Samstag, 4. März 2023

Pathogenese vs. Salutogenese oder die Verwandlung von Chaos in mentale Ordnung (Update: 14.05.3023)

Den syge pige „Das sieche Mädchen“
(Ölgemälde von Michael Ancher 1882)
Dimensionen und Einflussfaktoren nach Aaron Antonovsky
(CC BY-SA 4.0
)
Vorliegender Post beschreibt das Modell der Salutogenese, das nicht als Alternative zur westlichen Medizin zu verstehen ist, sondern als ein sozialpsychologisches Modell, das aus einer alternativen Perspektive auf Gesundheit und Krankheit blickt und aufgrund des Perspektivwechsels zu Einsichten gelangt, die westlicher Medizin verschlossen bleiben. 
In diesem Post geht es entgegen verbreiteter Überzeugungen um das Verständnis, dass
- Organismen weder autonom agieren noch isoliert reagieren, 
- Organismen in komplex vernetzten systemischen Kontexten eingebunden sind,
- Annahmen linearer Kausalität auf Konstrukten von Artefakten beruhen,
- in systemischen Kontexten eine unüberschaubare Menge von Einflussfaktoren miteinander interagieren und sich wechselseitig beeinflussen.
Nicht zuletzt geht es darum, dank eines verbesserten Verständnisses der Komplexität systemischer Zusammenhänge Angebote und Leistungfähigkeit medizinischer Services einzuordnen sowie Nutzen für den eigenen Organismus und dessen Umwelt  zu erhöhen.(1)

Inhaltsübersicht

1       Pathogenetische Modelle der Medizin
1.1    Wissenschaftlich orientierte Medizin (Schulmedizin)
1.1.1 Disease Interception 
1.1.2 Fakultät für Gesundheit an der Universität Witten/Herdecke
1.2    Alternativmedizin 
2       Perspektivenwechsel von der Krankheitsforschung zur Gesundheitsforschung  
2.1    Salutogenetisches Modell der Sozialpsychologie
2.2    Generalisierte Widerstandsressourcen im Modell der Salutogenese
2.3    Widerstandsressourcen, Kohärenz, Selbstbestimmung, Kohäsion
2.4    Wie entsteht Ordnung aus Chaos durch Kohärenz?
3       Metaperspektivische Betrachtung von Salutogenese und Kohärenz in Abgrenzung zu Pathogenese
3.1    Widersprüchlichkeit und Komplementarität  
3.2    Salutogenetisches Modell
3.3    Pathogenetisches Modell 
4       Schlussbetrachtung im Kontext der Postserie
5       Änderungshistorie des Posts

 
1 Pathogenetische Modelle der Medizin
 
Wissenschaftliche und alternativmedizinische Konzepte unseres Gesundheitssystems beschäftigen sich mit Pathogenese und gehen davon aus, dass sich selbst regulierende homöostatische Prozesse im Fall einer Krankheit gestört oder entgleist sind. Pathogenetische Konzepte suchen nach Mechanismen von Kausalketten, die gesundheitliche Störungen und Erkrankungen bewirken und wollen dazu verhelfen, Homöostase (Gleichgewicht) wiederherzustellen.(2) Bei beiden Modellen handelt es sich um Kausalmedizin.
 
In diesem Post geht es nicht darum, identifizierbare Auslöser von Erkrankungen und offenkundige kausale Evidenzen abzustreiten oder alternativmedizinische Angebote zu verurteilen. Erkenntnisse pathogenetischer Konzepte beschreiben einen Teil unserer Welt, der  trotz aller Defizite nicht zu leugnen ist. Möglicherweise handelt es sich jedoch um einen nur kleinen Ausschnitt unserer Realität, was bedeuten würde, dass Fokussierungen auf diesen Ausschnitt Blicke auf den Gesamthorizont verstellen. Am Horizont erkennbare Phänomene fügen sich keiner linearen Kausalität und sind mit Methoden wissenschaftlicher Rationalität nicht vollständig erklärbar. 
 
Während Wissenschaftlich orientierte Medizin (Schulmedizin) sich Kriterien klinischer Evidenz unterwirft und empirisch nicht nachvollziehbare Phänomene ausblendet, stellen sich alternativmedizinische Programme keinen strengen Rationalitätsanforderungen. Alternativmedizin bespielt Lücken und Defizite von Schulmedizin und profitiert von auf Glauben und Vertrauen beruhenden persönlichen Überzeugungen ihrer Klienten. Alternativmedizin basiert wie Schulmedizin implizit oder explizit auf Modellen pathogenetischer Art, die Homöostase-Störungen annehmen.
 
 
1.1 Wissenschaftlich orientierte Medizin (Schulmedizin)
 
Das Krankheitsverständnis von Schulmedizin prägen biomedizinische Vorstellungen pathologischer physiologischer Phänomene, die genetisch bedingt sind oder von äußeren Einflüssen oder von gesundheitsschädlichen Verhaltensweisen ausgelöst werden. Um medizinische Therapien anzuwenden, müssen kausal aufgefasste Zusammenhänge analytisch untersucht werden. Dazu werden aus systemischen Kontexten einer unüberschaubaren Vielfalt sich wechselseitig beeinflussender Stoffwechselprozesse vermeintliche Ursache-Wirkungs-Beziehungen isoliert. Der systemische Kontext pathologischer Phänomene geht dabei verloren. 
 
