Sonntag, 23. April 2023

Grundfarbe Deutsch - individuelle Happiness - prekäres vs. lebenswertes Leben - Update: 23.05.2023

In seinem 3. Buch übt der Herzchirurg Dr. Umeswaran Arunagirinathan (Umes) berechtigte Kritik an Fehlentwicklungen des deutschen Gesundheitssystems (Post: Der verlorene Patient – Dr. Umeswaran Arunagirinathan berichtet aus dem Maschinenraum des Medizinbetriebs). Im April 2022 ist das jüngste Buch mit dem Titel Grundfarbe Deutsch erschienen. Der Haupttitel des Buchs ist eine Metapher für typisch Deutsches, das der Autor ohne romantischen Kitsch oder Lobhudelei mit einer Liebeserklärung würdigt. Der Untertitel "Warum ich dahin gehe, wo die Rassisten sind", kündigt aber auch Besorgnis an, die der Autor mit diesem Buch begründet.
Leben bietet zweifellos Stoff für spannende Erzählungen, aber darum geht es dem Autor nicht primär. Vor dem Hintergrund eines ehemals prekären Lebens beschreibt der Autor seine eigene gelungene Integration in eine zuvor völlig fremde Kultur, die er inzwischen als Heimatkultur angenommen hat, obwohl auch hier längst nicht nur heile Welt besteht. Seine Erfahrung verallgemeinert der Autor im Sinne exemplarischer Perspektiven der Ermöglichung oder Verhinderung guten Lebens. 
Der Autor berichtet in Sprache des Alltagsdenkens, ohne die soziales Leben einer Kultur nicht möglich wäre. Zwischen Kulturen konkurriert unterschiedliches Alltagsdenken. Offenbar bringen unterschiedliche Bedingungen nicht nur verschiedene Sprachen und Symbole hervor, sondern auch unterschiedliche Arten des Denkens mit unterschiedlichen Wertvorstellungen und Verständnissen der Welt. Erklärungen von Ursachen dieses Sachverhalts erfordern über Alltagsdenken hinausgehendes Denken 2. Ordnung. 
Inhaltsübersicht
    
1       Worum geht es in diesem Post?
1.1    Struktur dieses Posts 
1.2    Motivation    
1.3    Denkordnungen
1.3.1 Alltagsdenken (Denken 1. Ordnung)
1.3.2 Wissenschaftliches Denken (Denken 2. Ordnung)
1.4    Anmerkungen zu Intentionen des Buchautors 
1.5    Schwimmen im Strom des Lebens
 
2       Meilensteine der biographischen Story 
2.1    Leben in Sri Lanka und Flucht nach Deutschland
2.2    Jugendzeit in Hamburg
2.3    Medizinstudium in Lübeck
2.4    Einbürgerung und Tätigkeit als Arzt 
 
3       Soziale Makrostrukturen und universale Prinzipien sozialen Lebens
3.1    Soziale Differenzierung 
3.2    Bewusstsein in der Umgebung von Kultur
3.3    Generalisierte Aussagen   
3.4    Anmerkungen zu Sozialindikatoren
 
4       Anmerkungen zum Leben in Deutschland 
4.1    Soziale Differenzierung in Deutschland
4.2    Warum ist das Leben in Deutschland lebenswert?
4.3    Welche Sorgen bereitet Leben in Deutschland?
4.3.1 Vorurteile und Rassismus
4.3.2 Bürokratie und bürokratisches Denken in Behörden
4.3.3 Integrationswille von Migranten
4.3.4 Auswirkungen von Migrantenpolitik auf Sicht individuelle Happiness
4.3.5 Migrantenpolitik auf politischer Kollektivebene
 
5       Welche Sorgen bereitet Leben global?
5.1    Migrantenpolitik in globaler Betrachtung 
5.2    Dynamik, Stabilität, Trägheit, Intransparenz von Strukturen und Prozessen in Institutionen und formalen Organisation 
5.3    Künstliche Intelligenz: Ist Optimismus eine relevante Option?
 
6       Änderungshistorie des Posts
 
 
1 Worum geht es in diesem Post?
 
1.1 Struktur dieses Posts
  • Kapitel 1: Anmerkungen grundsätzlicher Art
  • Kapitel 2: Kurzfassung biographischer Meilensteine, die der Autor des Buchs Grundfarbe Deutsch als Ereignisketten eines großen Zusammenhangs beschreibt
  • Kapitel 3: Anmerkungen zu universalen sozialen Prinzipien im Kontext des Buchs
  • Kapitel 4: Kritische Betrachtung von Aussagen des Buchs Grundfarbe Deutsch zu Themenfeldern von Migration
  • Kapitel 5: Anmerkungen zu globalen Makrostrukturen im Kontext des Buches

1.2 Motivation
 
Dieser Post ist keine Nacherzählung des Buchs Grundfarbe Deutsch, sondern Teil 1 einer sich über 2 Posts erstreckenden Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Denkordnungen, die Unterschiede zwischen naivem Alltagsdenken und wissenschaftlichem Denken zu verstehen und zu beschreiben versucht:
  • Teil 1 (hier vorliegender Post) vermittelt anhand inhaltlicher Beispiele der im Buch Grundfarbe Deutsch ausgebreiteten Migrationsthematik, wie unterschiedliche Denkweisen unterschiedliche Verständnisse von Welt hervorbringen. 
  • Teil 2 (Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält) befasst sich mit dem abstrakten theoretischen Gerüst eines auf Methoden rationaler Analyse beruhenden selbstreflexiven wissenschaftlichen Denkens 2. Ordnung und nutzt theoretische Erklärungsmodelle dieses Denken, um eine Reihe empirischer Mikro- und Makro-Phänomene kultureller Evolution zu deuten. 

Die beiden Teile sind nicht eng verzahnt und können daher auch für sich stehen.

 
1.3 Denkordnungen 
 
Leben ist ohne Verständnisse von Realität der uns umgebenden Welt nicht möglich. Verständnisse von Realität entstehen mit Hilfe von Methoden des Denkens 1. Ordnung (Alltagsdenken) und der 2. Ordnung (wissenschaftliches Denken).  
 
Das Buch Grundfarbe Deutsch beschreibt Ereignisse und emotionale Zustände als empirische Phänomene überwiegend aus Sicht des Alltagsdenkens (Denken 1. Ordnung) und benennt aus dieser Sicht Randbedingungen von Ereignissen, identifiziert aber keine Ursachen des Zustandekommens mentaler Zustände. 
 
Wissenschaftliches Denken erschließt mittels analytischer Methoden komplexe Zusammenhänge von Denkordnungen und evoziert die Erkenntnis, dass Alltagsdenken 1. Ordnung auf universalen biologischen Mechanismen des kognitiven Apparates beruht. Diese verhindern, dass deterministische Prägungen nicht erkannt werden und erzeugen im Bewusstsein 
  • Wahrnehmungen eigener Kompetenz und Autonomie als individuelle Fähigkeiten,
  • Illusionen subjektiver Einzigartigkeit,  
  • Verständnisse vermeintlich objektiver Realität, Kausalität und Sinnhaftigkeit.
Abgesehen von pathologischen Zuständen und relativ gering variierenden Genmustern sind biologische Strukturen und Prozesse menschlichen Denkens funktional einheitlich organisiert. Erst komplexe systemische Zusammenhänge erzeugen eine große Vielfalt kultureller Muster und individueller Denkweisen:
  • Fähigkeiten kognitiver Kompetenz ermöglichen als Kultur aufgefasste Gestaltungen von Lebensbedingungen. 
  • Randbedingungen des Lebens bewirken anzutreffende Variationen von Kulturmustern.
  • Kulturmuster variieren individuelle kognitive Muster (Denkmuster). 
  • Unterschiedliche Denkmuster bewirken, dass objektiv gleichartige Sachverhalte und Ereignisse subjektiv unterschiedliche Wahrnehmungen und Erinnerungen evozieren. 
  • Aufgrund dieser systemischen Prozesse erleben sich Menschen als Selbst und können mentale Zustände anderer Menschen empathisch nachvollziehen.
Im vorliegenden Post ist Denken 2. Ordnung im Kapitel 1.3.2 lediglich aufgeführt, um Unterschiede zum Alltagsdenken zu verdeutlichen. Verständnisse der Bedeutung von Bewusstsein und Kultur betrachten die kürzlich veröffentlichten Posts Was ist Bewusstsein? und Was ist Kultur? ausführlicher.
 
 
1.3.1 Alltagsdenken (Denken 1. Ordnung)
 
Überleben und Reproduktion erfordert pragmatisches Denken, das sich im Alltagsdenken ausprägt und Methoden 1. Ordnung nutzt. Denken 1. Ordnung umfasst sowohl unbewusste Wahrnehmungs- und Deutungsmechanismen als auch bewusste, assoziativ und spontan stattfindende, auf Vergleichen von Mustern beruhende analoge Prozesse des kognitiven Apparates. 
 
Alltagsdenken ist die im sozialen Raum vorherrschende Denkweise. Die Verwissenschaftlichung des Alltagsdenken findet in Sozialwissenschaften und der Philosophie (Liebe zur Weisheit) statt. Deren Disziplinen untersuchen und erklären Aspekte von Strukturen, Prozessen, Funktionen der Wahrnehmung und des Verhaltens einzelner Individuen sowie Zusammenhänge sozialer Verflechtungen zwischen Individuen.
 
Alltagsdenken nutzt Methoden 1. Ordnung, die mit begrenzten Ressourcen ein Überleben unter prekären Bedingungen ermöglichen, indem sie mittels Vereinfachungen und Filtervorgängen ein vermeintlich konsistentes Bild der Realität konstruieren, das schnelle Urteile (Entscheidungen) erlaubt, um pragmatische Handlungsfähigkeit herzustellen. Methoden 1. Ordnung basieren auf einer Reihe ohne Richtung und Ziel im Prozess der Evolution biologisch programmierter kognitiver Heuristiken:
  • Ein Kohärenzbedürfnis motiviert zur Erzeugung mentaler Zustände, die als kohärent empfunden werden (verstehbar, handhabbar, nützlich, sinnhaft) und zur Abwehr von Zuständen, die dem Kohärenzbedürfnis widersprechen.
  • Das Kohärenzbedürfnis bevorzugt soziale Kontakte, die emotionale Zustände von Kohäsion erzeugen.
  • Entscheidungs- und Verhaltenssicherheit fördern mehrere heuristische Mechanismen, die trotz begrenztem Wissen und begrenzter Zeit praktikable Handlungsoptionen herstellen:
    • Ordnungen zweiwertiger Kategorisierungen (wahr vs. unwahr, richtig vs. falsch, gut vs. böse, essbar vs. nicht essbar, Freund vs. Feind etc.) wahrgenommener Phänomene ermöglichen schnelle Entscheidungen.
    • Kausalattribuierung (Annahmen unmittelbarer Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge zwischen empirischen Phänomen) bezeichnet Ursachen wahrgenommener Phänomene. Kausalität beruht auf Wissen bzw. Erfahrungen und erwartet, das Gleiches dieselbe Ursache hat.
    • Vorurteilen und Stereotypen (ungeprüft angewendete gespeicherte Bewertungsmuster) sowie kognitive Verzerrungen (in Lebenspraxis bewährte systematische Denk- und Wahrnehmungsfehler) erzeugen Verhaltenssicherheit mittels Beurteilungsautomatismen.
Tendenzen der Systematik des Alltagsdenkens:
  1. Wahrnehmungsmuster analogen Alltagsdenkens beruhen auf naivem Realismus, der eigene Wahrnehmung als objektive Sachverhalte auffasst, von denen implizit angenommen wird, dass andere Menschen sie teilen. 
  2. Alltagsdenkens nimmt an, dass evolutionäre Prozesse zielorientiert entweder in Richtung einer eschatologischen Endzeit oder als unendlicher Fortschritt verläuft.   
  3. Denkprozesse zeichnen sich durch Selbstverständlichkeit und Automatismen aus und erklären, was man sieht und was man denkt. Da Selbstreflexion und kritische Distanz zur eigenen Wahrnehmung unüblich sind, können 'Denkfallen' entstehen, die aber erst erkannt werden, wenn erwarteter Nutzen sich nicht einstellt oder Schaden auftritt.
  4. Deutungsmuster des Alltagsdenkens betrachten die Welt unter Aspekten von Nützlichkeit oder Praxistauglichkeit ideologisch, d.h. mit vorgefertigten Vorstellungen und Ideen, die Wertepluralismus und Toleranz nur in engen Grenzen bekannter und akzeptierter Rahmen zustimmen. Die Bereitschaft zum Ertragen von Widersprüchen ist gering. 
    • Gewöhnlich gelten mit individuellen Ansichten und Vorlieben harmonierende Sachverhalte als richtig bzw. 'normal' und als Bestätigungen vorgefertigter Weltanschauungen. 
    • Das Bedürfnis eines positiven Selbstbilds verbucht günstige Resultate von Handlungsaktvitäten als Erfolge eigener Fähigkeiten und Leistungen und schreibt ungünstige Ergebnisse Fremdverschulden zu.
    • Von Ansichten und Vorlieben deutlich abweichende Werte und Verhaltensmuster stoßen auf ein breites Spektrum der Ablehnung, das von Ignoranz über Misstrauen bis zu massiver Bekämpfung reichen kann.
    • Erklärungen sozialer Phänomene resultieren aus politisch, religiös, spirituell konnotierten dogmatisch-fundamentalistischen Anschauungen einer Realität, die scheinbar dichotomisch in Paaren von Gegensätzen organisiert ist (Freund vs. Feind, gut vs. schlecht, nützlich vs. unbrauchbar, Nutzpflanzen/Unkraut, Nutztiere vs. Ungeziefer/Schädlinge etc.). 
    • Weil Komplexität und Kontingenz unverstanden bleiben, werden prozesshafte empirische Phänomene mit Hilfe vereinfachender Konstrukte vermeintlich kausaler Linearität erklärt.  
    • Außerhalb eigener Verständnisfähigkeiten liegende Sachverhalte werden ausgeblendet oder marginalisiert.
    • Rational nicht nachvollziehbaren Phänomenen der Realität wird Kausalität zugeschrieben, indem Ursachen des Auftretens dieser Phänomene mit universalen Gesetzmäßigkeiten oder transzendenten Mächten erklärt wird. 
 
