte Strukturen können verdrängt oder überlagert werden, aber sie bleiben im kollektiven Bewusstsein erhalten. Unter dem Einfluss globaler Krisen suchen Menschen Schutz in kulturhistorisch bewährten überschaubaren und kontrollierbaren Clanstrukturen.(5)
--------------------------------------------
- Joseph Henrich: Die seltsamsten Menschen der Welt. Wie die Menschen reichlich sonderbar und besonders reich wurden. Berlin 2022 (Original: The WEIRDest People in the World: How the West Became Psychologically Peculiar and Particularly Prosperous. Farrar, Straus and Giroux, 2020)
- Rezensionen des Buchs:
- Günter Renz, Ethik und Anthroplogie: Joseph Heinrich
- Deutschlandfunk: Warum westliche Menschen "weird" sind
- WELT: Warum sich Westler keine Gesichter merken können
- FAZ: Die Menschen im Westen sind die Besten
- Günter Renz, Ethik und Anthroplogie: Joseph Heinrich
- Wikipedia: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus
- NZZ: Wie die katholische Kirche wider Willen den gesellschaftlichen Fortschritt des Westens beschleunigte
- NZZ: Anthropologe Joseph Henrich: «Es schadet dem Zusammenleben, wenn Männer mehrere Frauen haben dürfen»
2 Dekonstruktion der großen Erzählung vom Fortschritt
Globale Entwicklungen des letzten Jahrhunderts deformieren Narrative naiven Fortschrittsglaubens nachhaltig und entlarven sie als Mythen.(2) Aus der langen Liste von Irritationen sind hier lediglich einige prägnante Beispiele genannt, mit denen sich Skepsis im kollektiven Bewusstsein ausbreitet:
- Zwei Weltkriege mit Faschismus, Holocaust, Atombombenabwürfe auf Japan,
- Koreakrieg, Vietnamkrieg, Rhodesienkrieg, Afghanistankrieg, Russland-Ukraine-Krieg und zahllose weitere Kolonialkriege, Genozide, Bürgerkriege,
- globale Abahme des Anteils nach demokratischen Regeln regierter Staaten
und Zunahme des Anteils unkontrollierbarer autokratischer
Regierungsformen,
- politischer und religiöser Terrorismus,
- Auslaugung, Überdüngung und Vergiftung land- und forstwirtschaftlicher Nutzflächen,
- Überfischung und Verschmutzung der Weltmeere,
- Abholzung von Regenwäldern,
- Abnahme der Biodiversität,
- eskalierende Luftverschmutzung und Klimakrisen,
- an keinem Ort der Welt können Menschen sich noch sicher fühlen,
- usw..
Obwohl sich das Versprechen der großen Erzählung vom Fortschritt zumindest als Irrtum, vielleicht auch als Lüge erweist, gibt die politisch und ökonomisch dominante Elite das Fortschrittsnarrativ aus nachvollziehbaren Gründen des Eigennutzes nicht auf. Experten der
wissenschaftlichen Welt identifizieren Kriege unterschiedlicher Art
sowie physische und symbolische Gewalt als ubiquitäre kulturelle
Phänomene. Auf Fragen nach Ursachen und Zusammenhängen kultureller Disruption und auf der Suche nach geeigneten Maßnahmen einer
globalen Befriedung finden sie jedoch weder plausible noch
praktikable Antworten. Allerdings ist zu beachten, dass Wissenschaften von politischen und ökonomischen Interessen beeinflusst sind und Verknüpfungen zwischen Interessenlagen der verschiedenen Sphären überwiegend intransparent bleiben und schwer zu entschlüsseln sind.
Allmählich wird bewusst, dass die Aufteilung der Welt unter
europäischer Dominanz nicht als linearer kulturevolutionärer
Prozess erklärbar ist, sondern als eine Folge der Konzentration kontingenter
Bedingungskonstellationen zu verstehen ist, die mehr oder weniger zufällig europäischer
Kultur auf Kosten nicht-europäischer Kultur zur Dominanz verhalfen und weitere Entwicklungen anstoßen:
- Vertrauen von Menschen in Kompetenzen politischer, ökonomischer und wissenschaftlicher Leader erodiert.