Krankheitsprävention zielt darauf ab, Krankheiten auslösende Faktoren möglichst zu verhindern. Abgesehen von Impfungen und Vorsorgeuntersuchungen zählen Präventionsstrategien nicht zu primären medizinischen Aufgaben.(3) Schulmedizin wird i.d.R. aktiv, wenn Erkrankungen drohen oder eingetreten sind.
 
Jeder von uns weiß aus eigener Erfahrung intuitiv, dass zwischen physiologischen Zuständen und psychologischen Prozessen Interaktionen stattfinden. In der klinischen Medizin bleiben diese Interaktionen weitgehend ausgeblendet, weil es sich um subjektive Empfindungen handelt, die nicht empirisch prüfbar sind und sich medizinischer Diagnostik im Sinne klinischer Symptome weitgehend entziehen. Ein Röntgenbild, MRT, CT oder Blutbild zeigt keine mentalen Zustände. Sie lassen sich auch nicht von außen tasten, sondern nur durch Auskünfte erfragen. In der Schulmedizin zählen letztlich jedoch nur objektiv beobachtbare empirische Zustände (Evidenzen). Wenn klinische Mediziner Zusammenhänge zwischen mentalen und somatischen Zuständen ernst nehmen, delegieren sie günstigenfalls Betroffene an benachbarte Disziplinen der Psychologie oder Psychosomatik.
 
Selbstverständlich sind bei Erkrankungen mitunter auch kausale Aulsöser identifizierbar in Form von Bakterien, Viren, Parasiten, Vergiftungen, Bewegungsmangel, Übergewicht, Ernährungsfehler bzw. Einflüsse des Lebensstils oder der Lebensumstände. Allerdings zeigt sich, dass Ausstattungen mit Widerstandsressourcen individuell stark variieren. Manche Menschen erkranken nur leicht und andere schwer oder gar nicht. Unterschiede werden gewöhnlich mit unterschiedlichen genetischen Ausstattungen begründet, die wahrscheinlich tatsächlich beteiligt, aber selten nachweisbar sind. Schwieriger und auch fragwürdiger sind Erklärungen der großen "Killer" Krebserkrankungen, Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems sowie Erklärungen weiterer weniger prominenter Erkrankungen. Auf Autoimmunerkrankungen reagiert das medizinische Pathologiemodell mit Kapitulation und beschränkt sich auf Diagnostik und auf symptomatische Behandlungen. 

 
1.1.1 Disease Interception
 
Wissenschaftliche Medizin kennt natürlich ihre Defizite und sucht nach neuen Konzepten als Erweiterungen ihres etablierten Paradigmas. Hierzu zählt der als Disease Interception oder als Disease Interception Program (DMP) bezeichnete Ansatz.(4) Im Disease-Interception-Konzept geht es um individualisierte Vorsorgeuntersuchung in der präklinischen Phase (also vor einer eingetretenen Krankheit). Hierzu ist beabsichtigt, individuelle Risiken von Hochrisikopatienten mittels molekularer Diagnostik und mit Hilfe von Biomarkern zu detektieren.(5) Allerdings sind bisher für viele schwerwiegende Erkrankungen keine geeigneten Marker bekannt, was sich aber mit weiteren Forschungen ändern könnte. In der Diskussion befinden sich jedoch noch etliche bisher weitgehend ungeklärte Fragen:
  • Welche Kriterien sind für die Bewertung von Risiken und die Selektierung von Risikopatienten maßgeblich?
  • Welche Programme werden zur Detektierung von Markern medizinisch und organisatorisch benötigt?
  • Wie sind diese Programme aus ethischer Sicht zu bewerten und handzuhaben?
    (Exemplarisch sei auf kontroverse Diskussionen zu Schwangerschaftsabbrüchen, zur aktiven und passiven Sterbehilfe sowie zu Angelina Jolies vorsorgliche Brustamputation verwiesen.)
  • Welche Handlungsoptionen können/sollen/müssen aus Markern abgeleitet werden?
  • Wie kann Nutzen solcher Programme bewertet werden?
  • Wie können DM-Programme finanziert und wirtschaftlich betrieben werden?
Das Disease Interception Konzept propagiert und sponsert insbesondere der Pharmakonzern Janssen-Cilag, was sicher kein Zufall ist, sondern eine Zukunftstrategie des Konzern darstellt.(6) Zitat des Wikipedia-Artikels Janssen-Cilag:
"Des Weiteren forscht Janssen aktuell an den Möglichkeiten des Konzepts Disease Interception. Mit diesem Ansatz will das Unternehmen Möglichkeiten entwickeln, Krankheiten aufzuhalten, bevor sie entstehen. Dabei unterscheidet sich das Konzept von klassischer Prävention: Während Prävention auf das frühzeitige Erkennen von Symptomen abzielt, setzt Disease Interception noch früher an: Das Ziel ist Krankheitsprozesse mit Hilfe validierter Biomarker zu erkennen, bevor erste klinische Symptome entstehen, um in einem sogenannten „Interception Window“ – dem Zeitraum zwischen dem Erkennen des Krankheitsprozesses und der Bildung klinischer Symptome – wirksam zu intervenieren. Intention von Disease Interception ist, den Ausbruch der Erkrankung zu verhindern, aufzuhalten oder den Krankheitsprozess sogar umzukehren. 
Ein Geschäftsführer des Unternehmens spricht in einem Interview von einem "echten Paradigmenwechsel".(7) Der Mann hat Paradigmenwechsel nicht verstanden. Tatsächlich geht es Janssen-Cilag um ein profitables neues Geschäftsmodells auf der Grundlage neuer Technologien und neuer Erkenntnisse im Rahmen des bestehenden pathogenetischen Paradigmas.(8)
 
