Montag, 16. Januar 2023

Konstruktion und Dekonstruktion der großen Erzählung vom Fortschritt (Update 22.08.2023)

Nourlangie Rock, Kakadu NP, Australien 1997 Himba People der Marienfluss Conservancy, Namibia 2016 Rathausturm, Groß St. Martin und Kölner Dom von Deutzer Brücke
 
Links:    Ca. 20.000 Jahre alte Aboriginal Felsmalerei am Nourlangie Rock, Kakadu NP, mit Darstellung mythischer Wesen der
             Traumzeit: Namondjok, Namarrgon (Blitzmann), Barrginj (Namarrgons Frau), Kinder und Ahnen (eigene Aufnahme 1997)
Mitte:    Himba People der Marienfluss Conservancy, Namibia (eigene Aufnahme 2016)
Rechts: Kölner Altstadt-Rheinpanorama mit Rathausturm, Groß St. Martin, Kölner Dom (eigene Aufnahme 2012 von Deutzer Brücke)
 
Dieser Post über die Konstruktion und Dekonstruktion des Narrativs vom Fortschritt ist ein Ausschnitt des Posts 3 Was ist Kultur?.
 
Inhaltsübersicht
 
1       Konstruktion der großen Erzählung vom Fortschritt
1.1    Entstehung des Fortschrittsparadigmas westlicher Kulturen
2       Dekonstruktion der großen Erzählung vom Fortschritt 
2.1    Grenzen des Wachstums
2.2    Struktur wissenschaftlicher Revolutionen
2.2.1 Normalwissenschaft  
2.2.2 Paradigmenwechsel 
2.3    Von Kuhn angestoßene Veränderungen des wissenschaftlichen Weltbildes
3       Änderungshistorie des Posts
 
 
1 Konstruktion der großen Erzählung vom Fortschritt
 
Die große Erzählung vom Fortschritt geht ungefähr so:
"Der wissenschaftliche Fortschritt erzeugt den technischen Fortschritt. Der technische Fortschritt erzeugt den ökonomischen Fortschritt. Der ökonomische Fortschritt erzeugt den sozialen Fortschritt. Der soziale Fortschritt erzeugt den individuellen Fortschritt. Der individuelle Fortschritt erzeugt – durch die Befreiung von niederer Arbeit durch Bildung und Wissen – den kulturellen Fortschritt. Der kulturelle Fortschritt wiederum erzeugt weiteren wissenschaftlichen Fortschritt. Und so weiter, bis irgendwann das Paradies der Vollkommenheit in einer Welt des ewigen Fortschritts erreicht wäre."(1) 
 
In der Welt monotheistischer Religionen prägten und prägen teilweise noch immer eschatoligische Vorstellungen eines endzeitlichen Geschehens das Denken von Menschen. Christliche Kulturen kannten bis zum Ende des ausgehenden Mittelalters keinen kulturellen Fortschritt. Die wahrgenommene Welt hatte Gott vermeintlich so eingerichtet, wie sich darstellt, also richtig und gut. Aufgrund des Versagens der Menschheit war der Tag des Weltengerichts unausweichlich und in Kürze zu erwarten.
 
Seit dem ausgehenden Mittelalter bewirken imperialer Kolonialismus, europäische Expansion, rationalistische Verwissenschaftlichung der Welt und industrielle Revolution ein Umdenken. Zunächst gegen Widerstand traditioneller Denkweise setzten sich im westeuropäischen Kulturraum Überzeugungen der universalen Überlegenheit europäischer Werte durch. Mit wachsender politischer und wirtschaftlicher Macht breitet sich Deutungsmacht westlicher Denkweise global aus. Von christlichem Gedankengut infizierte wissenschaftliche Vorstellungen linearer Evolution rechtfertigen im Kern dieser Deutungsmacht diskriminierende Auffassungen unzivilisierter Naturvölker, die es zu zivilisieren gilt. Dieses Denkmuster versteht kulturelle Evolution als Prozess kontinuierlicher Zivilisierung, mit dem sich zunehmender Fortschritt dank Überlegenheit europäischer Werte sukzessive global ausbreitet. 
 