- Mit Prozessen beschleunigter Globalisierung nimmt ohnehin nur unvollständige Kontrollierbarkeit von Makroprozessen ab.
- Als Ergebnis dieser Entwicklung geraten Fortschrittsnarrative in Krisen.
In Teilen der wissenschaftlichen Welt setzen tiefgreifende Veränderungen des Denkens ein.(3) Avantgarde dieser Veränderungen bilden die Ethnologen Claude Lévi-Strauss und Clifford Geertz. In jüngerer Zeit erkennen der Kulturanthropologe David Graeber und der Prähistoriker David Wengrow Bedarf für eine "konzeptionelle Transformation" des vorherrschenden "großen Bildes"
der Geschichte, das entstanden sei, um bestehende Verhältnisse zu
rechtfertigen, aber den Fakten nicht standhalte und in weiten Teilen
falsch sei. Mit ihrer Veröffentlichung Anfänge
unternehmen Graeber/Wengrow den Versuch, die Diskussion kultureller Disruption zu
ordnen, Ursachen zu identifizieren, auf fehlerhafte Abzweigungen
aufmerksam zu machen und fatalistische Alternativlosigkeit aufzuweichen.(4) Im Rahmen dieses Posts ist Anfänge
nicht angemessen zu würdigen. Verwiesen sei auf eine Betrachtung an anderer Stelle.(5)
Nachfolgende Beispiele skizzieren lediglich exemplarische Veränderungen
wissenschaftlichen Denkens.
2.1 Grenzen des Wachstums
Das 1968 gegründete Expertengremium Club of Rome veröffentlichte 1972 die Studie Die Grenzen des Wachstums,
die eine nachhaltig wirksame Diskussion zur Lage der Menschheit und zur
Zukunft der Weltwirtschaft auslöste, zur Spaltung politischer Lager
sowie zur Polarisierung zwischen fundamentalistischen Positionen von
Fortschrittsgegnern und Fortschrittsgläubigen beitrug und nicht zuletzt
eine Rehabilitierung von zuvor aus Wissenschaften verbannten ethischen
Fragestellungen bewirkte.
2.2 Struktur wissenschaftlicher Revolutionen
Der US-amerikanische Wissenschaftstheoretiker Thomas S. Kuhn präsentierte 1962 in seinem Hauptwerk The Structure of Scientific Revolutions das theoretische Fundament für ein Verständnis von Fortschrittsdenken, das mit periodischer Etablierung, Konkurrenz und Abfolge universeller Erklärungsmodelle zu- und abnimmt. Kuhns Werk schlug in der wissenschaftlichen Welt wie eine Bombe ein.(6)
Gegen herkömmliche Auffassungen wissenschaftlichen Fortschritts als Ergebnis objektiver Qualitätsvergleiche wendet Kuhn ein, dass Erkenntnisse und Fortschritte im Wissenschaftsbetrieb mittels sozialer Prozesse auf zwei unterschiedlichen
Wegen zustande kommen, wobei Deutungshoheit über Relevanz und Legitimität von
Wissenschaft sowie Ausrichtungen von Forschungsprogrammen und Verwendung von
Forschungsmitteln von Machtverteilungen beeinflusst sind.(7) Die Abfolge universeller Erklärungsmodelle erklärt Kuhn als einen sozial
determinierten kontingenten Prozess, der keine Annahmen der Annäherung
an transzendente Ziele gestattet. Eindrücke der Dynamik von Forschungsprozessen vermitteln einige verlinkte Artikel.(8)
Kuhn dekonstruiert die Erzählung vom wissenschaftlichen Fortschritt und zeigt auf, dass der Wissenschaftsprozess in zwei Prozesse zerfällt, die er als Normalwissenschaft und als wissenschaftliche Revolutionen bezeichnet. Für Weltbilder von Normalwissenschaft führt Kuhn den Begriff Paradigma ein, der mittlerweile auch in Alltagssprache gebräuchlich ist.