Wenn das Konzept Disease Interception demnächst die Kinderstube verlässt, bedarf es keiner seherischen Fähigkeiten, um vorherzusagen, dass es als Fortschritt gefeiert wird, der natürlich teuer wird und den letztlich Kunden zahlen müssen, also wir. Vermutlich werden einzelne Kunden profitieren, vor allem Privatpatienten. In der Breite ist signifikanter Nutzen für alle eher fragwürdig, aber für die Pharmaindustrie, wahrscheinlich auch für Hochleistungs-Kliniken und ihr Management sowie für Karrieren etlicher Wissenschaftler ziemlich sicher. Warum sonst sollten sie diese Strategie forcieren?
 
 
1.1.2 Fakultät für Gesundheit an der Universität Witten/Herdecke
 
Erwähnt sei, dass ein möglicherweise zukunftsweisendes alternatives Konzept medizinischer Versorgung an der Universität Witten/Herdecke seit 2019 mit dem Institut für Integrative Gesundheitsversorgung und Gesundheitsförderung (IGVF) besteht:
 
 
1.2 Alternativmedizin
 
Für unter Leidensdruck stehende Menschen, denen wissenschaftlich orientierte Medizin nicht wirksam helfen kann, sind Defizite von Schulmedizin schwer erträglich. Diese Situation öffnet Märkte, die alternativmedizinische Angebote bespielen. Alternativmedizinische Angebote (wie z.B. TCM, Ethnomedizin, schamanische Heilkunde, anthroposohische Heilkunde, Naturmedizin, Mind-Body-Medizin oder vielfältige sonstige esoterische Medizinmodelle) profitieren von Nachfragen, die Schulmedizin nicht zu befriedigen vermag.(9) Alternativmedizin ist ebenso wie Schulmedizin ein Geschäftsmodell, aber im Unterschied zur Schulmedizin unkontrolliert und zu keinem Qualitätsmanagement verpflichtet. 
 
Bemerkenswert ist, dass in den meisten naturheilkundlichen bzw. alternativmedizinischen Modellen eine in der Schulmedizin verloren gegangene ganzheitliche Sichtweise verbreitet ist, die Körper und Geist als Einheit betrachten und behandelt. Allerdings kann auch Alternativmedizin nicht auf Erklärungen zur Entstehung und Auflösung von Krankheitszuständen verzichten. Alternativmedizinische Modelle verzichten mehr oder weniger auf rationale Begründungen. Alternativmedizin, die mit spirituelle Erklärungen operiert, auf Überprüfungen mit wissenschaftlichen Methoden bzw. auf kontrollierte statistische Evidenz verzichtet, ist mit dogmatischen Glaubenssystemen verwandt. 
 
Anbieter verweisen auf mit wissenschaftlichen Methoden nicht prüfbare Einzelerfolge und auf unzuverlässige subjektive Empfindungen von Klienten. Man muss nicht Mediziner oder Wissenschaftler sein, um das Induktionsproblem und das Qualiaproblem zu verstehen, die in alternativmedizinischen Modellen beharrlich ignoriert werden. Ersteres besagt, dass aus Einzelfällen keine gültigen Gesetze abgeleitet werden können. Das Qualiaproblem resultiert aus dem Sachverhalt, dass der Erlebnisgehalt subjektiver mentaler Zustände nicht von außen beurteilt werden kann und sich daher der Prüfbarkeit entzieht.
 
Alternativmedizinische Angebote stellt dieser Post nicht pauschal unter Verdacht von Naivität oder betrügerischen Absichten, aber Relevanz dieser Angebote ist kaum zu beurteilen, weil methodische Standards wissenschaftlicher Prüfung unbeachtet bleiben und daher in Studien nachgewiesene statistische Evidenzen fehlen. Ob alternativmedizinische Angebote als ethisch redlich gelten können, lässt sich nur im Einzelfall bewerten. Rationalität ist kein Pflichtprogramm. Wer sich in spirituellen Sphären aufgehoben fühlt und alternativmedizinischen Angeboten vertrauen möchte, hat in einer offenen Gesellschaft die Freiheit, dies zu tun.
 
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  1. Soweit nicht anders vermerkt, basiert der Post auf folgenden Quellen:
  2. Der Post einer Buchbesprechung vermittelt Einblicke in den Maschinenraum des deutschen Gesundheitssystems, das international als eines der besten gilt: Der verlorene Patient – Dr. Umeswaran Arunagirinathan berichtet aus dem Maschinenraum des Medizinbetriebs
  3. Laut Informationen des Statistischen Bundesamtes betrugen im Jahr 2020 die  Gesundheitsausgaben 441 Mrd € (5.298 € je Einwohner), was einem Anteil von 13,1 % des BIP entspricht.
    Der Anteil für Prävention/Gesundheitsschutz belief sich 2020 auf 14,6 Mrd € und entsprach einem Anteil von 3,3 € an den Gesamtausgaben.
    Gegenüber 2018 stiegen im Jahr 2020 die Gesundheitsausgaben insgesamt um 12 %, der Anteil für Prävention aber nur um 10 %.
    Statistisches Bundesamt: Gesundheitsausgaben nach Leistungsarten
  4. Disease, engl. für Krankheit; Interzeption bzw. engl. Interception steht für Verhinderung, Wegnahme
  5. Quellen zu DMP:
  6. Janssen: Disease Interception – Krankheiten erkennen und aufhalten, bevor klinische Symptome entstehen
  7. ÄrzteZeitung: Eine Chance, Medizin neu zu denken
  8. Die Paradigmen-Thematik betrachtet der Post Konstruktion und Dekonstruktion der großen Erzählung vom Fortschritt in Kapitel 2.2.  
  9. Apotheken-Umschau: Warum die Naturmedizin so erfolgreich wurde
 