Seit 1867 veranstaltete Weltausstellungen präsentieren mit großer Zustimmung aufgenommene öffentliche Leistungsschauen des Fortschritts. Zunehmender Wohlstand, Verbesserung von Gesundheit und sozialer Sicherheit, Verlängerung der Lebenserwartung, Ausdehnung individueller Freiräume und Handlungsoptionen gelten als verdiente Früchte eigener Anstrengungen. Dass diese Früchte mit Sklaverei, Ausbeutung und Unterdrückung weiter Teile der Menschheit erkauft sind, bereitet keine Skrupel, sondern gilt als natürliche Selektion der Fitness von Kulturen. An der Spitze einer kulturellen Fortschrittspyramide entfalten vermeintlich fittere Kulturen Dominanz über rückständige heidnische Kulturen, deren Mitglieder über Jahrhunderte als keine vollwertigen Menschen galten (woran Rassisten noch immer festhalten). Naiven Fortschrittsglauben begründen soziale Evolutionstheorien, Empirismus, Positivismus, Liberalismus mit vermeintlich wissenschaftlichen sowie von christlicher und utilitaristischer Ethik gestützten Argumenten. Konträre Auffassungen eines kleinen Kreises Ethnologen galten als wissenschaftlich und politisch irrelevante Positionen von Außenseitern.
 
Spirituelles, magisches, esoterisches Denken und mit ihm verknüpfte traditionelle Verhaltensweisen sind tief verwurzelt. Der Wandel von eschatologischen zu optimistischen Weltanschauungen verdrängt dogmatische religiöse Lehren erst zeitlich verzögert. Einsetzende Säkularisierungsprozesse verursachen Legitimationskrisen marginalisierter religiöser Institutionen. Säkularisierungsprozesse lösen ehemals religiös konnotierte Spiritualität keineswegs auf. Spiritualität heftet sich mit Fortfall religiöser Glaubens-Verbote und -Gebote an alternative metaphysische Sinngefüge. Das Spektrum fundamentalistischer Überzeugungen wird nicht kleiner, sondern breiter und irrationaler. 
 
 
1.1 Entstehung des Fortschrittsparadigmas westlicher Kulturen 

Alle höheren biologischen Arten entwickeln in der Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt Strategien des Überlebens, der Reproduktion und des existenziellen Krisenmanagements. Einige höhere Arten verfügen in einem weiten Verständnis des Begriffes über Kultur im Sinne der Fähigkeit, Strategien individuell zu lernen und zu teilen. Kulturelle Strategien bevorraten Praktiken der Weltbewältigung.  
 
Mit der evolutionären Entwicklung der menschlichen Art entwickeln sich im mentalen System primäre Bedürfnisse kohärenter Sinnhaftigkeit. Auf Lebensrisiken reagiert das mentale System mit Alarmmeldungen, die als Aufmerksamkeit erzeugende emotionale Angstzustände empfunden werden und Aktivität erfordern. Die Etablierung externer Kohärenzsysteme ermöglicht und unter prekären Bedingungen relative Entscheidungs- und Verhaltenssicherheit und erhöht Lebenschancen.  

Nicht erklärbare empirische Phänomene können auf unbekannte Risiken hinweisen und erzeugen daher Alarmzustände. Wenn nicht erklärbare empirische Phänomen regelmäßig auftreten, ohne dass Risiken zu erkennen sind, stören sie das Koheränzbedürfnis des mentalen Systems und erzeugen kognitive Dissonanzen, die das mentale System mit Hilfe kausaler Erklärungskonstrukte auflöst. Narrative der Erklärung von Kausalität befriedigen Bedürfnisse kohärenter Sinnhaftigkeit, indem sie rational nicht erklärbare empirische Phänomene verständlich machen und Ängste vor Risiken des Lebens reduzieren. 

Fähigkeiten zur evolutionären Kumulierung kultureller Strategien sind eine spezielle Eigenschaft von Homo sapiens, die ihn von anderen biologischen Arten absetzt. In diesem Kontext entstanden religiöse Deutungsmuster und Handlungsvorschriften für kausal nicht erklärbare empirisch wahrnehmbare Zustände und Ereignisse. Menschen bevorzugen prägnante Begriffe als Anker eigener abstrakter Vorstellungen. Die begriffliche Verdichtung einer speziellen Klasse kultureller Phänomene auf den Begriff Religion vermittelt implizit Vorstellungen relativ gleichartiger kultureller Deutungsmuster mit relativ ähnlichen Praktiken. Tatsächlich handelt es sich um einen vielgestaltigen kulturellen Komplex, der zeitlich, räumlich, ethnisch, geschlechtlich eine große Bandbreite an Strategien und Praktiken ausprägt.
 