1.3.2 Wissenschaftliches Denken (Denken 2. Ordnung)
 
Wissenschaftliches Denken wechselt vom Was zum Wie. Es erklärt nicht Inhalte von Wahrnehmung und Denkprozessen (was), sondern auf welche Art und Weise (wie) Inhalte zustande kommen. Diese Denkweise bezieht sich nicht ausschließlich auf Fremdbeobachtung, sondern kann sich auch selbstreflexiv auf sich selbst beziehen.
 
Wissenschaftliche Methoden beruhen auf analytischem Denken 2. Ordnung, wenn sie rational begründbare modellhafte Erklärungen von Realität entwickeln, die sich in empirischen Überprüfungen bewähren müssen. Durch Vergleiche mit konkurrierenden Modellen kann die Leistungsfähigkeit von Erklärungen reifen, ohne Realität jemals als gültig erklären zu können. Methoden 2. Ordnung verstehen Methoden 1. Ordnung als nützliche Illusionen und erklären deren Nützlichkeit, Entstehung, Persistenz sowie deren Mechanismen. 
 
Wissenschaftliches Denken ist sich bewusst, dass 
  1. evolutionäre Prozesse kein Ziel haben und ungerichtet verlaufen,
  2. Wahrheit nur in formaler Logik möglich ist und hinsichtlich Realität auf Überzeugungen beruht, deren Gültigkeit nicht bewiesen werden kann,
  3. gültige Aussagen über mentale Zustände prinzipiell nur für den eigenen Zustand möglich sind,
  4. Komplexität von Realität nur unvollständig verstehbar ist,
  5. Komplexität nicht vorhersagbare kontingente Ereignisse erzeugt,
  6. Wissensvorräte endlich sind und Irrtümer enthalten,
  7. die Menge nicht bekannten Wissens mit zunehmendem Wissensvorrat zu wachsen scheint,
  8. Verständnisse von Realität auf sozialen Konstrukten beruhen, die sich über Zeit ändern,
  9. soziale Konstrukte keine objektive Realität beschreiben, sondern auf Konsens beruhen und unter Bedingungen von Komplexität und Kontingenz variieren,
  10. zur Frage der Beschaffenheit und Erkenntnisfähigkeit von Realität unterschiedliche Auffassungen konkurrieren, von denen keine alleinige Gültigkeit beanspruchen kann. Verbreitet ist die Position des Kritischen Realismus (KR). Diese nimmt an, dass
    1. eine vom Denken unabhängige Realität existiert,
    2. Realität prinzipiell dem Denken zugänglich ist,
    3. sicheres Wissen über Realität nicht möglich ist und daher Aussagen über Realität auf Annahmen resp. Vermutungen beruhen (weshalb Beschreibungen von Zusammenhängen als Modelle oder Theorien bezeichnet werden).
 
1.4 Anmerkungen zu Intentionen des Buchautors  
 
Laut Eintrag in Wikipedia, der ein als Spiegel+-Artikel veröffentlichtes Interview vom 9.04.2022 zitiert, hat Umeswaran Arunagirinathan das 
"Buch Grundfarbe Deutsch [...] eigenen Angaben zufolge geschrieben, weil er „Angst habe, dass die Gesellschaft auseinanderdriftet und eine Spaltung droht“, und um darauf aufmerksam zu machen, dass es für alle in Deutschland lebenden Menschen die Verständigung auf einen „gemeinsamen Nenner“ geben muss (laut Arunagirinathan auf „Werte. Etwa das deutsche Grundgesetz, die Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, all die Dinge, die hier so oft selbstverständlich erscheinen, aber nicht selbstverständlich sind.“)."

Diese Aussage ist nachvollziehbar und rechtfertigt sympathisierende eigene Zustimmung. Dass in Deutschland lebende Menschen für ein friedliches Zusammenleben gemeinsame Werte benötigen, ist eine notwendige, aber keineswegs triviale Selbstverständlichkeit. Zugleich sind weitere Fragen relevant:
  • Wie stark muss Konsens oder wie weit müssen Übereinstimmungen ausgeprägt sein, damit ein notwendiges und für möglichst alle Menschen wünschbares Gemeinschaftsgefühl vorhanden ist?
  • Wie groß ist der Spielraum für individuelle Autonomie, Freiheit und Andersartigkeit von Menschen, der Menschen positive Einstellungen zum Leben in einem Land vermittelt?
Auf diese Fragen sind keine einfachen Antworten möglich, aber es ist sicherlich so, dass Konsens und Autonomie nicht unabhängig voneinander sind und ein Land letztlich dann als lebenswert empfunden wird, wenn beide Bedingungen eine Einheit bilden, der eine Mehrheit zustimmt. 
 
Umes ist in einem Land unter Bedingungen eines Bürgerkrieges aufgewachsen. In Anbetracht dieser Erfahrung ist Angst vor zunehmenden Konflikten bzw. "auseinanderdriftender Gesellschaft" und "Spaltung" (Bürgerkrieg) verständlich. Diese auf der Ebene individueller Emotionen spürbare Angst ist real. Ob sie auch realistisch ist, d.h. nicht nur subjektiv zu spüren ist, sondern als Trend objektiver sozialer Prozesse aufgefasst werden muss, der in einen Bürgerkrieg führen könnte, ist eine Frage, die nachfolgende Kapitel betrachten.  
 
Inhaltliche Aussagen des Autors zu Erlebnissen und Themen der Sachebene sind  nachvollziehbar. Darüber hinaus verweist das Buch auf empirisch bestätigte Muster menschlicher Verhaltensweisen, die sich erst auf einer Metaebene sozialpsychologischer Erklärung als universale Muster menschlichen Verhaltens offenbaren. Ob solche Aussagen vom Autor intendiert sind, ist unsicher. Möglicherweise sind dem Autor in Erzählungen durchscheinende universale Verhaltensmuster nicht bewusst. Vielleicht verzichtet der Autor aber auch absichtlich auf Beschreibungen von Metastrukturen, weil sich das Buch an ein breites Publikum wendet und darum wissenschaftliche Betrachtungen vermeidet. Jedenfalls beabsichtigt dieser Post, universale Muster zu identifizieren, die an der Entstehung individueller Biographien beteiligt sind und maßgeblich beeinflussen, wie Leben gelingt oder misslingt.
 
 
1.5 Schwimmen im Strom des Lebens
 
Im Post formulierte abstrakt-analytische Argumente sind unanschaulich. Anschaulichkeit ist hilfreich, weil sie das Verständnis komplexer Zusammenhänge erleichtert. Andererseits haben metaphorische Bilder und Vergleiche auch Schwächen. Diese werden hier in Kauf genommen, wenn nachfolgend immer wieder metaphorische Bilder eingestreut sind.
 
In weiter Perspektive stellt sich Leben ähnlich wie ein großer Strom dar, der je nach Bedingungen seiner Umgebung mal träge und mal wild, mal mit hohem und mal mit niedrigem Wasserstand fließt. Sicher ist nur, dass der Strom aufgrund von Gefälle fließt. Aufs Ganze betrachtet sind Bewegung, Wassertiefe, Wassermenge und Verdunstungsgröße unvorhersehbar. Erst aus naher Perspektive zeigen sich Details von Höhen, Tiefen, Turbulenzen, Überlagerungen, Texturen, Granulierungen etc., die sich im mittleren Abstand als Strukturen von Landschaften darstellen.

Jede Biographie verläuft anders. Das Bild eines in gefährlichen Gewässern schwimmenden Menschen teilen alle Biographien. Mit dem durch die Landschaft mäandernden Strom verändern sich Bedingungen des Schwimmens ständig und oft unberechenbar. Nicht alle Menschen kommen mit sich laufend ändernden Bedingungen zurecht. Bekannte Gefahren sind leichter zu bewältigen als unbekannte Gefahren. In Gefahrensituation leisten Rettungskräfte mitunter Hilfe, aber längst nicht immer. Die Menge der Helfer reicht oft nicht aus und vorhandene Helfer sind manchmal überfordert. Besser gelingt die Bewältigung von Gefahren, wenn man eigenen Fähigkeiten vertrauen kann. Individuell fallen Fähigkeiten von Menschen qualitativ unterschiedlich aus. 
  • Es gibt gute Schwimmer, schlechte Schwimmer und Nichtschwimmer.
  • Menschen sind zunächst Nichtschwimmer. Schwimmen muss erlernt werden. 
  • Viele Nichtschwimmer lernen das Schwimmen.
  • Etliche Nichtschwimmer lernen das Schwimmen nie. Einige wollen nicht, andere können nicht.
  • Schlechte Schwimmer bleiben i.d.R. lebenslang schlechte Schwimmer. Eine Minderheit entwickelt sich zu guten Schwimmern.
  • Wer schwimmen kann, behält diese Fähigkeit lebenslang.
In ähnlich wechselnden Perspektiven beschreibt der Autor des Buchs seine durch das Leben mäandernde Biographie. Wenn der Autor auf Ereignisse des eigenen Lebens fokussiert, reiht er in Naheinstellung mehr oder weniger sich zufällig einstellende Ereignisse auf. Diese unterliegen der eigenen Deutungshoheit, von der der Autor Gebrauch macht. In Ferneinstellung zeigen sich vom Post kontrastreich nachgezeichnete Strukturen biologischer und kultureller Verhaltensmuster, die der Autor eher vorsichtig skizziert und bewertet.
 
 
2 Meilensteine der biographischen Story

Einige Details der Biographie beschreibt der Internetauftritt des Autors inkl. Fotos: Dr. Umeswaran Arunagirinathan: Meine Geschichte. Eine Reihe online veröffentlichter Artikel geben weitere Details preis:
Im Buch Grundfarbe Deutsch entfaltet Umes seine Story in 26 jeweils kurzen Kapiteln über 216 Textseiten des Buches. Bei der Abfassung des Buches stand ihm als Ghostwriter Doris Mendlewitsch zur Seite (Wikipedia: Doris Mendlewitsch), die in der Danksagung an erster Stelle genannt ist und zu dem Buch wahrscheinlich mit einem hohen Anteil beigetragen hat. Über sein Buch spricht der Autor in einem Interview vom 14.04.2022 mit der taz: "Ich sehe meine Farbe nicht"
 
 
2.1 Leben in Sri Lanka und Flucht nach Deutschland
 
Die 5 ersten Kapitel berichten über das Leben in der Provinz von Sri Lanka sowie von Umes Flucht. Auslöser der Flucht war ein trotz demokratischer Verfassung seit 1983 im Land herrschender Bürgerkrieg zwischen Ethnien einer buddhistisch-singalesischen Majorität und einer nach Autonomie strebenden hinduistisch-tamilischen Minorität. Der Bürgerkrieg endete 2009 ohne Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen. Konflikte schwelen weiter.
 
Umes Vater arbeitete während der Woche meistens außerhalb des Ortes. Als ältester Junge unter 5 Geschwistern wuchs Umes in die Rolle des traditionell designierten Familienoberhauptes auf und übernahm bereits früh Mitverantwortung für die Versorgung der Familie. Umes trug gerne Verantwortung, durch die er wichtig wurde. Mit Kreativität und Geschick leistete er maßgebliche Beiträge zur Versorgung der Familie. Als Umes 10 Jahre alt war, verstarb die älteste Schwester wegen unzureichender medizinischer Versorgung an einer Nierenerkrankung. Umes ging gerne zur Schule und lernte eifrig. Unter Bürgerkriegsbedingungen endete die Schule im Alter von 12 Jahren.
 