2.2.1 Normalwissenschaft
Paradigmen bestehen in ihrem Kern aus Axiomen,
d.h. grundlegende Aussagen bzw. Gesetzmäßigkeiten, die nicht aus
anderen Aussagen abgeleitet sind und als wahr angenommen oder behauptet
werden, ohne dass der Anspruch auf Wahrheit beweisbar ist. Aus dieser
Sicht wird verständlich, wenn der Wissenschaftsphilosoph Paul Hoyningen-Huene anlässlich des 100. Geburtstages von Thomas S. Kuhn einen Artikel der FAZ mit der Aussage überschreibt "Die Normalwissenschaft weiß alle Antworten".(9)
Innerhalb
dominierender Lehrmeinungen und Wissenschaftsprogramme entfaltet sich
kontinuierlicher wissenschaftlicher Fortschritt per
sozialer Mechanismen der Professionalisierung. Als Stand des Wissens
geltende Paradigmen haben einen hohen Verbindlichkeitsgrad und sind
ähnlich wie Dogmen gegen Kritik von außen immun. Mit Paradigmen nicht
vereinbare
Erkenntnisse werden unterdrückt bzw. als Irrtümer oder Unsinn abgelehnt,
sofern sie Gehör finden.
2.2.2 Paradigmenwechsel
Den von wissenschaftlichen Revolutionen ausgelösten Übergang zwischen Normalwissenschaften nennt Kuhn Paradigmenwechsel. Kuhns Erklärung des Paradigmenwechsels
löste kontroverse wissenschaftliche Diskussionen aus, die jedoch im
Kontext dieses Posts nicht relevant sind und nachfolgend referierte Erklärung Kuhns nicht
beschädigen.
Erst wenn Wissenschaftsprogramme aufgrund
zunehmender Anomalien in Krisen geraten, gewinnen konkurrierende
Programme Anhänger. Krisen von Paradigmen resultieren aus Krisen
ihrer Axiome. Krisen von Axiomen entstehen, wenn Annahmen ihrer Wahrheit
bzw. Gültigkeit aufgrund der Zunahme nicht erklärbarer Phänomene oder
aufgrund von Widersprüchen neuer Erkenntnisse in Frage gestellt werden.
Derartige Krisensituation leiten wissenschaftliche Revolutionen ein, die einen Austausch von Axiomen bewirken und als Paradigmenwechsel bezeichnet werden.
Paradigmenwechsel sind jedoch nicht allein mit formalen oder objektiven Qualitätskriterien von Wissenschaften erklärbar, sondern sie werden aufgrund sozialer Kriterien und Interessen verhindert oder auch beschleunigt. Paradigmenwechsel finden erst bei ausreichendem kritischem Verdrängungspotential statt. Verdrängungspotential resultiert aus der Bündelung von Interessen konkurrierender wissenschaftlicher Aufsteiger. Wenn die Bündelung von Community-Interessen eine kritisch Größe erreicht, verdrängen wissenschaftliche Aufsteiger die Vertreter bislang vorherrschende Lehrmeinungen und setzen neue Paradigmen durch, bis sie selbst von der nächsten wissenschaftlichen Revolution abgelöst werden.
Paradigmenwechsel sind jedoch nicht allein mit formalen oder objektiven Qualitätskriterien von Wissenschaften erklärbar, sondern sie werden aufgrund sozialer Kriterien und Interessen verhindert oder auch beschleunigt. Paradigmenwechsel finden erst bei ausreichendem kritischem Verdrängungspotential statt. Verdrängungspotential resultiert aus der Bündelung von Interessen konkurrierender wissenschaftlicher Aufsteiger. Wenn die Bündelung von Community-Interessen eine kritisch Größe erreicht, verdrängen wissenschaftliche Aufsteiger die Vertreter bislang vorherrschende Lehrmeinungen und setzen neue Paradigmen durch, bis sie selbst von der nächsten wissenschaftlichen Revolution abgelöst werden.