Nach mehr als 1000 Jahren setzte um das Jahr 1700 in westlichen Kulturen mit der Aufklärung und der beginnenden Industrialisierung eine Umkehrung von Zukunftsvisionen ein. Die Kumulierung von Wissen und Fähigkeiten im Prozess kultureller Evolution verdrängte zuvor als sicher geltende Vorstellungen apokalyptischer Eschatologie zugunsten optimistischer Erwartungen evolutionären Fortschritts. Narrative rechtfertigten Irrtümer und Kollateralschäden als unvermeidbare Begleiterscheinungen iterativer Prozesse kulturellen Fortschritts und erwarten mit wachsendem Fortschritt die Minimierung von Irrtümern und Kollateralschäden gegen Null.
 
Im Kontext der Umwelt kooperierte Homo sapiens 99 % des Zeitraums seiner Existenz in kleinen Gruppen unter egalitären Bedingungen weitgehend friedlich und gendergerecht. Vor ca. 10.000 Jahren entstanden mit der Neolithisierung (Übergang zur Sesshaftigkeit) soziale Ungleichheit und Ausbeutung und verdrängten egalitäre Kultur. Die Frage, ob diese Wende als Katastrophe oder als Erfolgsstory zu werten ist, wird kontrovers diskutiert. Erfolge westlicher Kulturen geben der optimistischen Weltsicht dieser Kulturen scheinbar Recht. 
 
Innerhalb westlicher Kulturen reklamieren insbesondere Kulturwissenschaftler Einwände gegen diese Ansichten. Diese bleiben überwiegend ungehört oder unverstanden. Attraktiv und sympathisch ist die westliche Perspektive vor allem für Menschen, die als WEIRD gelten. Global sind das ca. 12 %. Menschen der WEIRD-Kulturen ignorieren gerne, dass Wohlstand auf Fundamenten von Imperialismus, Dogmatismus, Rassismus errichtet ist, die Ausbeutung und Unterdrückung rechtfertigen. Außerhalb westlicher Kulturen teilen längst nicht alle Menschen westliche Weltsichten und deren Werte. Daher erzeugt die globale materielle Überlegenheit westlicher Kultur terroristischen Widerstand, dessen Ethik nicht weniger problematisch ist.
 
Das WEIRD-Modell hat der in Harvard lehrende kanadische Anthropologe Joseph Henrich In einer jüngeren Veröffentlichung entwickelt.(1,2) WEIRD ist ein englisches Akronym für western (westlich), educated (gebildet), industrialized (industrialisiert), rich (wohlhabend, reich) und democratic (demokratisch) und zugleich ein Wortspiel. Im Englischen bedeutet weird seltsam, sonderbar, merkwürdig. Als Ethnologe hat Henrich aufgrund zahlreicher zitierter empirischer Studien erkannt, dass westliche Verhaltensmuster, Werte und Normen in weiten Teilen der Welt als seltsam und sonderbar gelten. Anhand sozialpsychologischer und soziologischer Studien verweist Henrich auf Unterschiede bei Menschen westlicher Kulturen:
  • Sie fallen auf optische Täuschungen herein und können sich Gesichter schlecht merken.
  • Sie wertschätzen analytisches Denken, Individualismus, Freiheit, Fleiß, Vertrauenswürdigkeit, Geduld, Selbstbeherrschung.
  • Sie bevorzugen Rechtsstaatlichkeit und Institutionen der Gewaltenteilung sowie Marktwirtschaft gegenüber Cliquenwirtschaft.
  • Ein von Schuldnormen integriertes Gemeinwesen ist ihnen wichtiger als von Normen der Scham regierte Verwandtschaftssysteme.
  • Während Menschen westlicher Kulturen Vetternwirtschaft, Korruption, Clans, arrangierte Ehen überwiegend verurteilen und Rechtssysteme oder Compliance-Regeln Verstöße ahnden, verlangt Moral des Stammesdenkens nicht-westlicher Kulturen gegenüber der Familie und Verwandtschaftsbeziehungen Loyalität und gegenseitige Unterstützung sowie gegenüber Fremden einen Vertrauensvorschuss an Fairness, der in westlichen Kulturen unüblich ist.
Henrich nimmt an, dass sich westliche Kulturen mit allen positiven und negativen Begleiterscheinungen aufgrund dieser Unterschiede gegenüber Kulturen durchsetzen konnten, in denen Risiken prekärer Lebenssituationen signifikant größer sind. Westliche Kulturen haben dank höhere Produktivität vergleichsweise größeren Wohlstand sowie Schutzmechanismen gegen prekäre Lebenssituationen entwickelt, die als Fortschritt empfunden werden und zur Ausprägung von Ideologien des Fortschrittsdenken geführt haben. Ob Menschen in westlichen Kulturen zufriedener oder glücklicher werden, ist eine andere Frage.
 