Umes drohte die Gefahr, von tamilischen Rebellen zum Kindersoldaten gemacht zu werden. Die Mutter entschied, dass Umes als 12jähriger unbegleitet nach Deutschland flüchten müsse, wo in Hamburg bereits ein Bruder der Mutter in einfachen, beengten Verhältnissen lebte. Unter dem Eindruck mangelhafter medizinischer Versorgung trug ihm die Mutter auf, in Deutschland Arzt zu werden. Außerdem musste er der Mutter versprechen, niemals Alkohol zu trinken und sich nie als Spieler zu betätigen. Dass Umes aus Deutschland zur finanziellen Unterstützung der Familie beitragen würde, war eine kulturell verankerte Selbstverständlichkeit.
 
Schlepper verlangten für die Flucht 15.000 €, die der Mutterbruder irgendwie aufbrachte, aber Umes zurückzuzahlen hätte, falls er die Flucht überlebt. Unbegleitet und völlig auf sich alleingestellt erreichte Umes nach 8 Monaten lebensgefährlich-dramatischer Flucht über Afrika und auf der Balkanroute tatsächlich Deutschland und wurde in der Familie des Mutterbruders aufgenommen. 


2.2 Jugendzeit in Hamburg

Kapitel 6 bis 13 beschreiben das neue Leben in Deutschland. Die Familie lebt in der Großwohnsiedlung Mümmelmannsberg, ein sozialer Brennpunkt mit hohem Anteil Ausländer, Arbeitsloser und Sozialhilfeempfänger, für Umes ein Paradies. Ohne zunächst auch nur ein Wort deutsch oder englisch zu sprechen, besucht Umes die Stadtteilschule Mümmelmannsberg. Äußerst engagierte Lehrer der Schule verschaffen Kindern aus prekären Verhältnissen mit großen Bemühungen Chancen eines lebenswerten Lebens. Die Schule besucht Umes mit ernsthaftem Engagement und unermüdlichem Fleiß. Unter Lehrern und Mitschülern genießt Umes Wertschätzung. Er engagiert sich in der Schule und wird zum Landesschulsprecher gewählt. Bereits während der Schulzeit verdient Umes in kleinen Jobs Geld, das er der Familie überweist. Umes schließt das Abitur mit der Note 1,8 ab. Ein Lehrer seiner Schule übernimmt eine Bürgschaft, die Umes ein Medizinstudium in Lübeck ermöglicht.
 
 
2.3 Medizinstudium in Lübeck

Kapitel 14 bis 20 umfassen den Zeitraum des Medizinstudiums, das Umes nach 8 Jahren mit Examen beendet. Er benötigte 2 Jahre länger als üblich, weil er sein Studium ohne Anspruch auf BAföG selbst finanzieren muss, daher wenig Zeit zum Lernen hat und mehrere Prüfungen wiederholen muss. Im Studium wird Umes das riesige soziale Gefälle zwischen ihm und seinen Kommilitonen bewusst, die durchgängig aus begüterten Familien stammen, sorgenfrei leben und mit einem Habitus auftreten, der ihm völlig fremd war. (Den vom französischen Soziologen Pierre Bourdieu entwickelten Begriff des Habitus erklärt der Post Pierre Bourdieu, Habitus und Doxa).
 
Umes jüngere Geschwister sind inzwischen nach England, USA, Kanada migriert. Während des Studiums werden nach vielen Jahren der Trennung erste Treffen möglich, die jedoch enttäuschend verlaufen. Aufgrund ihrer total unterschiedlichen Sozialisationen sind sich die Geschwister fremd geworden und die Distanz zu den Eltern hat sich vergrößert.


2.4 Einbürgerung und Tätigkeit als Arzt 

Die letzten 6 Kapitel setzen zeitlich mit dem Abschluss des Studiums ein. Am Ende des Studiums wird Umes eingebürgert, aber auch nur darum, weil er über ein Netzwerk verfügt, das ihn unterstützt und Hürden beiseite räumt. Die Einbürgerung ist für Umes der schönste Tag seines bisherigen Lebens. Der formelle Akt bereitet jedoch eine große Enttäuschung. Die Einladung teilt in Beamtendeutsch mit: "Ihre Bestellung ist eingetroffen. Abholung werktags von 10 bis 12 Uhr." Die Übergabe der schmucklosen Einbürgerungsurkunde erfolgt absolut emotionsfrei. Nach seiner Unterschrift wird Umes sogleich mit der Floskel "Herzlichen Glückwunsch" verabschiedet. Umes empfindet den formellen Einbürgerungsprozess als unwürdig. Trotzdem ist er jetzt endlich das, als was er sich schon lange fühlt: Deutscher. Tagelang schwebt Umes auf Wolke 7. 
 
Die letzten Kapitel berichten von Erlebnissen im Medizinbetrieb und im Alltag. Als promovierter Arzt wird das Leben für Umes durchaus leichter, aber dunkle Hautfarbe und ein fremdländischer Name begleiten nach wie vor im Beruf und im Alltagsleben Vorurteile, die immer wieder neue Enttäuschungen bereiten.
 
 
3 Soziale Makrostrukturen und universale Prinzipien sozialen Lebens

In der Überschrift angekündigte Themen umfassen einen erheblichen größeren Raum als den hier beschriebenen. Diese Kapitel begrenzt Themen auf relevante Aspekte des Buchs.


3.1 Universelle Prinzipien sozialen Lebens

Denkweisen, Bedürfnisse, Interessen, Emotionen und Verhalten von Menschen formen kohärente soziale Strukturen, deren Menge und Art überschaubar sind (Familie, Verwandtschaft, Gruppen, Vereine, Clans, Regierungen bzw. Machtzentren etc.). (Kohäsion ist ein soziologischer Begriff für emotionale Zusammengehörigkeitsgefühle sozialer Gruppen.)
 
In kohärenten Strukturen interkulturell variierende verwobene Muster (Wertvorstellungen, Glaubenssysteme, Symbolsysteme, Normensysteme) sind gewöhnlich dogmatisch ausgeprägt und schließen sich daher wechselseitig aus. 
 
Im Prozess kultureller Evolution erzeugte soziale Differenzierung bewirkt innerhalb größerer Sozialsysteme Aufspaltungen von Kulturen in Subkulturen und Fragmentierungen von Werte- und Glaubenssystemen.
 
 
3.2 Bewusstsein in der Umgebung von Kultur
 
Im Kontext des Buches relevante Zusammenhänge betrachtet Kapitel 3 abstrakt. Verständnisse der Bedeutung von Bewusstsein und Kultur vertiefen die beiden kürzlich veröffentlichten Posts Was ist Bewusstsein? und Was ist Kultur?.
 
Menschliches Verhalten modellieren nicht nur biologische Mechanismen und rationale Kalküle individueller Nützlichkeit. Handlungsmotive steuern insbesondere auch unbewusste sozialpsychologische Mechanismen psychologischer Grundbedürfnisse der Kohärenz und der Selbstbestimmung und erzeugen oder verhindern individuelles Verhalten. Zusätzlich üben als Kohäsion bezeichnete emotionale Zusammengehörigkeitsgefühle sozialer Gruppen starke unbewusste Kräfte aus, die regulierend auf soziale Mechanismen in Gruppenkontexten einwirken und Bindungen herstellen oder auflösen. 
 
Persönlichkeitsstrukturen entwickeln sich in einem kulturellen Umfeld, das als primärer Verursacher von Persönlichkeitsstrukturen zu verstehen ist. In kulturellen Kontexten entstehen sinnstiftende Wert- und Regelsysteme, die Menschen in individueller Sozialisation internalisieren. In Lernprozessen internalisierte kulturelle Regelsysteme bleiben weitgehend unbewusst und werden als normal übliche, selbstverständliche Verhaltenskonventionen praktiziert. 
 
In sozialer Realität ist das Denken nahezu aller Menschen von Vorurteilen und Werturteilen geprägt. Einige dieser Vorurteile sind rassistisch geprägt. Andere Vorurteile enthalten keinen Rassismus, aber es sind trotzdem Vorurteile, die sich über soziale Grenzen hinweg negativ auf ein friedliches Zusammenleben auswirken. Mit zunehmender Stärke von Unterschieden zwischen Kulturen und Subkulturen erschweren oder verhindern Vorurteile und Werturteile ein friedliches Zusammenleben. Vorurteile und Werturteile resultieren insbesondere aus unterschiedlichen
  • biologischen Merkmalen,
  • Werte- und Normensystemen sozialer resp. kultureller Herkünfte, 
  • Geschlechtern und sexuellen Orientierungen,  
  • weltanschaulichen Einstellungen,
  • Bildungsgraden,
  • Lebensstilen.
In veränderten kulturellen Kontexten halten Menschen an internalisierten und ihnen vertrauten Kulturmustern fest, weil sie Handhabungen fremder Kulturmuster nicht gelernt haben und diese als falsch empfinden. Aus diesem Sachverhalt resultieren zwangsläufig oft schwere psychische Konflikte bei Migranten und zusätzliche soziale Konflikte zwischen Migranten und nativen Einwohnern. Sozialen Konflikten gehen Migranten aus dem Weg, indem sie ihre sozialen Interaktionen auf Landsleute beschränken, in vertrauter Sprache kommunizieren und Medien ihrer Herkunftsregion konsumieren. Bezüglich ihrer psychischen Konflikte sind sie weitgehend alleingelassen (Ärzteblatt: Psychisch kranke Migranten). 
 
Im Unterschied zu Umes leben Migranten gewöhnlich unter Bedingungen, in denen widersprüchliche kulturelle Rollenanforderungen ständig miteinander konkurrieren. Religiös legitimierte dominante patriarchalische Kulturmuster, die mit Unterdrückung von Frauen und Kontrolle weiblicher Sexualität einhergehen und sich in Tabus ausprägen, beeinflussen das Denken beider Geschlechter unbewusst, aber permanent. Die normierende Kraft dieser in der Sozialisation per Internalisierung unbewusst angeeigneten Kulturmuster des Herkunftslandes ist offensichtlich stärker als tolerantere Kulturmuster des Aufenthaltslandes, die als falsch, verdorben, unwürdig wahrgenommen werden und daher Verhalten keine Verbindlichkeit auferlegen, aber aus Gründen von Nützlichkeit widerwillig in Kauf genommen werden. In diesem Konfliktfeld bildet Sprachverhalten einen wichtigen Faktor der Verstärkung eines als ethisch richtig bewerteten Verhaltens.
 
Migranten erster Generation verbinden ihre Emigration überwiegend mit Erwartungen besserer Lebensqualität, jedoch nicht mit einer bewusst gewollten Integration in eine Kultur, die sie aufgrund weltanschaulicher Überzeugungen ablehnen. Dass das eine nicht ohne das andere realisierbar ist, bleibt Migranten i.d.R. unverständlich, weil es ihnen nicht gelingt, unbewusst wirkende Mechanismen kultureller Verknüpfung auf einer gedanklichen Meta-Ebene zu reflektieren. 
 
 
3.3 Generalisierte Aussagen
 
Dieser Post beschreibt im Kontext des Buches eine Reihe prinzipieller Probleme generalisierter Aussagen, ohne auf Methodenprobleme von Befragungen bzw. Studien einzugehen. Potentielle Fehlerquellen von Befragungen nennt das Methodenportal der Uni Leipzig.
 
Menschen neigen dazu, eigenen Ansichten zu vertrauen, diese als Überzeugungen zu verfestigen und als unumstößliche Wahrheiten aufzufassen. (Ursachen betrachtet der Posts Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält) Privatmeinungen unterliegen der Meinungsfreiheit und sind nicht zu beanstanden. 
 