2 Perspektivenwechsel von der Krankheitsforschung zur Gesundheitsforschung

Der US-amerikanische-israelische Soziologe Aaron Antonovsky (1923 - 1994) untersuchte ehemalige Häftlinge von Konzentrationslagern. Seine Erfahrung, dass 29 % der überlebenden Häftlinge trotz des erlebten Terrors und Horrors über eine gute psychische Gesundheit verfügten sowie die Frage, wie bei diesen Menschen psychische Gesundheit möglich ist, lösten bei Antonovsky ein Umdenken aus.(1)
 
Antonovsky vollzog einen Perspektivenwechsel von der Krankheitsforschung zur Gesundheitsforschung und entwickelte in den 1970er Jahren das Konzept der Salutogenese. In einer berühmten Metapher hat Antonovsky Gesundheit und Leben mit einem Fluss verglichen:(2)
"Die Menschen schwimmen in einem Fluss voller Gefahren, Strudeln, Biegungen und Stromschnellen. Der Arzt, so erklärt Antonovsky, könne mit seiner pathogenetisch orientierten Medizin versuchen, den Ertrinkenden aus dem Strom zu reißen. In der Salutogenese geht es aber um mehr: Es gilt, den Menschen zu einem guten Schwimmer zu machen. Was also hilft ihm, ohne ärztliche Hilfe Strudel und Stromschnellen zu meistern?"
 
Antonovsky verabschiedet sich vom Homöostase-Modell pathogenetischer Medizin und nimmt Heterostase (Ungleichgewicht), Unordnung und ständigen Druck in Richtung zunehmender Entropie (Prozess der Auflösung von Ordnung in Richtung Chaos) als Normalzustand für lebende Organismen an. Gesundheit und Krankheit versteht Antonovsky nicht als Gegensätze oder als Störungen von Homöostase, sondern als relative Zustände eines Kontinuums heterostatischer Zuständen, in denen Prozesse des Lebens stattfinden. Gesundheit und Krankheit bezeichnen Endpunkte dieses Kontinuums. Höhere Lebewesen, von denen hier nur Menschen betrachtet werden, sind sowohl gesund als auch krank. Kranke Menschen sind weniger gesund als gesunde Menschen und gesunde Menschen sind weniger krank als kranke Menschen.(3) 
 

2.1 Salutogenetisches Modell der Sozialpsychologie

Das Konzept der Salutogenese ist nicht als Modell einer Alternativmedizin zu verstehen, sondern resultiert aus Überlegungen zur Überwindung von Grenzen und Schwächen westlicher Schulmedizin, ohne deren Leistungen infrage zu stellen. Salutogenese kehrt die pathogenetische Sicht auf Zustände von Leben um und fragt danach, was Menschen gesund macht und gesund erhält. Mit der Wahl des Begriffs Salutogenese grenzt sich das Konzept bewusst von medizinischen Konzepten der Pathogenese ab und lenkt den Blick auf generalisierte Widerstandsressourcen, die bisher jedoch wenig erforscht und verstanden sind. 
 
Prozesse des Lebens sind prinzipiell vulnerabel. Dass trotzdem Leben, dessen Reproduktion und evolutionäre Entwicklung möglich sind, ist Widerstandsressourcen zu verdanken, die Vulnerabilität reduzieren. Widerstandsressourcen umfassen nicht nur das physiologische Immunsystem, sondern auch als Resilienz bezeichnete mentale Fähigkeiten der Bewältigung psychischer Belastungen, Störungen, Traumata sowie die Fähigkeit zur Regulierung von Kohärenz (siehe Kapitel 2.2). 
 
Gemäß salutogenetischem Modell ist Gesundheit kein passiver Gleichgewichtszustand (Homöostase), sondern ein aktives Geschehen (Heterostase). Pathogenese ist nicht auszuschließen. Antonovsky fragt aber vor allem danach, was Menschen gesund hält und beantwortet diese Frage mit Hinweisen auf generalisierte Widerstandsressourcen.  
 
 
2.2 Generalisierte Widerstandsressourcen im Modell der Salutogenese
 
Als Widerstandsressourcen versteht Antonovsky nicht nur körpereigene Abwehrkräfte des Immunsystems, sondern insbesondere auch durch kulturelle und soziale Vermittlung entwickelte individuelle Fähigkeiten, Möglichkeiten, Optionen zur aktiven Lebensgestaltung und zu Problemlösungen. Generalisierung besagt, dass Widerstandsressourcen nicht als Instrumente oder Werkzeuge zu verstehen sind, die auf besondere Situationen spezialisiert sind, sondern als Potentiale, die in Situationen aller Art nutzbar sind.
 