Unstrittig ist, dass soziale Normen kulturell vermittelt werden. Erklärungsbedarf besteht jedoch bezüglich der Fragen:
  1. Warum konnten sich diese Unterschiede in der kulturellen Evolution ausprägen?
  2. Welche Bedingungen bewirken, dass sich westliche Kulturen in der Gegenwart gegenüber autokratischen Systemen zunehmend in der Defensive befinden?
  3. Welche Sachverhalte bewirken, dass sich innerhalb westlicher Kulturen reaktionäre populistische Bewegungen zunehmend ausbreiten?
Henrichs zentrale These greift Max Webers Annahmen zur protestantischen Ethik als Motor des Kapitalismus auf (3), er sieht aber die Entwicklung deutlich früher einsetzen und nimmt an, dass die Ausbreitung christlicher Religion ab ca. dem Jahr 500 die entscheidende Veränderung des Austauschs tribaler Schamkultur gegen westliche Schuldkultur bewirkt. Normen christlicher Religion verdrängten tribale Strukturen mit persönlichen Verpflichtungen in Clans und Verwandtschaftssystemen zugunsten unpersönlicher Prosozialität, mit der sich von Moraltheologie und Rechtssystemen gerechtfertigte Schuldsysteme ausbreiten. Ab ca. dem Jahr 1000 sind in Westeuropa Clans zugunsten von Kernfamilien aufgelöst. Kernfamilien verbinden sich in Städten, Klöstern, Universitäten und entwickeln Individualität jenseits von Clan- und Verwandtschaftsstrukturen.
 
Moraltheologie und Rechtssysteme regulieren unpersönlichen Wettbewerb zwischen Individuen und motivieren Individuen zu eigenen Leistungen. Als eher zufällig wirksame Katalysatoren der Zerschlagung verwandtschaftsbasierter Institutionen identifiziert Henrich Gebote der Monogamie und der Neolokalität als Residenzregel von Kernfamilien sowie Heiratsregeln mit Verbot der Vetternehe.(4) Indem die christliche Religion das Denken von Europäern veränderte, verursacht sie unbeabsichtigt Aufklärung, industrielle Revolution, Demokratie, Individualismus, ökonomisches und rationales Denken und bewirkt als Konsequenz dieser Entwicklung ihre Selbstzerstörung durch säkulares Denken.

Dass westliches Denken zunehmend in die Defensive gerät, Demokratien erodieren, weil Krisen als Regierungsversagen verstanden werden und Clanstrukturen in westlichen Kulturen wieder stärker werden, erklärt Henrichs in einem Interview als Folge unkontrollierbarer globaler Krisen. In kultureller Evolution entwickelte Strukturen können verdrängt oder überlagert werden, aber sie bleiben im kollektiven Bewusstsein erhalten. Unter dem Einfluss globaler Krisen suchen Menschen Schutz in kulturhistorisch bewährten überschaubaren und kontrollierbaren Clanstrukturen.(5)

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  1. Joseph Henrich: Die seltsamsten Menschen der Welt. Wie die Menschen reichlich sonderbar und besonders reich wurden. Berlin 2022 (Original: The WEIRDest People in the World: How the West Became Psychologically Peculiar and Particularly Prosperous. Farrar, Straus and Giroux, 2020)
  2. Rezensionen des Buchs:
  3. Wikipedia: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus
  4. NZZ: Wie die katholische Kirche wider Willen den gesellschaftlichen Fortschritt des Westens beschleunigte
  5. NZZ: Anthropologe Joseph Henrich: «Es schadet dem Zusammenleben, wenn Männer mehrere Frauen haben dürfen»
 