Zu beanstanden sind dagegen als generalisierte Aussagen formulierte Privatmeinungen
  • vom Typ Dogmatismus (typisch für Rassismus, Verschwörungstheorien, politische und religiöse Weltanschauungen),
  • vom Typ Spiritualismus (typisch für religiöse Weltanschauungen, Esoterik),
  • mit Schlüssen, die aus individuellen Ansichten, Meinungen, Überzeugen oder aus individuellem Verhalten nicht sichtbare kognitive Strukturen erklären (Vorurteile, Stereotype).
Bezüglich Zusammenhängen von Meinungsbildern und empirischen Phänomenen ist zu beachten:
  • Wenn eine in Relation zur Gesamtpopulation größere Anzahl von Menschen aufgrund ähnlicher Überzeugungen empirische Phänomene gleichartig versteht, können dafür objektive Sachverhalte verantwortlich sein, was aber keineswegs sicher ist.
  • Ob Wahrnehmungen empirisch prüfbarer Sachverhalte tatsächlich als objektiv aufzufassen sind (d.h. unabhängig von individueller Wahrnehmung bestehen), kann nicht aus individueller Anschauung abgeleitet werden. Antworten erlauben erst Prüfungen gemäß wissenschaftlicher Standards. 
  • Kollektive Meinungsbilder konstruieren abstrakte Realitäten eigener Art. Ob diese Konstrukte real sind oder ob es sich um eingebildete Realität handelt (Illusionen oder Irrtümer) ist eine letztlich nicht entscheidbare Frage.
    Als Beispiel seien religiöse Überzeugungen genannt, die für überzeugte Anhänger einer Religion unzweifelhaft wahr sind. Global konkurrieren etliche Religionen miteinander, die vermeintliche Wahrheiten kennen und deren Anhänger von jeweils unterschiedlichen Wahrheiten überzeugt sind, ohne sich von Widersprüchlichkeit zu konkurrierenden Glaubenssystemen beeindrucken zu lassen. 
  • Jegliches Verständnis von Realität beruht auf sozialen Konstrukten. Konkurrierende soziale Konstrukte erzeugen in Verbindung mit Dogmatismus Konflikte, an denen in der Welt kein Mangel besteht.
Besondere Beachtung verdienen aussagenlogische Probleme des Alltagsdenkens:
  • Vom individuellen Wahrnehmungssystem vermittelte Erlebnisse sind real, aber nicht allgemeingültig.
  • Obwohl Skepsis und Zweifel oft angebracht wären, schützen persönliche Überzeugungen vor ihnen. Mitunter stellen sich durchaus Selbstzweifel ein, aber generell gelten Selbstzweifel eher als Persönlichkeitsschwäche.
  • Das Induktionsproblem gestattet prinzipiell keine Ableitungen gültiger Gesetzmäßigkeiten aus Einzelfällen. Wissenschaftlich betrachtet sind persönliche Erlebnissen auch dann nicht verallgemeinerungsfähig, wenn Informationsmedien oder andere Personen über ähnliche Erfahrungen berichten und persönliche Erlebnisse bestätigen und verstärken.
  • Das Induktionsproblem ermahnt uns zur Skepsis gegenüber eigener Wahrnehmung.
 
3.4 Anmerkungen zu Sozialindikatoren
 
Über Zusammensetzungen, Mess- und Bewertungsmethoden von Indikatorensystemen kann man prinzipiell diskutieren. Sozialindikatoren sollte man mit Skepsis betrachten (Wikipedia: Indikatorensysteme und deren Probleme). Über die gesamte Fläche von Deutschland (oder anderen Ländern) gebildete Sozialindikatoren und wertende Aussagen sind je nach Art, Verwendung und Verständnis generell problematisch und verleiten zu ökologischen Fehlschlüssen. Andererseits sind aus Indikatorensystemen abgeleitete Aussagen deutlich robuster als Einzelbeobachtungen und als Instrument prüfbarer Aussagen auf Aggregatebene alternativlos.  Dabei sind jedoch Einschränkungen zu beachten:
  • Klassifikationen, über die Daten aggregiert und Durchschnittswerte gebildet werden, entsprechen keiner Realität, sondern es handelt sich um kategoriale soziale Konstrukte, die Vergleichbarkeit herstellen und nichts über Individualwerte aussagen.
    Ein Beispiel für in zahlreichen Statistiken verwendete Konstrukte sind willkürlich gebildete soziale Schichtenmodelle (Unter-, Mittel-, Oberschicht etc.) oder soziale Klassenmodelle, die als Bezugsgrößen für Erklärungen sozialer Phänomene dienen, obwohl es sich lediglich um analytische Kategorien handelt.
  • Bezugsgrößen wie Staaten, Länder, Länderverbunde sind ebenfalls Konstrukte, in diesem Fall Konstrukte geopolitischer Art. Aus geopolitischen Konstrukten abgeleitete Aussagen über National- oder Volkscharaktere ("der" Deutsche, Franzose, Engländer, Russe etc.) beruhen auf inakzeptablen diskriminierenden Stereotypen und Vorurteilen.
  • Über geopolitische und soziale Konstrukte gebildete mathematische Konstrukte von Zusammenhängen zwischen Variablen sind als Korrelationen keine Aussagen über Kausalzusammenhänge der Realität, sondern Hinweise auf mögliche Kausalzusammenhänge, die aber erst zusätzliche Informationen ggf. bestätigen.
  • Durchschnittsprofile sind verflachende und verzerrende Artefakte, die Profile der Realität einebnen und Unterschiede unsichtbar machen. In verdichteten Betrachtungen sind derartige Artefakte unvermeidbar und nicht notwendig problematisch, solange bewusst ist, dass es sich um Artefakte handelt, die lediglich kontextbezogene Annäherungen an die Realität darstellen.
  • Aus mehr oder weniger breit streuenden Einzelwerten zusammengesetzte aggregierte Werte von Sozialindikatoren können Wahrscheinlichkeitsaussagen über Chancen und Risiken zutreffender Merkmale abgeleitet werden, aber keine gültigen Aussagen über individuelle Schicksale. Umgekehrt können aus Einzelschicksalen keine allgemeingültigen Aussagen zu strukturellen empirischen Mustern abgeleitet werden.
 
 
4 Anmerkungen zum Leben in Deutschland 
 
Kapitel 4 betrachtet Kernthemen des Buchs Grundfarbe Deutsch und verweist zu mehreren Themen auf Sozialindikatoren
 
 
4.1 Soziale Differenzierung in Deutschland
 
Horizontale und vertikale Differenzierungen von Aussagen über Populationen und Aggregatdaten sind im Alltagsdenken keine Selbstverständlichkeit. Im Gegenteil tendiert Alltagsdenken von Menschen zu Pauschalisierungen, vor der auch akademische Bildung nicht zuverlässig schützt, obwohl in Anbetracht fragmentierter deutscher Sozialstruktur jede auf Durchschnittlichkeit abgestellte Pauschalaussage als verfehlt zu werten ist. Deutschland ist kein Paradies, Baden-Württemberg ist kein Musterländle und Bayern ist keine heile Welt. Wohin man schaut, sind Licht und Schatten anzutreffen, die sich aber nicht homogen verteilen, sondern je nach Themenfeld zwischen westlichen und östlichen sowie nördlichen und südlichen Bundesländern unterschiedliche Muster zeigen. 
 
Deutschland hat mehr als 84 Millionen Einwohner, die sich auf 16 Bundesländer verteilen. Während demographische Strukturen auf Länderebene ähnlich ausfallen, unterscheiden sich Bevölkerungsdichte, Wirtschaftskraft, Strukturen der Flächennutzung, Arbeitslosenquote, Einkommenshöhen, Armutsgefährdungsquoten, Kaufkraft, Baulandpreise, Kosten von Wohnungsmieten, Religiosität, politische Einstellungen und Aktivitäten, Anteile ausländischer Bevölkerung etc. mehr oder weniger deutlich. Jedes der 16 Bundesländer setzt sich mit Besonderheiten von den übrigen Bundesländern ab. Daten zu zahlreichen Auswahlkriterien bietet der Regionalatlas Deutschland des gemeinsamen Statistikportals des Bundes und der Länder.  
 
 
4.2 Warum ist das Leben in Deutschland lebenswert?

Umes ist gerne Deutscher. Aufgrund politischer, wirtschaftlicher, kultureller Strukturen sowie individueller Freiheitsgrade, Meinungsvielfalt, Toleranz macht Deutschland hohe Lebensqualität im Sinne von Menschenrechten möglich. In einem Interview vom 14.04.2022 mit der taz erklärt der Autor seine Haltung ("Ich sehe meine Farbe nicht"):
 
"Ich fühle mich hier heimisch. Deutschland ist ein Ort, an dem ich frei sein kann. Ein Ort, nach dem ich damals als Kind im Krieg gesucht habe. Wo Grundwerte existieren, von denen ich profitiert habe. Ich bin auch im Alltag eher deutsch, zum Beispiel beim Thema Pünktlichkeit. Das war früher nicht so. Inzwischen ärgere ich mich, wenn Menschen zu spät kommen. Und ich bin eher auf Sicherheit bedacht, gedanklich immer bei morgen. Mein Bruder lebt eher in den Tag hinein. Was mein Bruder auch nicht weiß: wie wichtig Toleranz ist und wie schön es ist, mit anderen Kulturen zusammen zu wachsen. Ich bin auf Sri Lanka tamilisch geprägt aufgewachsen und habe in Deutschland erst gelernt, mit anderen Religionen, Kulturen und Sprachen umzugehen.
[...]
Ich habe manchmal das Gefühl, dass ich mich viel mehr mit Deutschland identifiziere als viele andere, die hier geboren sind. Vielleicht hat es auch etwas damit zu tun, dass ich einen Hunger nach Identität und Liebe hatte. Die Heimat, in der ich geboren wurde, habe ich verloren. Außerdem empfindet man im Krieg kein Gefühl von Heimat, dazu fehlt dort die Sicherheit und Geborgenheit. Hier war nach meiner Ankunft auch erst mal alles fremd. Heute sehe ich meine Farbe nicht, ich sehe nicht, dass ich dunkelhäutig bin. Das ist mir nur dann bewusst, wenn entsprechende Fragen gestellt werden. Ich bin dankbar und habe eine Wertschätzung für diese Gesellschaft. Viele Grundwerte, die wir haben, sind für mich nicht selbstverständlich."

 
Nicht jeder Einwohner vermag Lebensqualität im wünschenswerten Umfang zu realisieren. Aussagen zu Lebensqualität sollten zwischen kollektiver und individueller Lebensqualität trennen. Dieser Post vergleicht kollektive Lebensqualität mit Aussagen des Autors Umes.
 
Deutschland ist ein demokratisch verfasstes Land, das sich verbindlich zu Menschenrechten bekennt. Hinsichtlich der Umsetzung und Einhaltung von Menschenrechten steht Deutschland nicht an der Spitze aller Staaten, aber ein seit 2006 jährlich ausgewerteter Demokratieindex erlaubt eine Einordnung. Der Index bewertet 5 Bereiche mit Punkten in einer Skala von 0,00 bis 10,00 und bildet über die Bereiche einen Mittelwert, der in ein Gesamtranking eingeht. 
 
Laut Demokratieindex des Jahres 2021 zählt Deutschland unter 167 ausgewerteten Ländern global zu 21 volldemokratischen Ländern und liegt im Ranking der 167 Länder mit 8,80 Punkten auf Rang 14 und damit im unteren Mittelfeld aller volldemokratischen Länder. (Auf Rang 1 liegt Norwegen mit 9,81 Punkten.) Optimierungspotentiale sind offensichtlich vorhanden, aber übertragen auf ein Schulnotensystem erlaubt das Ranking die Schulnote "gut".
 
Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Schutz von Persönlichkeitsrechten bzw. Freiheitsrechten, Sicherheit im öffentlichen Raum und Rechtsstaatlichkeit sind politisch garantiert und weitgehend realisiert, aber diese Rechte sind störanfällig und daher nicht an jedem Ort zu jeder Zeit praktizierbar. Ähnliches gilt für soziale Netze, die Schutz in prekären Lebenssituationen bieten, aber nicht immer verhindern können, dass Menschen durch Maschen des Netzes fallen oder Sozialleistungen betrügerisch missbrauchen. Per Saldo machen individuelle Freiheitsrechte, hohe Wirtschaftskraft, politische Stabilität und soziale Sicherheit Deutschland zum Einwanderungsland.
 
Glücklicherweise (die Betonung liegt auf Glück) leben wir in einer pluralistischen Kultur, die in einem weit gesteckten Rahmen individuelle Autonomie gestattet und Freiheit von Meinungen, Überzeugungen, Lebensstilen garantiert. Autonomie bedeutet nicht absolute Beliebigkeit oder individuelle Willkür, sondern Fähigkeiten einer individuell bereichernden und harmonischen Lebensgestaltung gemäß sozialer, weltanschaulicher, ethischer Prinzipien. In Autonomie stark einschränkenden kulturellen Umgebungen verkümmern diese Fähigkeiten. Menschen, denen diese Fähigkeiten fehlen, empfinden Autonomie als Falle und fordern verbindliche Regeln. Diese Erfahrung betrifft nicht nur Migranten, aber für Migranten ist sie typisch, weil sie nicht das Glück hatten, in einer Autonomie zulassenden Kultur aufzuwachsen.
 
Der von den Vereinten Nationen beauftragte World Happiness Report unterscheidet nicht zwischen nativen Einwohnern und Einwohnern mit Migrationshintergrund. (Original: World Hapiness Report 2022 mit Download-Option des Reports; das Länder-Ranking ist auf Seiten 17-19 dokumentiert) Der Report bildet über 6 Lebensbereiche Punktwerte, die in Summe ein Gesamtranking ergeben. Maximal können 10.000 Punkte erreicht werden: 
  • Im Mittelwert der Jahre 2019-2021 belegte Deutschland unter 146 Ländern mit 7.034 Punkten Rang 14 (auf Rang 1 liegt Finnland mit 7.841 Punkten).
  • 2017 belegte Deutschland unter 155 Ländern mit 6.951 Punkten Rang 16 (auf Rang 1 liegt Norwegen mit 7.537 Punkten).
Auch hier wäre in einem Schulnotensystem die Note "gut" angemessen.
 