2.3 Von Thomas Kuhn angestoßene Veränderungen des wissenschaftlichen Weltbildes
Kuhns Werk The Structure of Scientific Revolutions gilt als Meilenstein der Wissenschaftsgeschichte, der nicht nur Einfluss auf die Wissenschaftstheorie ausübte. Aus der
metatheoretischen Diskussion resultiert seit Kuhn eine Neuordnung wissenschaftlicher Denkweisen, mit der sich Blicke auf das wissenschaftliche Weltbild insgesamt nachhaltig verändert haben. Wissenschaftler streiten die
Modellhaftigkeit ihrer Ansichten nicht länger ab, sondern räumen sie ein
und erklären Modellhaftigkeit wissenschaftlicher Annahmen
zum Prinzip wissenschaftlicher Theorien. Allerdings ist Kuhns Haltung hinsichtlich wissenschaftlichem Fortschritt ambivallent und lässt Raum für Deutungen.(10) Erwähnt sei, dass Kuhns auf einer Analogie mit der Mathematik beruhende Konzept der Inkommensurabilität von Paradigmen in der Wissenschaftstheorie umstritten ist und diskutiert wird.(11)
Seit Kuhn erweisen sich Aufteilungen zwischen vermeintlich
weichen Geisteswissenschaften und faktengesättigten exakten
Naturwissenschaften als sozial erzeugte hartnäckige Mythen, die der Legitimierung politischer und wirtschaftlicher Ziele dienen. Beharren auf diese nicht länger glaubwürdige Ansicht stellt kein Vertrauen in Wissenschaft her, sondern zerstört es.(12)
- (Sozial-) Konstruktivismus
Wissenschaftliche Modelle werden als gedankliche Konstrukte aufgefasst, die in sozialen Prozessen zustande gekommene Annahmen über Zusammenhänge zwischen empirisch beobachteten Objekten einer wie auch immer gearteten Welt beschreiben. Da Modelle keine Beschreibungen objektiver Realität darstellen, haben sie immer nur vorläufigen Charakter. Unter konkurrierenden Modellen setzen sich in iterativen Endlosschleifen zeitweilig jene Modelle durch, die sich vorübergehend mit höherer Erklärungskraft bewähren. - Kulturrelativismus
Bekämpfte kulturrelativistische Positionen der Ethnologie, die zuvor Außenseiter in wissenschaftlichen Randdisziplinen vertraten, wurden mit der Neuordnung wissenschaftlicher Denkweisen in kurzer Zeit zu wissenschaftlichem Allgemeingut und bilden mittlerweile den Stand der Wissenschaft in Philosophie, Soziologie, Psychologie.(13) - Bedeutungsverlust und Einordnung wissenschaftlicher Narrative
In der Ethnologie identifizierten und analysierten Claude Lévi-Strauss und Clifford Geertz Kultur als Text bzw. Literatur.(43) In ähnlicher Art und Weise betrachtete der US-amerikanische Historiker Hayden White Geschichtsschreibung, die er mit Kategorien der Literaturwissenschaft analysierte. In seinem Opus magnum Metahistory demontiert Hayden White den Historiker-Anspruch auf objektive Geschichtsschreibung als sinnstiftende Poesie, die zu Unrecht Übereinstimmung mit der Vergangenheit beansprucht. (15,16)
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- Deutschlandfunk: Zwischen Fortschrittshoffnung und Skepsis
- Zum Verständnis von Mythen siehe Kapitel 2.5 des Posts 3 Was ist Kultur?.
- Probleme der Begriffe Fortschritt und Entwicklung als Konzepte der Analyse von Globalgeschichte erläutert der Historiker Daniel Speich Chassé in einem Beitrag von Docupedia-Zeitgeschichte: Fortschritt und Entwicklung
- David Graeber, David Wengrow, Anfänge: Eine neue Geschichte der
Menschheit, Stuttgart 2022 (Original: The Dawn of Everything. A New
History of Humanity, London, New York 2021)
- Siehe Post: Der Gang der Geschichte und ihre Anfänge - Anmerkungen zum Buch 'Anfänge' von David Graeber und David Wengrow
- Thomas S. Kuhn: The Structure of Scientific Revolutions (International Encyclopedia of Unified Science. Band 2, Nr. 2). University of Chicago Press, Chicago 1962. Deutsche Übersetzung: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 1967.
- Kuhn bemerkte, dass viele seiner Gedanken bereits vom polnischen Philosophen Ludwik Fleck (1896-1961) formuliert waren und erwähnte Fleck im Vorwort des eigenen
Hauptwerks. Damit stieß Kuhn eine Rezeption Flecks an, die nach 1980
einsetzte. In der Gegenwart gilt Flecks Werk als Klassiker der
Wissenschaftsgeschichte, -soziologie und -theorie.
Vor Ludwik Fleck machte bereits Ignaz Semmelweis (1818-1865) als Chirurg die Erfahrung, dass seine lebensrettenden Erkenntnisse zu Hygienemaßnahmen von Kollegen als spekulativer Unfug abgelehnt wurden. Während Semmelweis Erkrankungen und Todesraten dank Hygiene signifikant reduzieren konnte, hielten viele Ärzte Sauberkeit für unnötig und wollten nicht wahrhaben, dass sie aufgrund mangelnder Hygiene Krankheiten mit hohen Todestaten verursachten. Kollegen feindeten Semmelweis an und bezeichneten ihn als Nestbeschmutzer. Der Sachverhalt, dass neue wissenschaftliche Entdeckungen von Vertretern verbreiteter Lehrmeinungen ohne Überprüfung erst einmal abgelehnt und Entdecker bekämpft werden, wird Semmelweis-Reflex genannt. - FAZ-Artikel zur Dynamik von Forschungsprozessen:
- Dietmar Dath: Erst raten, dann testen
- Ulf von Rauchhaupt: Krise der Physik: Verführte Physiker
- Ulf von Rauchhaupt: Man kann nicht immer wissen, was man gemessen hat
- Ulf von Rauchhaupt: Gleichungen sind einfach nicht alles
- Sibylle Anderl: FAZ: Quantenkosmologie: Wenn die Daten fehlen, bleibt die Metaphysik
- FAZ: Zum Tod von John Wheeler: Zwischen Schwarzen Löchern und der Atombombe
- Paul Hoyningen-Huene: 100 Jahre Thomas Kuhn. Die Normalwissenschaft weiß alle Antworten
- Philoclopedia (Blog von Johannes Heinle): Thomas Kuhn über wissenschaftlichen Fortschritt
- Wikipedia: Thomas S. Kuhn
- Artikelsammlung zu physikalischen Mythen (verlinkte FAZ-Artikel liegen teilweise hinter einer Bezahlschranke):
- Ulf von Rauchhaupt: Am Urknall: Chaos und Kosmos
- Ulf von Rauchhaupt: Frühphase: Der letzte Horizont
- Ulf von Rauchhaupt: Quantengravitation: Die letzte Theorie
- Wikipedia: Kosmogonie.Kosmogonischer Mythos
- Wikipedia: Weltformel
- Wikipedia: Quantengravitation
- Spektrum: Die 10 größten physikalischen Rätsel unserer Zeit
- Ulf von Rauchhaupt: Am Urknall: Chaos und Kosmos
- Vorlesungsfolien einer Lehrveranstaltung an der LMU zu wissenschaftshistorischen und wissenschaftsphilosophische Grundlagen: Was ist wissenschaftlicher Fortschritt?
- Siehe Post Was ist Kultur?, Kapitel 2.4.2 und 2.4.3
- Nachrufe auf Hayden White
- Christine Gerwin: Postkoloniale Entwürfe einer dichtenden Klio
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3 Änderungshistorie des Posts
22.08.2023: Kapitel 2.3: Ergänzung Anmerkung 10
17.08.2023: Kapitel 1.1: Überarbeitung und Ergänzungen
25.05.2023: Kapitel 1.1: Anmerkung 2 ergänzt, Anmerkung 4 eingefügt
20.05.2023: Kapitel 1.1: neu eingefügt
18.02.2023: Kapitel 2: Anmerkung 2 eingefügt
10.02.2023: Kapitel 2.1: Überarbeitung
Kapitel 2.2: Ergänzungen zum Paradigmenbegriff und Untergliederung des Kapitels
04.02.2023: Inhaltsübersicht ergänzt
18.01.2023: Kapitel 2: Inhaltliche Ergänzungen und Anmerkung mit Fußnote 6 aufgenommen
17.01.2023: Überarbeitung Kapitel 2 und Korrektur Fußnoten
16.01.2023: Veröffentlichung der Urversion
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