In metaphorischer Sprache sind Widerstandsressourcen als angesammelte Zinsen des individuellen Gesundheitskontos darstellbar. Analog verbreiteter Sozialisationsmodelle und psychoanalytischer Modelle nahm Antonovsky zunächst an, dass Widerstandsressourcen und deren Defizite in Kindheit und Jugend entwickelt werden und sich ab dem 30. Lebensjahr nicht mehr grundlegend verändern. Operationalisierung und Messbarkeit von Widerstandsressouren stellen schwierige Aufgaben, die keine einfachen Antworten zulassen. Studien liefern jedoch Hinweise, dass sich Widerstandsressourcen entlang der gesamten Lebenslinie verändern, Frauen bis zum 50. Lebensjahr stärkere Widerstandsressourcen als Männer entwickeln und sich die Verhältnisse ab dem 50. Lebensjahr umkehren.(4)


2.3 Widerstandsressourcen, Kohärenz, Selbstbestimmung, Kohäsion

Antonovsky fragte sich, warum Menschen mit ähnlich ausgesetztem Stress und ähnlichen Ressourcen grundverschieden reagieren, eine Person krank wird, während die andere Person gesund belbt. Als Schlüssel zur Erklärung fasste Antonovsky den unterschiedlich stark ausgeprägten „Sense of Coherence“ (SOC) von Personen auf, der sowohl den Sinn für Kohärenz als auch Kohärenzgefühl umfasst. Den Kohärenzsinn versteht Antonovsky als menschliche Fähigkeit zur gesundheitsdienlichen Nutzung von Ressourcen. Bezüglich Kohärenz im Sinne von SOC unterscheidet Antonovsky drei motivational wirksam werdende individuell empfundene Ausprägungen:(5)
  • Verstehbarkeit:
    auf Kogniton/Erfahrung beruhende Fähigkeiten zur Abstraktion, die Zusammenhänge des Lebens verständlich machen
  • Handhabbarkeit:
    auf persönlicher Erfahrung und Überzeugung beruhende Fähigkeit der Kontrollierbarkeit und Gestaltbarkeit des eigenen Lebens
  • Sinnhaftigkeit:
    persönliche Gewissheit, dass das Leben Sinn hat.
Antinovskys SOC-Modell ist mit anderen sozialpsychologischen Theorien verwandt, u.a. mit Modellen der Resilienz (Fähigkeit der Bewältigung psychischer Belastungen, Störungen, Traumata) und der Selbstbestimmungstheorie (SDT). Interessant ist der Sachverhalt, dass erwähnte Modelle auf ähnlichen Annahmen psychischer Grundbedürfnisse beruhen und aus ihnen motivationales Verhalten ableiten. 
 
Antinovskys SOC-Modell und das von Richard M. Ryan und Edward L. Deci entwickelte SDT-Modell unterscheidet, dass Kohärenz primäre mentale Zustände psychischer Gesundheit erklärt, während die SDT primär prozesshaftes motivationales Verhalten im sozialen Kontext erklärt. Gemäß der empirisch abgesicherten SDT sind für effektives Verhalten und psychische Gesundheit kulturübergreifend 3 permanente psychologische Grundbedürfnisse verantwortlich:(6)
  • Kompetenz
    im Sinne eigener Fähigkeiten, um gewünschte Resultate zu erzielen (analog Verstehbarkeit und Handhabbarkeit bei Antonovsky)
  • Autonomie
    im Sinne von Freiwilligkeit und Notwendigkeit (analog Sinnhaftigkeit bei Antonovsky)
  • soziales Eingebundenheit
    im Sinne positiver Wechselseitigkeit in sozialen Interaktionen
Als wesentlichen Faktor für das Ausmaß selbstbestimmten Verhaltens nimmt das SDT-Modell Zuschreibungen von Verhaltensursachen im Sinne von Kausalattribuierung an, die ebenso zentrale Bedeutung für Kohärenzstiftung hat.
 
Aus soziologischer Sicht verweisen sowohl das SOC-Modell als auch das SDT-Modell auf die Bedeutung von Kohäsion (emotionale Zusammengehörigkeitsgefühle sozialer Gruppen), deren Qualität das realisierbare Maß individueller Kohärenz und Selbstbestimmung maßgeblich beeinflusst. Der Zusammenhalt ähnlich gesinnter sozialer Gruppen (Familien, Freundeskreise, positive Zusammenarbeit in Berufsteams, Sportteams, karitative Gruppen, politische Gruppen, militärische Gruppen etc.) erzeugt und stärkt Bindungen, reduziert oder vermeidet Angst und ist ein wesentlicher Faktor für individuelle Gesundheit und Krankheit. Die Art und Weise der Entstehung und Bedeutung von Kohäsion variiert jedoch über soziale Kontexte.(7) 
 

2.4 Wie entsteht Ordnung aus Chaos durch Kohärenz?

Komplexe Organismen vermögen scheinbar unendlich chaotische biochemische Prozesse in Interaktionen mit einer noch komplexeren und chaotischeren Umwelt zu regulieren. Neurophysiologisch ist anzunehmen, dass Regulationsprozesse von genetisch codierten Kohärenz erzeugenden neurobiologischen Mechanismen gesteuert werden. Gemäß Annahme messen neurobiologische Kohärenzmechanismen permanent sinnliche Wahrnehmungen und physiologische Zustände, gleichen sie mit lebensnotwendigen Grundbedürfnissen und Sollzuständen ab und regulieren sie im Fall von Abweichungen steuernd. Als Resultat dieser Prozesse der Selbstregulation entstehen konstruierte kohärente Zusammenhänge von Kultur, Familie, Freundschaften, Gemeinschaften, Religion, Gesellschaften etc..(8)
 
Der Mediziner Theodor Dierk Petzold identifiziert drei relevante motivationale Prozesse der Selbstregulation:
  1. Ein mit dem inneren Belohnungssystem in Verbindung stehendes „Annäherungssystem“ belohnt bei einer Annäherung an ein gewünschtes Ziel mit Lust­gefühlen (Dopamin-Ausschüttung).
  2. Ein mit dem Angstzentrum verbundenes „Abwendungs-/Vermeidungssystem“ aktiviert bei Gefahr das sympathische Nervensystem.
  3. Das übergeordnete "Kohärenzsystem" reguliert Affekthandlungen des „Annäherungssystem“ sowie des „Abwendungs-/Vermeidungssystems“ und entfaltet im "Kohärenzmodus" Gelassenheit.
Weitere Wissenschaftler nehmen ebenfalls einen genetisch codierten Kohärenzsinn an, der ein Grundbedürfnis der Stimmigkeit aktiviert. Dieses Grundbedürfnis motiviert zu Kohärenzgefühle hervorrufenden Verhaltensweisen, die in sozialen Interaktionsprozessen erzeugt werden. 
 
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3 Metaperspektivische Betrachtung von Salutogenese und Kohärenz in Abgrenzung zu Pathogenese
 
Dieses Kapitel betrachtet auf der Metaebene Prinzipien und Strukturen zu erklärender Gegenstandsbereiche der Sachebene, hier das salutogenetische und das pathogenetische Modell. Deren jeweilige Perspektiven vermitteln die Kapitel 1 und 2. Trotz überschneidender Gemeinsamkeiten besteht zwischen den beiden Perspektiven wenig Übereinstimmung. Komplementarität im Sinn von Erkenntnistheorie liegt nicht vor. 
 
Der Vergleich der beiden Modelle läuft im Ergebnis darauf hinaus, dass die Modelle aus drei Hauptgründen inkommensurabel sind:
  1. Die beiden Modelle vertreten gegensätzliche Auffassung der Integration und Dynamik organischer Systeme. Kennzeichnend für die unterschiedlichen Positionen sind die Begriffe Homöostase (pathogenetisches Modell) und Heterostase (solutogenetisches Modell).
  2. Die beiden Modelle unterscheiden sich in ihrem primären Erkenntnisinteresse:
    • Das pathogenetische Modell betrachtet und betreibt Medizin primär als Reparaturwerkstatt. Es stellt wissenschaftliche Forschung auf Reparaturziele ab und organisiert den Werkstattbetrieb.
    • Das sozialpsychologische Modell der Salutogenese entwickelt ein Verständnis von Interaktionen komplexer organischer Systemprozesse im Austausch mit einer sozialen Umwelt. Sozialpsychologie betreibt Erkenntnisprozessen dienende Grundlagenforschung. Diese ist nicht anwendungsorientiert. Starke Erklärungen des Modells motivieren zu dessen Weiterentwicklung und Umsetzung in Konzepten der Gesundheitsprävention (siehe 3.2).
  3. Die beiden Modelle vertreten unterschiedliche Verständnisse von Krankheit, auf die nachfolgende Kapitel eingehen. 
 
3.1 Widersprüchlichkeit und Komplementarität 
 
Philosophische Erkenntnistheorie bezeichnet "zwei (scheinbar) widersprüchliche, einander ausschließende, nicht aufeinander reduzierbare Beschreibungsweisen oder Versuchsanordnungen, die aber in ihrer wechselseitigen Ergänzung zum Verständnis eines Phänomens oder Sachverhaltes im Ganzen notwendig sind" als Komplementarität (Wikipedia). Komplementäre Gegensätze bilden Dichotome, eine aus zwei Teilen bestehende einheitliche Struktur (Wikipedia). Das salutogenetische Modell und das pathogenetische Modell bilden keine Dichotome, weil sie sich nicht auf denselben Erklärungsgegenstand beziehen. 
 
Annahmen eines evolutionär entstandenen, mentale Ordnung erzeugenden biologischen Kohärenzsystems haben spekulativen Charakter und sind empirisch nur begrenzt prüfbar. Diese Annahmen sind nicht irrational, sondern sie öffnen Zugänge zum Verständnis nicht operationalisierbarer komplexer Zusammenhänge. Annahmen eines mentale Ordnung erzeugenden biologischen Kohärenzsystems machen Funktionen dieses Systems verständlich.
 
Psychische Grundbedürfnisse nach Verstehbarkeit, Sinnhaftigkeit, Angstreduzierung sowie basale soziale Strukturen (soziale Gruppen, Symbolsysteme, abstrakte Glaubenssysteme) regulieren mentale Ordnungskonstrukte, die im Chaos der Welt erst Überleben und evolutionäre Entwicklung möglich machen. Diese Annahme ist nicht so harmlos, wie sie vielleicht auf den ersten Blick ausschaut. Sie impliziert nämlich, dass nicht nur subjektives Denken und Handeln, sondern auch Gesundheit und Krankheit von Lebensbedingungen beeinflusst sind. Pauschale Aussagen über Stärke dieses Determinismus hätten abzulehnenden dogmatischen Charakter. 
 
Jedenfalls bedeutet dieser Zusammenhang, dass Diagnosen subjektiver Befindlichkeit (Standardmethode pathogenetischer Konzepte) prinzipiell unvollständig sind und einen verzerrten Blick erzeugen. So gesehen stellen sich Schulmedizin und Alternativmedizin als unterschiedliche Ausprägungen eines paradigmatischen Glaubenssystems pathogenetischer Medizin dar, in der sich Wissenschaftler, Ärzte und Therapeuten als humane Leistungshelden inszenieren und Patienten die Rolle eines Klientels zuweisen, dessen Leistungswürdigkeit mit Zahlungskraft zunimmt.
 
Schulmedizin und Alternativmedizin operieren innerhalb des Paradigmas eines pathogenetischen Glaubensmodells, aber sie nutzen unterschiedliche Methoden. Alternativmedizin verzichtet auf Evidenzen, operiert unverstellt auf der Glaubensebene und ist damit letztlich ehrlicher. Schulmedizin operiert mit teiweise fragwürdigen Evidenzen, erzeugt aber per Saldo den größeren Nutzen und konnte trotz immenser Kosten und trotz aller Fragen Dominanz entfalten.
 
Modelle der Salutogenese und Pathogenese erklären Störungen unterschiedlich und unterscheiden sich darüber hinaus bzgl. ihrer Auffassung des Störungen umfassenden Rahmens. Nach außen sichtbar sind nur Störungen des Organsystems. Störungen des Organsystems können von vier typischen Quellen verursacht sein, die
  1. angeboren sind, 
  2. traumatisch auftreten,
  3. als physische Mikroeinflüsse von außen auf das Organsystem einwirken (Viren, Bakterien, Parasiten, Pilze, Vergiftungen etc.),
  4. von psychischen Störungen ausgelöst werden.

3.2 Salutogenetisches Modell
 
Das salutogenetische Modell berücksichtigt als Krankheit nur Funktionsstörungen des Typs 4 und erklärt nicht, ob oder wie eine gestörte Architektur repariert werden kann. Das Modell inspiriert jedoch neue Konzepte wie das Lebensweisenkonzept und geht in große wissenschaftliche Untersuchungen zur gesundheitlichen Lage in Deutschland ein, auf deren Grundlage neue Strategien der Gesundheitsprävention entwickelt werden.(1,2,3,4) Wikipedia nennt 6 Forschungsgruppen, die sich mit Konzepten der Salutogenese befassen.(5)
 
Ungleichgewicht und permanente Störeinflüsse versteht das salutogenetische Modell als Normalzustand. Vom Kohärenzsystem gesteuerte fitte Regulierungsmechanismen des Organsystems werden mit Ungleichgewicht und Störungen fertig. Wenn Krankheiten auftreten, sind Ursachen im Kohärenzsystem zu suchen. Vom Kohärenzsystem ausgelöste Störungen des Typs 4 entwickeln sich über längere Zeiträume in nicht umkehrbaren komplexen Prozessen. Die prinzipielle Plastizität von Organsystemen ermöglicht deren Überleben unter veränderten Umweltbedingungen durch Anpassungen, aber sie vermag keine Prozesse umzukehren.
 
Das Modell basiert auf einem ganzheitlich-systemischem Verständnis von Organsystemen. Vom Kohärenzsystem regulierte mentale Ordnung und vom Organsystem regulierte Funktionalität bilden eine interagierende Einheit im Sinne von Komplementarität. Generell erklärt das Modell die Entstehung von Gesundheit und Krankheit im Sinne von Bauplänen einer evolutionär entstandenen Gesamtarchitektur. Architekturannahmen des pathogenetischen Medizinparadigmas sind gemäß dieser Perspektive mindestens fragwürdig.
 

3.3 Pathogenetisches Modell
 
Das pathogenetische Modell versteht als Krankheit im engeren Sinn nur Funktionsstörungen des Typs 3. Es betätigt sich aber als Reparaturwerkstatt für Störungen der Typen 1 bis 3 und erklärt sich für Störungen vom Typ 4 als nicht zuständig.
 
Gesundheit fasst das pathogenetische Modell als Gleichgewicht eines sich selbst regulierenden Systems auf und Krankheit als Ungleichgewicht erzeugende pathologische Störprozesse, die auf das System einwirken. Mit Gesundheit muss sich das pathogenetische Modell nicht beschäftigen, weil sich Gesundheit vermeintlich als selbstregulierender Normalzustand gewöhnlich einstellt. Handlungsbedarf besteht erst, wenn der Normalzustand gestört ist.
 
Konzepte des pathogenetischen Medizinparadigmas basieren auf keinem ganzheitlichen Verständnis von Organsystemen. Sie operieren nicht mit Annahmen von Komplementarität und zielen nicht primär auf den Schutz von Organsystemen, sondern sie fokussieren auf empirisch beobachtbare Funktionsstörungen von Organsystemen. Störungen bearbeiten sie mit Methoden des pathogenetischen Medizinparadigmas nicht immer erfolgreich, aber oftmals hilfreich. Das bedeutet: das pathogenetische Modell ist nützlich, obwohl dessen Architektur unvollständig ist und einige Konstrukte schief oder falsch zusammengesetzt sind.   
 
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  1. BZgA: Lebensweisenkonzept 
  2. Bundesministerium für Gesundheit: Bericht zur gesundheitlichen Situation von Frauen in Deutschland (PDF, 772 Setien)
  3. Pressemeldung Bundesministerium für Gesundheit: Wie steht es um Frauengesundheit?
  4. RKI: Gesundheitliche Lage der Frauen in Deutschland (PDF, 394 Seiten)
  5. Wikipedia: Solutogenese.Forschungskonzepte
 
4 Schlussbetrachtung im Kontext der Postserie
 
Grenzen von Erkenntnisfähigkeit verpflichten zu Bescheidenheit. Erkenntnistheoretisch ist nicht entscheidbar ist, ob Allgemeinbegriffe (Universalen) tatsächlich existieren (Position des Realismus) oder ob es sich um gedachte abstrakte begriffliche Konstrukte handelt (Position des Nominalismus). Immerhin haben wir in einer offenen Gesellschaft die Wahl, ob wir irrationalen Glaubenssystemen vertrauen möchten oder ob wir bereit sind, mit rationaler Ungewissheit zu leben.(1) Fraglich ist, wieweit sich Menschen dieser Alternativen bewusst sind und sich im positiven Fall für eine der Alternativen entscheiden oder vorzugsweise keine Entscheidung treffen.
 
Thomas Metzinger, einer der renommiertesten deutschsprachigen Vertreter der Philosophie des Geistes, beschäftigt sich intensiv mit Themen des Bewusstseins. Metzinger nimmt an, dass sich in prähistorischen Kulturen Glaubenssysteme entwickelt haben, aus denen Religionen hervorgegangen sind. Metzinger beruft sich auf das in Experimenten überprüfte sozialpsychologische Modell der Terror Management Theorie, wenn er Einsicht in die eigene Sterblichkeit bzw. Todesangst als Hauptproblem menschlicher Spezies postuliert, aus dieser Annahme sozialpsychologische Erklärungen der Genese und des Managements Kultur erzeugender universeller Verhaltensmuster ableitet und aus diesem Zusammenhang die Entstehung von Glaubenssystemen erklärt. Glaubenssysteme verhelfen zur kulturellen Verfestigung von Verhaltensweisen, die Menschen Angst vor dem Tod nehmen und den Zusammenhalt von Gruppen wesentlich verstärken.(2)
 
Ausführlichere Betrachtungen zu Themen der Philosophie des Bewusstseins sowie der Evolution von Bewusstsein, Kultur und Religion trägt eine Postserie zum Themenkomplex Bewusstsein, Kultur, Religion zusammen. Aufgrund der Beschäftigung mit dem Themenkomplex dieser Postserie ist der Autor dieses Posts auf das Modell der Salutogenese aufmerksam geworden. Recherchen suchten nach Erklärungen für Sinnstiftungs-Bedürfnisse und fanden Hinweise auf ein als Kohärenzsystem bezeichnetes Meta-Regulationssystem. Gemäß eigenem modellhaftem Verständnis sind in der Sinnkomponente des Kohärenzsystem mentale Ordnungskonstrukte des kategorialen Denkens, der Kausalattribuierung und der Angstbewältigung (Terror Management Theorie) verwoben.(3) 
 
Eine im Prozess der biologischen Evolution entwickelte, kognitiv operierende mentale Sinnkomponente ist mutmaßlich an der Entstehung von Glaubenssystemen und deren symbolischen Repräsentationen beteiligt. Glaubenssysteme entstehen im Kontext von Wechselwirkungen mit Wertesystemen. Aus symbolisch repräsentierten Glaubenssystemen sind Religionen hervorgegangen. Wie sich dieser Prozess entwickelt hat, ist eine an anderer Stelle betrachtete Thematik.(4) 
 
Im Prozess kultureller Evolution erzeugte soziale Differenzierung bewirkt die Fragmentierung von Werte- und Glaubenssystemen, sodass soziales Verhalten keinen einheitlichen Regeln folgt, sondern sich weitgehend unbewusst als Ausprägung der jeweiligen Werte- und Glaubenssysteme manifestiert. Zusammenhänge dieser Art belegte der französische Soziologe Pierre Bourdieu mit den Begriffen Habitus und Doxa und wies deren Einfluss auf das Denken und Verhalten von Menschen in empirischen Studien nach.(5) 
 
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  1. Wikipedia: Universalienproblem
  2. Thomas Metzinger: Spiritualität und intellektuelle Redlichkeit (PDF)   
  3. Auf mentale Ordnungskonstrukte des kategorialen Denkens und der Kausalattribuierung geht der Post Was ist Bewusstsein? in den Kapiteln 3.1 und 3.2 ein. 
  4. Ein Post über die Evolution von Religionssystemen befindet sich in Bearbeitung. 
  5. Siehe Post: Pierre Bourdieu, Habitas und Doxa - Machteliten und Machtstrukturen 

4 Änderungshistorie des Posts
 
14.05.2023:   Kapitel 1.1.2 eingefügt
11.05.2023:   Erweiterung des Begriffs Schulmedizin 
17.03.2023:   Überarbeitung Kapitel 2.3, Ergänzungen zur Selbsbbestimmungstheorie
07.03.2023:   Überarbeitung Kapitel 3 und 4
06.03.2023:   Neues Kapitel 4 
                      Vollständige Überarbeitung Kapitel 3
                      Ergänzung Sterbehilfe in Kapitel 1.1.1 
                      Anpassung Inhaltsverzeichnis
05.03.2023:  Überarbeitung Kapitel 1.1, 1.2, 3
                     Neues Kapitel 1.1.1 aufgenommen
                     Überschrift Kapitel 2.4 geändert
                     Verweise auf alternativmedizinische Modelle umgestellt und erweitert
                     Zusätzliche Anmerkungen aufgenommen
                     Anmerkungen vom Ende des Posts zu Kapitelenden übertragen
                     Kapitelnummerierung und Inhaltsverzeichnis angepasst
                     Bildunterschriften und Rechte nachgetragen
04.03.2023:  Veröffentlichung der Urversion

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