4.3 Welche Sorgen bereitet Leben in Deutschland?

4.3.1 Vorurteile und Rassismus
 
Umes berichtet in seinem Buch mehrfach über offenkundigen oder latenten Rassismus, dem er aufgrund seiner dunklen Hautfarbe und seiner Herkunft immer wieder ausgesetzt ist. Aggressiven Rassismus erlebte Umes in einem Zeltlager in einem der östlichen Bundesländer. 
 
Alltäglicher Rassismus manifestiert sich nicht in aggressiven Bösartigkeiten, sondern in Vorurteilen, Ablehnungen oder Geringschätzungen, die Umes in unterschiedlichen Lebenssituationen erfährt:
  • als wohnungssuchender Student,
  • als Kunde beim Einkauf,
  • als Besucher von Clubs,
  • als Arzt im Krankenhaus,
  • usw..
Umes berichtet, dass er rassistischen Ablehnungen, Unfreundlichkeiten und Feindseligkeiten mit beharrlicher Freundlichkeit begegnet. Dass diese in individuellen Begegnungen oft erfolgreiche Einstellung sich auf Vorurteile nachhaltig auswirkt, ist eher unwahrscheinlich, aber trotzdem die richtige Haltung, um Vorurteile nicht zu bestätigen. Auf in Populationen verbreitete Vorurteile dürfte diese Haltung kaum Wirkung haben.
 
Individuell erlebte Ereignisse sind selbstverständlich real, sie erklären aber keine Ursachen und gestatten hinsichtlich verbreiteter ethischer Einstellungen eines Landes keine gültigen Verallgemeinerungen. Trotz seiner Geschichte ist Deutschland nicht frei von rassistischem Denken. Rassismus ist jedoch kein deutsches, sondern ein nur schwer eliminierbares globales Problem, das aus mentalen Strukturen resultiert, auf die der Post Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält eingeht. 
 
Medienberichte über Aktivitäten radikaler politischer Gruppen am rechten politischen Rand, wie etwa die Reichsbürgerbewegung, vermitteln durchaus den Eindruck, dass Konfliktpotentiale zunehmen. Medienberichte informieren nicht nur, sie erzeugen auch gewollt oder ungewollt Meinungsbilder, die nicht unbedingt einer verbreiteten Realitätswahrnehmung entsprechen, aber selbst Realität konstruieren und mit diesen Konstrukten zur Polarisierung von Meinungsbildern beitragen. Mit ihrer Auswahl von Themen und einer an Zielgruppen angepasste Sprache erzeugen kommerzielle Medien eigenen Interessen dienende Aufmerksamkeit. Zusätzlich oder alternativ sind Medien oft politisch oder weltanschaulich aufgeladen, was jedoch oft hinter einem Schein von Objektivität verborgen bleibt.

Aussagen zu Medienpolitik beziehen sich auf unseriöse Medienberichte. Diese bilden ein nicht zu verhinderndes Übel, aber im Vergleich zu Zensur sind sie das kleinere Übel. Ein weit gesteckter Rahmen des Rechts auf Meinungsfreiheit schützt auch unseriöse und tendenziöse Medien, solange Grenzen von Legalität nicht überschritten werden. Erfreulicherweise existieren neben unseriösen Medien auch solche, die gemäß Prinzipien journalistischer Ethik und Redlichkeit berichten. Diese Berichte werden von Sensationsmedien oft übertönt, was aber letztlich Rezipienten vorzuwerfen ist, die Information aus Sensationsmedien bevorzugen. Selbst wenn Medien seriös und empirisch objektiv berichten, bedeutet das nicht, dass sie Meinungsbilder von Menschen verändern. Meinungsbilder entstehen und verfestigen sich über längere Zeiträume weitgehend unbewusst unter Einflüssen neurobiologischer Regulationssysteme, die der Post Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält betrachtet. 
 
In Kapitel 3.4 zitierte Sozialindikatoren dokumentieren im Unterschied zu Medienberichten und individuellen Einzelwahrnehmungen keine zunehmenden sozialen und politischen Probleme in Deutschland, sondern im Gegenteil deren allmählichen Abbau.
 

4.3.2 Bürokratie und bürokratisches Denken in Behörden
 
Demokratisch verfasste Kulturen sind von einer Denkweise geprägt, die von der Gleichheit aller Menschen ausgeht und individuelle Freiheiten bzw. Autonomie von Menschen zum Programm macht. Regierungsformen, in denen alle Macht vom Volk ausgeht und Regierungsvollmachten nur temporär verliehen werden, sind nur dann vertrauenswürdig, wenn Interaktionen zwischen politisch Verantwortlichen und der Bevölkerung auf Augenhöhe in flachen Strukturen gestaltet sind. Gewaltenteilung, Kontrolle der Öffentlichkeit und Optionen der Abwahl zwingen Vertreter von Regierungen zur Einhaltung von Konventionen. Die Umsetzung dieser Idee gelingt in der Praxis nicht immer, aber im Großen und Ganzen ist diese Regelung wirksam.
 
Behördendenken und Behördensprache sind in Zeiten entstanden, in denen Gesellschaftssysteme als hierarchisch strukturierte Machtordnungen organisiert waren, in denen Anführer über Untertanen herrschten. Große Organisationen sind trotz allmählicher Veränderung von Unternehmenskulturen nach wie vor streng hierarchisch strukturiert und verteilen von oben nach unten abnehmende Vollmachten. Der Begriff 'Vollmacht' bringt zum Ausdruck, dass Machtverteilungen über Hierarchien stattfinden. Gesetzlich verankerte Unternehmensmitbestimmung und Personalvertretung sowie das Arbeitsrecht dienen Mitarbeitern als schwächerem Vertragspartner von Arbeitsverhältnissen zum Schutz vor Machtmissbrauch.
 
Jede Rechtsnorm beinhaltet Spielräume ihrer Auslegung. Im Wettbewerb konkurrierende Unternehmen betrachten Mitarbeiter als ihre wichtigste Ressource und behandeln Mitarbeiter daher pfleglich. Behörden stehen als Monopolbetriebe in keinem Wettbewerb, was nicht nur im Interesse von Mitarbeitern zahlreiche Nachteile bedingt, die im Rahmen der Thematik dieses Posts lediglich erwähnt werden können.  

Größere Organisationen öffentlicher Einrichtungen sind nach wie vor streng hierarchisch organisiert, d.h. Mitarbeiter von Behörden sind in hierarchische Strukturen eingebunden. Nach außen sind diese Mitarbeiter in Richtung Bürgern zu kunden- und serviceorientiertem Verhalten angehalten. Das bedeutet: Mitarbeiterrollen sind widersprüchlich ausgestattet. Ineffiziente Organisationsstrukturen, hohe Arbeitslasten, schlechte Bezahlungen, stagnierende Laufbahnen und fehlende Leistungsanreize schwächen die Arbeitsmotivation zusätzlich. Europäische Vergleiche zeigen, dass die deutsche Bürokratie schlecht aufgestell ist. - Artikel der FAZ vom 15.05.2023: Bürokratie kostet die Deutschen viel Geld
 
Mitarbeiter von Unternehmen und Behörden sind Menschen, die wie alle Menschen unter dem Einfluss ihrer Arbeitsbedingungen sowie unter Einfluss zahlreicher soziokultureller Vorurteile denken und handeln. Trotz aller Bemühungen eines Kulturwandels in Richtung Kundenorientierung manifestiert sich in Behörden bereits gegenüber nativen Deutschen mitunter eine von Ausstattung mit Macht beeinflusste Denkweise. Dass sich diese Art des Denkens gegenüber Migranten noch stärker auswirkt, ist zu erwarten. Behörden ist es bislang nur ansatzweise gelungen, Inkonsistenzen im Sinne der Programmatik demokratisch verfasster Staaten aufzulösen. 
 
Kunden der Post oder der Deutschen Bahn nehmen in der Kommunikation mit Mitarbeitern durchaus einen Kulturwandel wahr. Kunden des Finanzamtes, Arbeitsamtes, Sozialamtes oder anderer Ämter erfahren diesen Kulturwandel oft weniger deutlich oder sie vermissen ihn. Eine besonders unverständliche Peinlichkeit ist der von Umes beschriebene Akt seiner seitens der Behörde völlig emotionsfrei und rein formell vollzogenen Einbürgerung. Aus eigener Erfahrung wissen wir, dass Mitarbeiter von Behörden mitunter antiquierte Umgangsformen praktizieren. Eine Beförderung in der Beamtenlaufbahn der eigenen Ehefrau wurde noch deutlich liebloser und unwürdiger vollzogen. Allerdings ging es hier nur um eine Beförderung und nicht um eine Einbürgerung.
 
Eine weitere Hürde entsteht durch juristisch verklausulierte und historisch antiquierte Behördensprache, die gegenüber Alltagssprache nicht nur fremdartig, sondern auch unverständlich ausfällt, daher erklärungsbedürftig ist und zwangsläufig Distanz vermittelt, die seitens Mitarbeitern von Behörden vermutlich gar nicht beabsichtigt ist. Viel beklagte Sprache von Behörden ist und bleibt ein großes und offensichtlich bisher nicht eliminierbares Ärgernis, mit dem wir uns nie abfinden werden und auch nicht abfinden sollten. Diese Art der Sprache resultiert aus historisch überkommenen Strukturen, in denen Bürger als Untertanen, Bittsteller oder Befehlsempfänger behandelt wurden. Diese Strukturen bestehen längst nicht mehr, aber in der Verkehrssprache von Behörden sind sie konserviert.
 
Sprache nimmt Einfluss auf das Denken. Als Folge der Verkehrssprache sind Rollen der Mitarbeiter von Behörden mit tradierten Sprachregelungen verwachsen. Bürger und Mitarbeiter sind gleichermaßen Leidtragende, aber längst nicht in dem Maße wie Migranten, die der Sprache nicht mächtig sind, Amtsprozesse nicht verstehen, erforderliche Unterlagen nicht oder nur unvollständig beibringen können, mehr oder weniger traumatisiert sind und unter Qualen von Zukunftsängsten leiden.
  
In Privatgesprächen mit jüngeren Beamten wird deutlich, dass sie als Menschen nicht so denken, wie es ihnen Amtshandlungen mit historisch geprägten Denk- und Sprachtraditionen als Mitarbeiter von Behörden auferlegen. Solange Behörden nicht gelingt, ihre internen Strukturen und ihre Sprachgewohnheiten zeitgemäß anpassen, bleibt Kulturwandel von Behörden in Startlöchern stecken. 

 
4.3.3 Integrationswille von Migranten
 
Ein Eintrag in Wikipedia zitiert ein als Spiegel+-Artikel veröffentlichtes Interview vom 9.04.2022, in dem Umeswaran Arunagirinathan die Haltung vieler Migranten kritisiert:
"Arunagirinathan zufolge nehmen viele Immigranten eine Erwartungs- und Empfängerhaltung ein; sie „wollen in erster Linie profitieren, sich aber nicht integrieren“. Er verwies unter anderem darauf, dass er häufig erlebe, dass Zugezogene auch nach vielen Jahren kaum Deutsch sprechen können, weil sie „nur die Fernsehsender in ihrer Muttersprache“ schauen, „nur bei Landsleuten“ einkaufen und keine deutschen Freunde haben, „sondern nur mit ihresgleichen verkehren“."

Moderater äußert sich der Autor in einem Interview vom 14.04.2022 ("Ich sehe meine Farbe nicht"):
"Ich erwarte, dass die Ankommenden den Schlüssel nehmen, der ihnen hier gereicht wird. Konkret heißt das, dass sie die Möglichkeiten für Integration in Anspruch nehmen sollten: Sprachförderung, Schule, Arbeit. Wenn sich jemand wehrt, bin ich kritisch." 

Konkret formuliert Umes seine Erwartung im Buch Grundfarbe Deutsch auf der Seite 168:
"Migration bedeutet, mit dem zu brechen, woher man kommt. Ob man will oder nicht."