2 Dekonstruktion der großen Erzählung vom Fortschritt
 
Globale Entwicklungen des letzten Jahrhunderts deformieren Narrative naiven Fortschrittsglaubens nachhaltig und entlarven sie als Mythen.(2) Aus der langen Liste von Irritationen sind hier lediglich einige prägnante Beispiele genannt, mit denen sich Skepsis im kollektiven Bewusstsein ausbreitet: 
  • Zwei Weltkriege mit Faschismus, Holocaust, Atombombenabwürfe auf Japan, 
  • Koreakrieg, Vietnamkrieg, Rhodesienkrieg, Afghanistankrieg, Russland-Ukraine-Krieg und zahllose weitere Kolonialkriege, Genozide, Bürgerkriege, 
  • globale Abahme des Anteils nach demokratischen Regeln regierter Staaten und Zunahme des Anteils unkontrollierbarer autokratischer Regierungsformen,
  • politischer und religiöser Terrorismus,
  • Auslaugung, Überdüngung und Vergiftung land- und forstwirtschaftlicher Nutzflächen,
  • Überfischung und Verschmutzung der Weltmeere,
  • Abholzung von Regenwäldern, 
  • Abnahme der Biodiversität,
  • eskalierende Luftverschmutzung und Klimakrisen, 
  • an keinem Ort der Welt können Menschen sich noch sicher fühlen,
  • usw..
Obwohl sich das Versprechen der großen Erzählung vom Fortschritt zumindest als Irrtum, vielleicht auch als Lüge erweist, gibt die politisch und ökonomisch dominante Elite das Fortschrittsnarrativ aus nachvollziehbaren Gründen des Eigennutzes nicht auf. Experten der wissenschaftlichen Welt identifizieren Kriege unterschiedlicher Art sowie physische und symbolische Gewalt als ubiquitäre kulturelle Phänomene. Auf Fragen nach Ursachen und Zusammenhängen kultureller Disruption und auf der Suche nach geeigneten Maßnahmen einer globalen Befriedung finden sie jedoch weder plausible noch praktikable Antworten. Allerdings ist zu beachten, dass Wissenschaften von politischen und ökonomischen Interessen beeinflusst sind und Verknüpfungen zwischen Interessenlagen der verschiedenen Sphären überwiegend intransparent bleiben und schwer zu entschlüsseln sind.
 
Allmählich wird bewusst, dass die Aufteilung der Welt unter europäischer Dominanz nicht als linearer kulturevolutionärer Prozess erklärbar ist, sondern als eine Folge der Konzentration kontingenter Bedingungskonstellationen zu verstehen ist, die mehr oder weniger zufällig europäischer Kultur auf Kosten nicht-europäischer Kultur zur Dominanz verhalfen und weitere Entwicklungen anstoßen:
  • Vertrauen von Menschen in Kompetenzen politischer, ökonomischer und wissenschaftlicher Leader erodiert.  
  • Mit Prozessen beschleunigter Globalisierung nimmt ohnehin nur unvollständige Kontrollierbarkeit von Makroprozessen ab. 
  • Als Ergebnis dieser Entwicklung geraten Fortschrittsnarrative in Krisen. 
In Teilen der wissenschaftlichen Welt setzen tiefgreifende Veränderungen des Denkens ein.(3) Avantgarde dieser Veränderungen bilden die Ethnologen Claude Lévi-Strauss und Clifford Geertz. In jüngerer Zeit erkennen der Kulturanthropologe David Graeber und der Prähistoriker David Wengrow Bedarf für eine "konzeptionelle Transformation" des vorherrschenden "großen Bildes" der Geschichte, das entstanden sei, um bestehende Verhältnisse zu rechtfertigen, aber den Fakten nicht standhalte und in weiten Teilen falsch sei. Mit ihrer Veröffentlichung Anfänge unternehmen Graeber/Wengrow den Versuch, die Diskussion kultureller Disruption zu ordnen, Ursachen zu identifizieren, auf fehlerhafte Abzweigungen aufmerksam zu machen und fatalistische Alternativlosigkeit aufzuweichen.(4) Im Rahmen dieses Posts ist Anfänge nicht angemessen zu würdigen. Verwiesen sei auf eine Betrachtung an anderer Stelle.(5) Nachfolgende Beispiele skizzieren lediglich exemplarische Veränderungen wissenschaftlichen Denkens.
 