In ähnlicher Art kritisiert Umes die aus seiner Sicht unzureichenden Integrationsbemühungen seiner ebenfalls emigrierten Geschwister, die erheblich stärker als er an kulturellen Gewohnheiten festhalten. Diese Beobachtungen besagen nichts über Ursachen ähnlicher oder unterschiedlicher Verhaltensweisen bzw. individueller motivationaler Strukturen. Gemäß Schwimmer-Metapher in Kapitel 1.5 haben Migranten auf der Suche nach einem besseren Leben Schwimmen gelernt und konnten daher ihr Land verlassen. Während Umes sich zu einem exzellenten Schwimmer entwickelt hat, bleiben die meisten Migranten in den beiden ersten Generationen schlechte Schwimmer und sind darüber sicherlich nicht glücklich. Erklärungsbedürftig ist daher die Frage, weshalb einzelne Migranten zu guten Schwimmern werden und Schwimmfähigkeiten der meisten Migranten sich nur wenig bzw. langsam entwicklen. 
 
Auf Persönlichkeitsstrukturen verweisende Erklärungen sind zu kurz gesprungen. Umes ist ein Einzelfall, dessen Entwicklung in der Tat beeindruckt. Er selbst scheint sich als ein Vorbild zu sehen. Helden werden jedoch nicht geboren und machen sich nicht selbst. Helden werden geschmiedet, d.h. sie entstehen durch Einwirkungen von außen. Dass sich Umes anders als die meisten Migranten entwickelt hat, ist eine Folge individueller Randbedingungen seiner Migration unter dem Einfluss kontingenter Ereignisse. Nicht planbare kontingente Ereignisse (Zufälle) können Erfahrungen erzeugen, die positiv oder negativ verstärkend auf Verhalten einwirken. Bürgerkrieg in Sri Lanka sowie Erkrankung und Tod der ältesten Schwester zählen zu negativ verstärkenden Erfahrungen. Umes berichtet aber auch von positiv verstärkenden Erfahrungen. Aktivitäten als Unterstützter der Familie in Sri Lanka und eine erfolgreiche Flucht vermitteln Selbstvertrauen und stärken Resilienz. In Deutschland besucht Umes eine Schule mit außergewöhnlich engagierten Lehrern. Die Saat ermöglicht eigene Schulerfolge, sportliche Erfolge, soziale Anerkennung.
  • Schon im Heimatland wurde Umes als ältestem Sohn Verantwortung übertragen, die eine frühe persönliche Reife und Selbständigkeit des Jungen bewirkten. Wie alle großen Religionen ist der Hinduismus patriarchalisch ausgerichtet. Der älteste Sohn gilt als Wiedergeburt des Vaters.
  • Als unbegleitetes Flüchtlingskind und als Fremdling in der Familie des Onkels fehlen Schutzräume der eigenen Herkunftskultur. Die Annahme deutscher Kultur war daher alternativlos. Unter diesen Bedingungen erfolgte eine 'Umprogrammierung' der Persönlichkeit, die das Selbstbild deutscher Identität ausprägte. 
  • Motivation benötigt Ziele. Kulturell determinierte familiäre Verpflichtungen und der Auftrag der Mutter, Arzt zu werden bilden verbindliche Zielvorgaben.
  • Kulturelle Konflikte zwischen Tamilen und Singhalesen sowie Bürgerkrieg und Lebensbedingungen Sri Lanka verhindern Identifikation mit Sri Lanka als Heimat. Mit der Migration der Geschwister lösen sich familiäre Strukturen als potentieller Rückzugsraum auf und nimmt die Verbindlichkeit hinduistischer Rollenmuster ab.
  • Soziale Anerkennung, die Menschen aufgrund eigener Leistungen erfahren, verstärken generell die Leistungsmotivation. Umes durch Leistung und Engagement außerhalb der Onkel-Familie erfahrene Anerkennung erleichtert die Distanzierung von hinduistischen Rollenmustern und verstärkt emotional verspürte deutsche Identität. 
  • Verstärkung erfährt das Selbstbild durch die Bewusstwerdung eigener Homosexualität, die in Deutschland ein weitgehend 'normales' Leben gestattet, das nicht von religiös und/oder patriarchalisch legitimierten kulturellen Rollenvorschriften eingeschränkt ist.
  • Dass sich Lebensbedingungen in Sri Lanka seit dem Ende des Bürgerkrieges im Jahr  2009 nicht verbessert, sondern verschlechtert haben, erzeugt zusätzlich emotionale Distanz:
    • Laut Demokratieindex gilt Sri Lanka als unvollständige Demokratie und liegt im Ranking des Jahres 2022 mit 6,47 Punkten auf Rang 60 und damit noch unterhalb von Werten, die zu Zeiten des Bürgerkriegs erhoben wurden. 
    • Im Jahr 2022 liegt Sri Lanka im World Happiness Report mit 4.327 von max. 10.000 Punkten unter 153 Ländern auf Rang 130. 2017 lag Sri Lanka mit 4.440 Punkten auf Rang 120 von 155 Ländern.
Umes postuliert: "Migration bedeutet, mit dem zu brechen, woher man kommt. Ob man will oder nicht." (Grundfarbe Deutsch, S. 168). Er erwartet (oder verlangt?), dass Migration einen Austausch kultureller Werte der Herkunft gegen kulturelle Werte des Ziellandes vollzieht. Selbst dem Autor gelingt die Umsetzung des eigenen Anspruchs in der Realität nur unvollständig. Auch nach der Migration dominieren in familiären Kontexten tamilisch-hinduistische kulturelle Werte und aus ihnen resultierende traditionelle Verpflichtungen:
  • In Deutschland lebte Umes lange Zeit außerordentlich bescheiden, weil er seine Familie finanziell unterstützte und noch immer unterstützt.
  • Er bezahlt anlässlich der Heirat seiner Schwestern Teile der Mitgift.
  • Als ältester Sohn entzündet er nach dem Tod des Vaters das Feuer der Verbrennung seines Leichnams gemäß hinduistischer Tradition.
Umes hat in Deutschland keine Chance, kohäsive Bedürfnisse in Enklaven eigener Kultur zu befriedigen. Daher musste er zwangsläufig mit Menschen anderer Kulturen kooperieren und mit ihnen emotionale Bindungen eingehen. Ein Großteil der Migranten hätte zwar die gleiche Chance, aber Kosten dieser Bemühungen wären deutlich höher als in relativ homogenen Gruppierungen der gleichen Kultur. Daher ist rational nachvollziehbar, wenn Migranten bevorzugt unter sich bleiben und es andererseits Umes gelungen ist, hinduistisch geprägte Kulturmuster seiner Persönlichkeit abzuspalten und sein Selbst an Kulturmustern deutscher Kultur neu auszurichten. 
 
Der in Harvard lehrende kanadische Anthropologe und Pychologe Joseph Henrich macht in seiner jüngsten Veröffentlichung(*) auf kulturell bedingte unvereinbare Unterschiede der Sterotype in Denkweisen von Menschen aufmerksam, deren Sozialisierung in westeuropäischen Kulturräumen oder außerhalb von ihnen stattfindet. (Die Essenz der Argumente fasst eine Rezension von Günter Renz zusammen: Joseph Henrich: Die seltsamsten Menschen der Welt) Diese Unterschiede machen einerseits verständlich, weshalb Migranten gewöhnlich ein 'Umschalten' ihres Denkens nicht, aber andererseits Umes für Umes das 'Umschalten' seines Denkens alternativlos war. Aber vollständig kommt auch Umes aus kulturellen Rollen nicht heraus. Im dominierenden Alltagsleben ist Umes Deutscher. In Ausnahmesituationen des familiären Kontextes ist Umes Tamile. Diese Aufspaltung geschieht weitgehend unbewusst und verschont das Selbst im Alltagsleben vor kulturellen Konflikten. Bildlich gesprochen integriert Umes zwei widersprüchliche Persönlichkeiten, die sich aber nicht überlagern oder miteinander konkurrieren, weil sie kontextbezogen trennbar sind.
(*) Die seltsamsten Menschen der Welt. Wie die Menschen reichlich sonderbar und besonders reich wurden. Berlin 2022 (Original: The WEIRDest People in the World: How the West Became Psychologically Peculiar and Particularly Prosperous. Farrar, Straus and Giroux, 2020)
 
Um unbewusst wirksame Mechanismen kultureller Verknüpfungen und unterschiedliche biographische Entwicklungslinien zu verstehen, ist über Alltagswissen hinausreichendes Wissen über komplexe abstrakte Zusammenhänge erforderlich. Der Post Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält erklärt modellhaft, wie Biographien als konkrete individuelle Ausprägungen universaler komplexer biologischer Mechanismen in Wechselwirkungen mit sozialen Kontexten und kontingenten Ereignissen zustandekommen und mehr oder weniger stark variierende Persönlichkeitsstrukturen ausprägen.  
 

4.3.4 Auswirkungen von Migrantenpolitik auf individuelle Happiness
 
Umes Aufenthalt war über etliche Jahre nur für jeweils kurze Zeiträume geduldet, die ständig verlängert werden mussten und Restriktionen auferlegten. In diesem Zeitraum war Umes ständig von Abschiebung bedroht. Nach 6 Jahren Schulzeit entschied ein Oberlandesgericht die endgültige Ablehnung des Asylantrages, was bedeutete, dass Umes innerhalb von 30 Tagen das Land zu verlassen hatte. Eine Einreichung beim Petitionsausschuss und breite Unterstützung bewirkten schließlich eine Sonderduldung bis zum Abitur.
 
Ohne Bürgschaft, die einer der Lehrer mit allen Risiken übernahm, wäre ein Studium nicht möglich geworden. Auf Umwegen konnte mit Tricks eine erweiterte Aufenthaltsmöglichkeit realisiert werden. Informationen zur Einfädelung dieser Möglichkeit kamen von wohlwollenden Mitarbeitern der Bürokratie, die mit offiziellen Regelungen nicht konform gingen. 

Als Student mit geduldetem Aufenthalt musste Umes sich selbst finanzieren, weil die Familie nichts beitragen konnte und er selbst keinen Anspruch auf Fördermittel hatte. Verständlich ist diese Regelung nicht. Aus öffentlichen Mitteln finanzierte durchschnittliche Kosten eines Studienplatzes für Medizin lagen 2013 bei 31.000 € pro Jahr. Umes brauchte 2 Jahre länger als üblich, d.h. es entstanden über 2 Jahre zusätzliche Studienplatzkosten von ca. 60.000 €. 500 € BAföG pro Monat hätten 6.000 € pro Jahr und hätten über die Regelstudienzeit von 6 Jahren 36.000 €  gekostet. Bei kalkulatorischer Berücksichtigung des Einflusses von längerer Studienzeit und kürzerer Lebensarbeitszeit auf den BIP, wäre die Differenz deutlich größer als 24.000 €. 
 
An der Rechtskonformität der Verfahren bestehen keine Zweifel. Fragwürdigkeiten bereiten rational und ethisch kaum nachvollziehbare Rechtsnormen, die wie Naturgesetze hingenommen und gehandhabt werden. Politische Entscheidungen kommen offensichtlich nicht als wirtschaftlich rationale Entscheidungen zustande. Rationalität politischer Entscheidungen stellt sich in der Außenbetrachtung oft intransparent dar. Möglicherweise sind sie auch intransparent, weil rationale Entscheidungen nicht möglich sind, wenn Entscheidungsparameter komplexer politischer Themenfelder nicht auflösbar sind. Migrantenpolitik zählt zu diesen Themenfeldern, an denen alle öffentlichen Güter kranken (Wikipedia: Öffentliche Güter). 


4.3.5 Migrantenpolitik auf politischer Kollektivebene
 
Es gibt reichere Länder als Deutschland, aber im internationalen Vergleich zählt Deutschland zu global reichen Ländern. Das bedeutet nicht, dass alle Menschen in Deutschland reich sind. Vermögen sind ungleich verteilt (BPB: Armut in Deutschland wächst):
  • 1 % der reichsten Deutschen besitzt 18 % der gesamten Vermögen. 
  • Das obere Zehntel der reichsten Deutschen verfügt über 56,1 % der Vermögen.
  • Ca. 1/3 aller Haushalte hat keine Rücklagen.
Lt. Zahlen von Statista leben 20,7 % aller Menschen in Deutschland 2021 in prekären Lebensverhältnissen, weil sie von Altersarmut oder sozialer Ausgrenzung betroffen sind. Viele dieser Menschen sind erkrankt, leben in beengten oder unwürdigen Wohnverhältnissen und haben keine Perspektive auf eine bessere Zukunft. Von der gesamten Gemeinschaft zu tragende Lasten sind immens und wirken sich negativ auf Sozialleistungen und auf Leistungen der Versorgung mit öffentlichen Gütern aus:
  • Kosten des Gesundheitssystems explodieren. 
  • Rücklagen des Rentensystems erodieren. 
  • Die meisten Behörden sind personell unterbesetzt und erbringen Dienstleistungen oft nur  unbefriedigend. 
  • Für Kindertagesstätten, Bildungseinrichtungen, Verkehrsinfrastruktur etc. fehlen Haushaltsmittel. 
In defizitären Kollektivgütern verbergen sich Kosten der Wiedervereinigung. Soziale Lasten und ökonomische Kosten der Wiedervereinigung sind längst nicht abgetragen und belasten das Zusammenleben in Deutschland. Forderungen nach mehr sozialer Gerechtigkeit sind absolut verständlich, aber auch naiv, weil sie i.d.R. übersehen, dass 
  • Gerechtigkeit nicht als individuelles Wunschkonzert realisierbar ist, 
  • die Definition von Gerechtigkeit unlösbare Probleme stellt,
  • Gerechtigkeit als politische Programmatik mit Kontrolle einhergeht und Kontrolle individuelle Freiheiten beschneidet,
  • Gerechtigkeit als Ziel politischer Gestaltung zwangsläufig unvollständig bleibt, wenn individuelle Freiheiten gemäß Menschenrechte garantiert werden und Kontrolle sich auf Verletzungen von Rechtsnormen beschränkt.
Trotz aller Klagen ist ein Leben in Deutschland lebenswerter als in vielen anderen Ländern, weshalb Deutschland für zahlreiche Migranten ein Zielland ist. Migranten besitzen bei ihrer Einreise meistens nur das, was sie am Körper tragen, sind i.d.R. völlig vermögenslos, oft bei kriminellen Schleppern verschuldet, haben keine Unterkunft, keine Arbeit, keine Sozialversicherung, sind oftmals krank, verletzt, traumatisiert. Aus Migrantensicht gilt vermutlich ein erheblicher Anteil der 20,7 % in prekären Verhältnissen lebenden Menschen als reich.
 