 
2.1 Grenzen des Wachstums
 
Das 1968 gegründete Expertengremium Club of Rome veröffentlichte 1972 die Studie Die Grenzen des Wachstums, die eine nachhaltig wirksame Diskussion zur Lage der Menschheit und zur Zukunft der Weltwirtschaft auslöste, zur Spaltung politischer Lager sowie zur Polarisierung zwischen fundamentalistischen Positionen von Fortschrittsgegnern und Fortschrittsgläubigen beitrug und nicht zuletzt eine Rehabilitierung von zuvor aus Wissenschaften verbannten ethischen Fragestellungen bewirkte.
 
 
2.2 Struktur wissenschaftlicher Revolutionen
 
Der US-amerikanische Wissenschaftstheoretiker Thomas S. Kuhn präsentierte 1962 in seinem Hauptwerk The Structure of Scientific Revolutions das theoretische Fundament für ein Verständnis von Fortschrittsdenken, das mit periodischer Etablierung, Konkurrenz und Abfolge universeller Erklärungsmodelle zu- und abnimmt. Kuhns Werk schlug in der wissenschaftlichen Welt wie eine Bombe ein.(6)
 
Gegen herkömmliche Auffassungen wissenschaftlichen Fortschritts als Ergebnis objektiver Qualitätsvergleiche wendet Kuhn ein, dass Erkenntnisse und Fortschritte im Wissenschaftsbetrieb mittels sozialer Prozesse auf zwei unterschiedlichen Wegen zustande kommen, wobei Deutungshoheit über Relevanz und Legitimität von Wissenschaft sowie Ausrichtungen von Forschungsprogrammen und Verwendung von Forschungsmitteln von Machtverteilungen beeinflusst sind.(7) Die Abfolge universeller Erklärungsmodelle erklärt Kuhn als einen sozial determinierten kontingenten Prozess, der keine Annahmen der Annäherung an transzendente Ziele gestattet. Eindrücke der Dynamik von Forschungsprozessen vermitteln einige verlinkte Artikel.(8)
 
Kuhn dekonstruiert die Erzählung vom wissenschaftlichen Fortschritt und zeigt auf, dass der Wissenschaftsprozess in zwei Prozesse zerfällt, die er als Normalwissenschaft und als wissenschaftliche Revolutionen bezeichnet. Für Weltbilder von Normalwissenschaft führt Kuhn den Begriff Paradigma ein, der mittlerweile auch in Alltagssprache gebräuchlich ist.  
 
 
2.2.1 Normalwissenschaft
 
Paradigmen bestehen in ihrem Kern aus Axiomen, d.h. grundlegende Aussagen bzw. Gesetzmäßigkeiten, die nicht aus anderen Aussagen abgeleitet sind und als wahr angenommen oder behauptet werden, ohne dass der Anspruch auf Wahrheit beweisbar ist. Aus dieser Sicht wird verständlich, wenn der Wissenschaftsphilosoph Paul Hoyningen-Huene anlässlich des 100. Geburtstages von Thomas S. Kuhn einen Artikel der FAZ mit der Aussage überschreibt "Die Normalwissenschaft weiß alle Antworten".(9) 
 
Innerhalb dominierender Lehrmeinungen und Wissenschaftsprogramme entfaltet sich kontinuierlicher wissenschaftlicher Fortschritt per sozialer Mechanismen der Professionalisierung. Als Stand des Wissens geltende Paradigmen haben einen hohen Verbindlichkeitsgrad und sind ähnlich wie Dogmen gegen Kritik von außen immun. Mit Paradigmen nicht vereinbare Erkenntnisse werden unterdrückt bzw. als Irrtümer oder Unsinn abgelehnt, sofern sie Gehör finden. 
 
 
2.2.2 Paradigmenwechsel 
 
Den von wissenschaftlichen Revolutionen ausgelösten Übergang zwischen Normalwissenschaften nennt Kuhn Paradigmenwechsel. Kuhns Erklärung des Paradigmenwechsels löste kontroverse wissenschaftliche Diskussionen aus, die jedoch im Kontext dieses Posts nicht relevant sind und nachfolgend referierte Erklärung Kuhns nicht beschädigen.
 
Erst wenn Wissenschaftsprogramme aufgrund zunehmender Anomalien in Krisen geraten, gewinnen konkurrierende Programme Anhänger. Krisen von Paradigmen resultieren aus Krisen ihrer Axiome. Krisen von Axiomen entstehen, wenn Annahmen ihrer Wahrheit bzw. Gültigkeit aufgrund der Zunahme nicht erklärbarer Phänomene oder aufgrund von Widersprüchen neuer Erkenntnisse in Frage gestellt werden. Derartige Krisensituation leiten wissenschaftliche Revolutionen ein, die einen Austausch von Axiomen bewirken und als Paradigmenwechsel bezeichnet werden.

Paradigmenwechsel sind jedoch nicht allein mit formalen oder objektiven Qualitätskriterien von Wissenschaften erklärbar, sondern sie werden aufgrund sozialer Kriterien und Interessen verhindert oder auch beschleunigt. Paradigmenwechsel finden erst bei ausreichendem kritischem Verdrängungspotential statt. Verdrängungspotential resultiert aus der Bündelung von Interessen konkurrierender wissenschaftlicher Aufsteiger. Wenn die Bündelung von Community-Interessen eine kritisch Größe erreicht, verdrängen wissenschaftliche Aufsteiger die Vertreter bislang vorherrschende Lehrmeinungen und setzen neue Paradigmen durch, bis sie selbst von der nächsten wissenschaftlichen Revolution abgelöst werden.
 
 
2.3 Von Thomas Kuhn angestoßene Veränderungen des wissenschaftlichen Weltbildes
 
Kuhns Werk The Structure of Scientific Revolutions gilt als Meilenstein der Wissenschaftsgeschichte, der nicht nur Einfluss auf die Wissenschaftstheorie ausübte. Aus der metatheoretischen Diskussion resultiert seit Kuhn eine Neuordnung wissenschaftlicher Denkweisen, mit der sich Blicke auf das wissenschaftliche Weltbild insgesamt nachhaltig verändert haben. Wissenschaftler streiten die Modellhaftigkeit ihrer Ansichten nicht länger ab, sondern räumen sie ein und erklären Modellhaftigkeit wissenschaftlicher Annahmen zum Prinzip wissenschaftlicher Theorien. Allerdings ist Kuhns Haltung hinsichtlich wissenschaftlichem Fortschritt ambivallent und lässt Raum für Deutungen.(10) Erwähnt sei, dass Kuhns auf einer Analogie mit der Mathematik beruhende Konzept der Inkommensurabilität von Paradigmen in der Wissenschaftstheorie umstritten ist und diskutiert wird.(11)
 
Seit Kuhn erweisen sich Aufteilungen zwischen vermeintlich weichen Geisteswissenschaften und faktengesättigten exakten Naturwissenschaften als sozial erzeugte hartnäckige Mythen, die der Legitimierung politischer und wirtschaftlicher Ziele dienen. Beharren auf diese nicht länger glaubwürdige Ansicht stellt kein Vertrauen in Wissenschaft her, sondern zerstört es.(12)
  • (Sozial-) Konstruktivismus
    Wissenschaftliche Modelle werden als gedankliche Konstrukte aufgefasst, die in sozialen Prozessen zustande gekommene Annahmen über Zusammenhänge zwischen empirisch beobachteten Objekten einer wie auch immer gearteten Welt beschreiben. Da Modelle keine Beschreibungen objektiver Realität darstellen, haben sie immer nur vorläufigen Charakter. Unter konkurrierenden Modellen setzen sich in iterativen Endlosschleifen zeitweilig jene Modelle durch, die sich vorübergehend mit höherer Erklärungskraft bewähren.
  • Kulturrelativismus
    Bekämpfte kulturrelativistische Positionen der Ethnologie, die zuvor Außenseiter in wissenschaftlichen Randdisziplinen vertraten, wurden mit der Neuordnung wissenschaftlicher Denkweisen in kurzer Zeit zu wissenschaftlichem Allgemeingut und bilden mittlerweile den Stand der Wissenschaft in Philosophie, Soziologie, Psychologie.(13) 
  • Bedeutungsverlust und Einordnung wissenschaftlicher Narrative
    In der Ethnologie identifizierten und analysierten Claude Lévi-Strauss und Clifford Geertz Kultur als Text bzw. Literatur.(43) In ähnlicher Art und Weise betrachtete der US-amerikanische Historiker Hayden White Geschichtsschreibung, die er mit Kategorien der Literaturwissenschaft analysierte. In seinem Opus magnum Metahistory demontiert Hayden White den Historiker-Anspruch auf objektive Geschichtsschreibung als sinnstiftende Poesie, die zu Unrecht Übereinstimmung mit der Vergangenheit beansprucht. (15,16)
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  1. Deutschlandfunk: Zwischen Fortschrittshoffnung und Skepsis 
  2. Zum Verständnis von Mythen siehe Kapitel 2.5 des Posts 3 Was ist Kultur?.
  3. Probleme der Begriffe Fortschritt und Entwicklung als Konzepte der Analyse von Globalgeschichte erläutert der Historiker Daniel Speich Chassé in einem Beitrag von Docupedia-Zeitgeschichte: Fortschritt und Entwicklung
  4. David Graeber, David Wengrow, Anfänge: Eine neue Geschichte der Menschheit, Stuttgart 2022 (Original: The Dawn of Everything. A New History of Humanity, London, New York 2021) 
  5. Siehe Post: Der Gang der Geschichte und ihre Anfänge - Anmerkungen zum Buch 'Anfänge' von David Graeber und David Wengrow
  6. Thomas S. Kuhn: The Structure of Scientific Revolutions (International Encyclopedia of Unified Science. Band 2, Nr. 2). University of Chicago Press, Chicago 1962. Deutsche Übersetzung: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 1967. 
  7. Kuhn bemerkte, dass viele seiner Gedanken bereits vom polnischen Philosophen Ludwik Fleck (1896-1961) formuliert waren und erwähnte Fleck im Vorwort des eigenen Hauptwerks. Damit stieß Kuhn eine Rezeption Flecks an, die nach 1980 einsetzte. In der Gegenwart gilt Flecks Werk als Klassiker der Wissenschaftsgeschichte, -soziologie und -theorie.
    Vor Ludwik Fleck machte bereits Ignaz Semmelweis (1818-1865) als Chirurg die Erfahrung, dass seine lebensrettenden Erkenntnisse zu Hygienemaßnahmen von Kollegen als spekulativer Unfug abgelehnt wurden. Während Semmelweis Erkrankungen und Todesraten dank Hygiene signifikant reduzieren konnte, hielten viele Ärzte Sauberkeit für unnötig und wollten nicht wahrhaben, dass sie aufgrund mangelnder Hygiene Krankheiten mit hohen Todestaten verursachten. Kollegen feindeten Semmelweis an und bezeichneten ihn als Nestbeschmutzer. Der Sachverhalt, dass neue wissenschaftliche Entdeckungen von Vertretern verbreiteter Lehrmeinungen ohne Überprüfung erst einmal abgelehnt und Entdecker bekämpft werden, wird Semmelweis-Reflex genannt.
  8. FAZ-Artikel zur Dynamik von Forschungsprozessen:
  9. Paul Hoyningen-Huene: 100 Jahre Thomas Kuhn. Die Normalwissenschaft weiß alle Antworten
  10. Philoclopedia (Blog von Johannes Heinle): Thomas Kuhn über wissenschaftlichen Fortschritt
  11. Wikipedia: Thomas S. Kuhn
  12. Artikelsammlung zu physikalischen Mythen (verlinkte FAZ-Artikel liegen teilweise hinter einer Bezahlschranke):
  13. Vorlesungsfolien einer Lehrveranstaltung an der LMU zu wissenschaftshistorischen und wissenschaftsphilosophische Grundlagen: Was ist wissenschaftlicher Fortschritt? 
  14. Siehe Post Was ist Kultur?, Kapitel 2.4.2 und 2.4.3
  15. Nachrufe auf Hayden White
  16. Christine Gerwin: Postkoloniale Entwürfe einer dichtenden Klio
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3 Änderungshistorie des Posts
 
22.08.2023:  Kapitel 2.3: Ergänzung Anmerkung 10
17.08.2023:  Kapitel 1.1: Überarbeitung und Ergänzungen
25.05.2023:  Kapitel 1.1: Anmerkung 2 ergänzt, Anmerkung 4 eingefügt  
20.05.2023:  Kapitel 1.1: neu eingefügt 
18.02.2023:  Kapitel 2: Anmerkung 2 eingefügt
10.02.2023:  Kapitel 2.1: Überarbeitung
                     Kapitel 2.2: Ergänzungen zum Paradigmenbegriff und Untergliederung des Kapitels
04.02.2023:  Inhaltsübersicht ergänzt
18.01.2023:  Kapitel 2: Inhaltliche Ergänzungen und Anmerkung mit Fußnote 6 aufgenommen
17.01.2023:  Überarbeitung Kapitel 2 und Korrektur Fußnoten
16.01.2023:  Veröffentlichung der Urversion
 
 
 

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