Die meisten Migranten sind der deutschen Sprache nicht mächtig. Viele unter ihnen haben ein niedriges Bildungsniveau. Deutsche Kultur und Lebensart ist für zahlreiche Migranten nicht nur fremdartig, sondern gemäß internalisierter Werte und Normen verabscheuungswürdig. Trotzdem möchten sie in Deutschland leben, weil das Herkunftsland ein menschenwürdiges Leben unmöglich macht, während ein Leben in Deutschland weit bessere Perspektiven bietet und eigene Communities das soziale Leben erträglich gestalten.
 
Zu Zahlen einreisender Flüchtlinge sind keine belastbaren Daten zu finden. Fehlende Grenzkontrollen verhindern Registrierungen. Längst nicht alle Flüchtlinge wollen dauerhaft in Deutschland leben und bleiben nur temporär. Personen, die keinen Anspruch auf Asyl haben und vor allem aus wirtschaftlichen Gründen einreisen, lassen sich gar nicht erst registrieren und werden in Schattenwirtschaften tätig, die Probleme eigener Art schaffen. Abgrenzungen von Wirtschaftsflüchtlingen und Flüchtlingen aus humanitären Gründen sind schwierig. Motive dürften sich oft vermischen. Dunkelziffern von Flüchtlingen sind unbekannt. 
 
Belastbare Daten beziehen sich auf Personen mit Migrationshintergrund und auf Asylanträge:
  • 2021 hatten 22,3 Millionen Einwohner (27,2 %) einen Migrationshintergrund, d.h. sie selbst oder mindestens einer der Eltern sind nicht in Deutschland geboren. (Statistisches Bundesamt: Gut jede vierte Person in Deutschland hatte 2021 einen Migrationshintergrund)
  • Aktuell leben in Deutschland ca. 3 Millionen Schutzsuchende: FAZ 30.03.2023: Gut eine Millionen Flüchtlinge mehr - von einem Jahr aufs nächste
  • Lt. einer Veröffentlichung der FAZ vom 23.03.2023 wurden 2022 in Deutschland fast 1,3 Millionen Flüchtlinge registriert, darunter 1.045.000 aus der Ukraine.
  • Eine Statistik des Bundeamtes für Migration und Flüchtlinge aus Februar 2023 dokumentiert auf den Seiten 5-17 Entwicklungen der jährlichen Asylantragszahlen:
    • 2022: 244.132
    • 2021: 190.816
    • 2020: 122.170
    • 2019: 165.938
    • 2018: 185.853
    • 2017: 222.683
    • 2016: 745.545
    • 2015: 476.649
  • 2023 werden für Deutschland 350.000 Flüchtlinge und Migranten vorhergesagt, von denen die meisten voraussichtlich bleiben wollen. Im Unterschied zu anderen Ländern erwägt die deutsche Regierung aktuell aus humanitären Gründen keine harten Einschränkungen (FAZ, 30.04.2023: Deutsche Asylpolitik: Auf dem Sonderweg zur Migration). Wie absehbare Konflikte gelöst werden können, ist eine noch unbeantwortete Frage.
Unter Migrationsbedingungen provoziert das Aufeinandertreffen von Kulturen unvermeidbare Clashs, die beide Seiten treffen und individuell nicht lösbare Probleme erzeugen, die in die Zuständigkeit von Politik fallen. Ein Eintrag in Wikipedia zitiert ein als Spiegel+-Artikel veröffentlichtes Interview vom 9.04.2022, in dem Umeswaran Arunagirinathan deutsche Migrantenpolitik kritisiert und der Politik vorwirft, Migranten zu erlauben, sich in Parallelgesellschaften in Deutschland einzurichten, sodass diese „eigentlich nie richtig angekommen“ seien. Deutsche Gesetze gestatten keine Clan-Kriminalität, keine Gewalt- oder Unrechtverherrlichung und auch nicht deren Darstellung in Medien. Zitierte Kritik an deutscher Migrantenpolitik scheint jedoch zu übersehen, dass sich Deutschland im Unterschied zu Ländern, aus denen Migranten flüchten, rechtsverbindlich zur Einhaltung universaler Menschenrechte bekennt. Artikel 18-20 lauten:
  • Artikel 18
    Jeder hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht schließt die Freiheit ein, seine Religion oder seine Weltanschauung zu wechseln, sowie die Freiheit, seine Religion oder seine Weltanschauung allein oder in Gemeinschaft mit anderen, öffentlich oder privat durch Lehre, Ausübung, Gottesdienst und Kulthandlungen zu bekennen.
  • Artikel 19
    Jeder hat das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung; dieses Recht schließt die Freiheit ein, Meinungen ungehindert anzuhängen sowie über Medien jeder Art und ohne Rücksicht auf Grenzen Informationen und Gedankengut zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten.
  • Artikel 20
    1. Alle Menschen haben das Recht, sich friedlich zu versammeln und zu Vereinigungen zusammenzuschließen.
    2. Niemand darf gezwungen werden, einer Vereinigung anzugehören.
Migrationsproblematik ist nicht nur ein hoch komplexes und sensibles politisches Themenfeld, sondern auch ein unbeherrschbares politisches Minenfeld, das mit schlichten Aussagen über politische Willensbildung nicht angemessen zu beschreiben ist. Migrantenpolitik reagiert mit Krisenpolitik auf von globalen Epizentren ausgelösten Ketten nicht planbarer, horizontal und vertikal ausbreitender politischer Schockwellen, die in einer Reihe europäischer Länder zusammenlaufen. Zielländer der EU sind globaler Migrationsproblematik ohne positiver Gestaltungsmöglichkeit ausgeliefert und gezwungen, Krisen und Risiken einer unbeherrschbaren Problematik mit unzulänglichen politischen Mitteln ohne Chance auf Kontrollierbarkeit soweit einzugrenzen, dass politisch zu verantwortende Räume nicht von Konflikten dieser Problematik zerrissen werden. Schuldfragen sind nicht mit persönlicher Verantwortlichkeit zu klären, sondern in ursächlich in strukturellen Zusammenhängen zu suchen, die weit in die Historie zurückreichen und die Gegenwart mit Problemen belasten, aus der kein Königsweg herausführt.

5 Welche Sorgen bereitet Leben global?

5.1 Migrantenpolitik in globaler Betrachtung   

In diesem Kapitel geht es nicht darum, eine bestimmte Politik zu rechtfertigen oder zu kritisieren oder vor Kritik in Schutz zu nehmen. Es geht hier ausschließlich um Angemessenheit von Argumenten und um Fairness. Wer einen praktikablen Vorschlag auf die Frage anbieten kann, ob und ggf. wie politische Willensbildung fair beurteilt werden kann, wenn Komplexität und Chaos empirischer Sachverhalte auf komplexe oder chaotische Anforderungen von Interessenlagen treffen und Komplexität dieses Zusammenhangs jede geordnete Planbarkeit zur Unmöglichkeit degradiert, hat mehrere Nobelpreise verdient. 
 
In China, Nordkorea und vielen anderen Ländern entstehen Fragen dieser Art nicht, weil Autokraten und politische Kader vermeintliche universale Wahrheiten verkünden, keine kritischen Zweifel zulassen und skeptisches Denken, Meinungsfreiheit, Toleranz gegenüber von der offiziellen Linie abweichenden Auffassungen brutal unterdrücken und unbequem denkende Minderheiten als Terroristen bis hin zur Todesstrafe verurteilen. Das sind jene Länder, aus denen Migranten flüchten und in wirtschaftlich stabile Länder streben, in denen nicht nur Zweifel und Konfusion erlaubt sind, sondern Meinungsfreiheit und Toleranz als kulturelle Werte gelten. Nach ihrer Ankunft bemerken Migranten, dass sie sich ein anderes Paradies vorgestellt haben und pluralistische Kultur mentale Anforderungen stellt, denen sie nicht gewachsen sind. Wo liegen die Fehler? Wer Fehler zu identifizieren vermag und praktikable Vorschläge zu ihrer Beseitigung unterbreiten kann, sollte den Friedensnobelpreis erhalten.
 
Politische Entscheidungen beruhen prinzipiell auf Kompromissen, die zwischen partikular zersplitterten sozialen, ökonomischen, ökologischen, ethischen Interessen von Mehrheiten, Minderheiten, Unternehmen, Organisationen, Gemeinden, Städten, Kreisen, Ländern, Staaten, EU und internationalen Bündnissen sowie global einen gemeinsamen Nenner finden müssen, um nicht zuletzt auch Regierungsmandate zu rechtfertigen und nicht zu verlieren. 
 
Politische Entscheidungen zur Migrantenpolitik bleiben unter genannten Bedingungen immer angreifbar und sind nicht frei von Fehlentscheidungen und Menschenrechtsverletzungen. Die föderale Struktur Deutschlands macht die Aufgabe nicht einfacher.  Medienberichte und zahlreiche Veröffentlichungen machen Vielschichtigkeit und Vielfältigkeit dieser Problematik bekannt. Themenbezogene Zweifel an politischer Kompetenz und an ethisch verantwortbarer politischer Willensbildung sind oft verständlich und nachvollziehbar. 
 
Auf strukturelle Probleme sozialer Institutionen und ihrer Prozesse macht das Kapitel 4.3 aufmerksam. Inhaltlich ist es jedoch im Rahmen dieses Posts nicht möglich, der komplexen Thematik politischer Willensbildung und Entscheidungen gerecht zu werden, weshalb Kapitel 5.1 mit einer Liste von Quellen vertiefender Informationen endet:
 
5.2 Dynamik, Stabilität, Trägheit, Intransparenz von Strukturen und Prozessen in Institutionen und formalen Organisationen
 
Institutionen und formale Organisationen sind auf zeitliche Dauerhaftigkeit gestellte Einrichtungen. Nutzen der Persistenz ihrer Strukturen und Prozesse resultiert aus fixierten Handlungsmustern, die Verhaltenssicherheit herstellen, Prozesse beschleunigen und Stabilität verleihen. Mit Persistenz von Strukturen geht zugleich der konstruktionsbedingte Nachteil von Beharrlichkeit und Selbstgenügsamkeit einher, die Anpassungsfähigkeit an veränderte Bedingungen einschränken. Daher reagieren Institutionen und formale Organisationen auf veränderte Bedingungen eher träge, mitunter auch unvollständig oder unangemessen, manchmal auch zu spät oder gar nicht. Mit zunehmender Größe wachsen sowohl Nutzen als auch Beharrlichkeit und Selbstgenügsamkeit persistenter Strukturen. 
 
Veränderungen, die in kontinuierlichen Prozessen nachhaltige Wirksamkeit absehbar erzeugen, üben Anpassungsdruck auf Organisationen und ihrer Prozesse aus.
  • Organisationen, die unter Bedingungen von Wettbewerb agieren, sind aus Eigeninteresse darin geübt, Anpassungsdruck zu kompensieren und Selbstgenügsamkeit zu vermeiden. Märkte und demokratisch organisierte Verfassungsstaaten funktionieren selbstregulierend, was nicht als Bewertung von Effizienz oder Qualität zu verstehen ist. Im Gegenteil muss wie in jedem komplexen System permanent nachreguliert werden, wobei sich typisch für große Systeme störende Trägheitsmomente bemerkbar machen. 
  • Institutionen und Organisationen mit Monopolstrukturen sind geringerem Anpassungsdruck ausgesetzt und agieren daher schwerfälliger, z.B. Behörden sowie jede Art von auf weltanschaulich-fundamentalistischen Dogmen beruhenden Einrichtungen, wie planwirtschaftliche Ökonomien, politische Autokratien, religiöse Institutionen. 
Wenn Fähigkeiten zur Anpassung sich als nicht ausreichend erweisen, verlieren Organisationen ihre Legitimation, sodass sie sich entweder auflösen oder aufgelöst werden. In dieser Situation befinden sich aktuell religiöse Institution protestantischer und katholischer Konfession (jedoch nicht in allen Ländern), aber auch andere Einrichtungen und ganze Berufsgruppen, die länger erfolgreich waren, aber als Spezialisten über keine ausreichende Anpassungsfähigkeit verfügen (z.B. Warenkaufhäuser, Buchläden, Laufmaschendienste, Internet-Cafés, Heißmangeln etc. oder Böttcher, Hufschmiede, Hutmacher, Schneider etc.) und daher verschwinden oder nur noch in kleinen Nischen überleben.

Sonderfälle bilden in kollektiven Gütern gebündelte Interessen des Gemeinwohls und deren Organisationen (z.B. Bildungseinrichtungen, Systeme sozialer Sicherung, Wohnungsbau, Verkehrsinfrastruktur etc.), die prinzipiell unter Ineffizienz, Übernutzung und Missbrauch leiden (Wikipedia: Tragik der Allmende). Diesen Sachverhalt dokumentiert eine endlose Reihe an Beispielen, u.a.:
  • Klimawandel erzwingt tiefgreifende Veränderungen des gesamten Lebensraums, um die Erderwärmung und deren Folgen aufzuhalten. Die Liste zielführender notwendiger Maßnahmen ist bekannt und umfangreich. Umsetzungen erfolgen bestenfalls halbherzig ohne erforderliche Konsequenzen und verschieben so das Problem an nachfolgende Generationen.
  • Ansteigende Geburtenraten erlauben Bedarfsprognosen für benötigte Schulen und Lehrer, ohne dass bedarfsgerechte Infrastrukturen zeitgerecht entstehen.
  • Demographischer Wandel macht umfassende Veränderungen der Strukturen von Gesundheitssystemen, der sozialen Absicherung, von Wohnverhältnissen, von Verkehrsinfrastrukturen etc. erforderlich. Anpassungen erfolgen überwiegend in homöopathischen Dosierungen, die bestenfalls Spitzen von Eisbergen abschmelzen. 
  • Kindergeldregelungen können dazu motivieren, Einkünfte aus Kindergeld zu beziehen, anstatt einer beruflichen Tätigkeit nachzugehen. 
  • Sozialleistungen können dazu motivieren, diese als Basiseinkommen zu nutzen und zusätzliche Einkünfte mit Schwarzarbeit zu erzielen.
Zu berücksichtigen ist, dass politische Handlungsfähigkeit durch besondere Randbedingungen eingeschränkt oder verhindert sein kann:
  • Komplexität der Realität erzeugt nicht vorhersehbare kontingente Ereignissen (z.B. Kriege, Naturkatastrophen, Pandemien), die Krisen auslösen, für die keine Lösungen vorgehalten werden können und auf die oftmals auch nicht adäquat reagiert werden kann. 
  • Kompetenzrahmen politisch Verantwortlicher beschränken sich auf Legitimationsräume, über die hinaus keine Handlungskompetenz besteht. Globale Problementwicklungen und Krisen stellen dagegen Aufgaben, die nur global lösbar sind und daher Konsens über globale Willensbildung erfordern. Aufgrund fundamental unterschiedlicher Interessenlagen ist die Herstellung von Konsens zur Lösung solcher Problemfelder in überschaubaren Zeiträumen nicht zu erwarten, weshalb eine Reihe globaler Probleme nicht lösbar sind. Die nachfolgende Liste von Problemfeldern ist sicherlich unvollständig:
    • Beachtung von Menschenrechten, 
    • von Menschen verursachte Änderungen des Klimas,
    • Überbevölkerung,
    • Verschmutzung und Überfischung der Weltmeere,
    • Artensterben,
    • Abholzung von Regenwäldern,
    • Vermüllung des erdnahen Weltraums,
    • Lichtverschmutzung,
    • Cyberkriminalität und Cyberterrorismus,
    • Verrohung und Verdummung von Menschen via elektronische Medien,
    • usw.
Kumulierungen dieser Problemfelder erhöhen globale Risikopotentiale beträchtlich und setzen unbeherrschbare Migrationsströme in Gang, die nur global lösbar wären, aber unter Bedingungen von Realpolitik nicht lösbar sind. Für politisch Verantwortliche eines Landes oder von Ländergemeinschaften sind derartige Problemfelder weder ethisch noch sozial oder ökonomisch adäquat beherrschbar. 

 
5.3 Künstliche Intelligenz: Ist Optimismus eine relevante Option?
 
Naives Alltagsdenken verbindet mit Innovationen künstlicher Intelligenz (KI) als Fortschritt verstandene Erwartungen globaler Problemlösung. Naiver Fortschrittsglaube ist längst als Mythos und Irrtum entlarvt (siehe Post: Konstruktion und Dekonstruktion der großen Erzählung vom Fortschritt), weshalb KI keinen Fortschrittssegen entfalten wird, aber tiefgreifende Veränderungen auslöst. Einige dieser Veränderungen werden nützlich oder hilfreich sein. Ob zusätzlicher oder neuer Nutzen durch neue Technologien entstehende Risiken zu rechtfertigen vermag, wird unterschiedlich gesehen. 
 
KI beruht bisher auf Erkennen, Berechnen, Vergleichen von Mustern sowie auf Lernfunktionen der Mustererkennung und auf Kreativfunktionen der Mustererzeugung. Maschinelle Fähigkeiten beruhen nicht alleine auf Algorithmen. Um hohe Qualität zu realisieren, werden riesige Datenmengen und eine hohe maschinelle Performance benötigt. Aufgrund der technischen Leistungsfähigkeiten aktueller maschineller Generationen haben Maschinen bzgl. der beschriebenen Funktionen menschliche Fähigkeiten längst überholt und werden sich weiter steigern. Erreichte und zu erwartende Fähigkeiten können für Menschen durchaus beunruhigend sein.
 
Menschen verfügen dagegen über Fähigkeiten, deren maschinelle Nachbildung noch nicht gelungen ist:
  • Menschen sind in der Lage, Muster bereits mit sehr wenigen Daten zu erkennen, wobei allerdings die Treffsicherheit von Aussagen bzw. die Irrtumswahrscheinlichkeit von einigen Bedingungen abhängig ist. 
  • Menschliche Mustererkennung beruht auf Fähigkeiten der Hypothesen- und Urteilsbildung mittels Wahrnehmung oder Vermutung kausaler Zusammenhänge sowie auf Fähigkeiten der Identifizierung von Konsistenz und der Bildung von Sinnkonstrukten.
  • Menschen verfügen über Emotionen bzw. über selbstreflexive Bewusstseinszustände und können diese mit Wahrnehmungen innerer und äußerer Zustände verknüpfen, um rationale Urteile zu bilden.  
KI ist in Wirklichkeit nicht intelligent, sondern dumm. KI verfügt über keine Rationalität und vermag nämlich nur solche Probleme zu erkennen und zu lösen, die als Muster angelernt wurden. KI kann sich nicht selbst reflektieren und keine Urteile bilden. Ob und ggf. wann diese Fähigkeiten maschinell beherrscht werden, ist unsicher, solange menschliche Algorithmen der Urteilsbildung unverstanden bleiben.
 
Von egoistischen Interessen verbreitete Fortschrittsnarrative sedieren naives Denken. Wer ethisch denkt und seriös über Risiken nachdenkt, sieht auf die Menschheit eine Welle globaler Bedrohungen mit bisher nur unvollständig absehbaren Folgen zurollen. Artikel der FAZ beschreiben ein noch relativ harmloses Experiment mit manipulierten Fotos (Alles, nur nicht die Wahrheit), das ernst zu nehmen ist: Wie Lügenbilder die Demokratie bedrohen. Defizite und Perspektiven von KI betrachten die FAZ-Artikel Wie künstliche Systeme lernen sollten und Radioaktive Texte. Um ethische Dammbrüche zu verhindern, benötigen wir Antworten auf die Fragen, wie wir im Alltag echte von falschen Informationen unterscheiden können und wie verhindert werden kann, dass falsche Informationen soziales Leben manipulieren. Derzeit sind nur schwache Ideen für praktikable Antworten erkennbar. 

Menschen sind biologische Maschinen, deren Leistungsfähigkeit sich von technischen KI-Maschinen derzeit noch gravierend unterscheidet bzw. kaum vergleichbar ist (Deutschlandfunk: Warum der Mensch-Machine-Vergleich hinkt). KI beruht mit Hilfe von Statistik und Stochastik auf der Erkennung von Mustern und ist darin leistungsfähiger als Menschen. Menschliches Denken verfügt jedoch über die Fähigkeit, aus wenigen Informationen kausale Zusammenhänge herzustellen oder zu vermuten. KI fehlt diese Fähigkeit. Bisher ist nicht verstanden, wie die Fähigkeit zum Erkennen von Kausalität zustande kommt und kann daher nicht in Algorithmen nachgebildet werden (Max-Planck-Gesellschaft: Nicht ohne Grund!). Falls diese Hürde überwindbar ist, erfährt die Leistungsfähigkeit menschlichen Denkens Nachteile, deren Auswirkungen heute noch nicht vollständig zu bewerten sind, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit  schwerwiegend ausfallen werden.
 
Denkbar sind bereits heute von KI zu politischen Zwecken manipulierte Szenen vermeintlicher Terroraktionen, Kriege, Hinrichtungen etc.. Dabei geht es nicht nur um Bilder oder auch um Lügentexte, die KI bei entsprechenden Anforderungen liefert und als vermeintliche Beweise ausgegeben werden können, sondern auch um intransparentes sowie um unkontrollierbares autonomes Handeln von Maschinen. Wieviele Arbeitsplätze verloren gehen werden, was das für das soziale und politische Leben bedeuten wird und welche Auswirkungen auf das Denken und Verhalten von Menschen zu erwarten ist, vermag niemand seriös zu prognostizieren, aber Größenordnungen werden voraussichtlich gewaltig ausfallen und historische Transformationen sozialer und wirtschaftlicher Strukturen deutlich übertreffen. Selbstverständlich geht es bisher nur um Szenarien, die aufgrund fehlender Detailinformationen nicht planbar sind, aber dennoch vorausgedacht werden sollten, um Entwicklungen nicht ohnmächtig ausgeliefert zu sein.
 
Was möglich ist, wird genutzt, wenn es Interessen dient. Annahmen, dass KI nur für gutartige nützliche Zwecke verwendet würde, wären absolut naiv in Anbetracht der unkontrollierbaren Verflechtung von Interessen mit politischer und ökonomischer Macht sowie in Anbetracht der Schwierigkeit, ethisch gutes Handeln zu bestimmen. Für die optimistische Annahme, dass über ethische Kriterien von Technologien globaler politischer Konsens erzielt werden kann, sind keine guten Gründe sichtbar. Im Gegenteil sprechen Erfahrungen zu Entwicklungen des Klimas oder auch des öffentlichen Internets gegen eine solche Annahme. Selbst wenn Konsens erzielt werden könnte, würde er mit hoher Wahrscheinlichkeit an der Durchsetzbarkeit scheitern. IT-Konzerne verbergen bereits in der Gegenwart ihre Algorithmen. In naher Zukunft stellt sich mit zunehmender Dringlichkeit die Frage, welchen Informationen wir noch trauen können, wie Vertrauenswürdigkeit hergestellt werden kann oder wie sich soziales Leben ohne Vertrauen entwickeln wird. Antworten auf diese Frage sind nicht zu erkennen. 
 
Mit wachsender sozialer Komplexität nehmen auch normative Probleme von Antworten auf die Frage nach gutem und richtigem Leben zu. Dass künstliche Intelligenz die Menschheit aus dieser Falle befreien könnte, ist aus Sicht des Autors Roberto Simanowski eine denkbare Option, aber ein Teufelspakt, in dem Menschen Willensfreiheit gegen Effizienz eintauschen. Ansprüche auf Autonomie und Souveränität, über die Menschen nur begrenzt verfügen (wenn überhaupt), wären obsolet. 
  
 
6 Änderungshistorie des Posts
 
23.05.2023:  Kapitel 3.3: Verlinkung Post aktiviert
                     Kapitel 4.3.3: Verweis auf Die seltsamsten Menschen der Welt von Joseph Henrich
16.05.2023:  Kapitel 4.3.2: Verlinkung FAZ-Artikel zur Bürokratie in Deutschland
30.04.2023:  Korrekturen und sprachliche Glättungen
24.04.2023:  Veröffentlichung der Urversion

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen