Biografische Narrative versteht dieser Post als eine Teilmenge historischer Narrative. Biografien im Sinne chronologisch geordneter Abfolgen von Ereignissen
und Entscheidungen einer erzählten Lebensgeschichte beschreiben
individuelles Leben als einen ganzheitlichen kohärenten Zusammenhang. Biografische Deutungsmuster bestehen aus einem kaum oder nur schwer zu duchdringendem Konglomerat, das an anderer Stelle ausführlicher betrachtet wird.(1)
Wie
jede Art von Geschichte beruht auch Familiengeschichte auf ex post
konstruierten Erzählungen über eine Realität, die sich unter
vermeintlichen Einflüssen einer materiellen Umgebung in soziale,
politische, kulturelle Sphären gliedert, deren interagierende Prozesse
temporäre Zustände scheinbar kausal erzeugen. Ex post konstruierte Erzählungen bestehen aus systematisch
geordneten Granulaten von Erinnerungen vermeintlich kausal erzeugter Prozesse, Ereignisse, Zustände, die narrativ zu evidenten Sinnzusammenhängen verknüpft werden. Empirische Sachverhalte sind zweifellos real. Deutungen von Ereignissen und Zusammenhängen zwischen Ereignissen sind jedoch keineswegs evident. Deutungen beruhen auf Kulturmustern, die emprirische Phänomen mit kulturell gefärbter selbsterklärender Relevanz beschreiben. Kritisch betrachtet ist die Gültigkeit kultureller Deutungsmuster prinzipiell fragwürdig. Aus dieser Perspektive betrachtet der Post skizzierte Problemfelder philosophisch-erkenntnistheoretischer und kulturspezifischer Art mit Skepsis.
1. Wahrnehmung und Erkenntnis
Eine kritische analytische Betrachtung von Prozessen der Wahrnehmung und Erkenntnis macht bewusst, dass
- Prozesse der Realität weitgehend kontingent oder chaotisch ablaufen und interagieren,
- lineare Kausalität eher ein Randphänomen darstellt,
- erst die
evolutionäre Entwicklung von Bewusstsein Leben komplexer
biologischer Systeme in komplexer Realität ermöglicht,
- vermeintliche Ordnungen empirischer und abstrakter Phänomene aus gedanklich konstruierten Mustern bestehen,
- Deutungsmuster bestenfalls Annäherungen einer Realität beschreiben, die aber letztlich unverstanden bleibt.
Ob
gedachte Ordnung real existieren oder nur als real existent angenommen
werden, ist nicht entscheidbar. Offensichtlich ist jedoch, dass
- über Bewusstsein verfügende Lebewesen Ordnungen mental konstruieren, um in einer komplexen und chaotischen Welt leben zu können,
- erfolgreiche Deutungsmuster biologischer Systeme keine Beweise für Annahmen von Realität ersetzen,
- gegen jedes Ordnungskonstrukt Vorbehalte möglich sind.
2. Kulturabhängigkeit von Wahrnehmung und Erkenntnis
Ab dem 15. Jahrhundert verwandelte die europäische Expansion
die Welt und trägt aus Sicht westlicher Kulturen vermeintlich
Fortschritt und Zivilisation in Regionen der Welt die aus europäischer Perspektive als rückständig und daher als entwicklungsbedürftig gelten. Die Verbreitung von Nutzen und
Fortschritt europäischer Prägung geht mit Begleitschäden einher, die je nach Perspektive als vermeidbar oder unvermeidbar bewertet werden und dementsprechen als
in Kauf zu nehmen, entschuldbar, akzeptabel, bedauerlich, verwerflich, unverantwortlich oder sträflich beurteilt oder verurteilt werden.
Mit Wachstums- und Fortschrittsparadigmen entstehen optimistische Weltsichten, die Kontrollierbarkeit oder zumindest Limitierbarkeit kultureller Prozesse und ihrer Auswirkungen behaupten. Zugleich entstehen antagonistische pessimistische Weltsichten, die annehmen, dass von menschlicher Kultur bewirkte Prozesse inzwischen Schwellen der Kontrollierbarkeit überschritten und eine Eigendynamik entwickelt haben, die nur noch marginal beeinflussbar ist.
Pauschalaussagen zugunsten der einen oder anderen Richtung verfehlen die Problematik. Verläufe von Grenzen zwischen kontrollierbaren und unkontrollierbaren Entwicklungen variieren zwischen Prozessen und können nur spezifisch bewertet werden.(3) Diese diffuse Lage macht nachvollziehbar, dass zahlreiche Kulturen aus diesen seit mehreren Jahrhunderten beschleunigenden Entwicklungen zwar
nützliche westliche Innovationen übernehmen, sich aber gegen
eine pauschale Verwestlichung wehren und westliche Denk- und
Verhaltensmuster zugunsten mit höherer
Wertschätzung betrachteter eigener kulturelle Tradition ablehnen. Allerdings ist dabei auch zu berücksichtigen, dass im kollektiven Gedächtnis wurzelnde traditionelle Verhaltensmuster sich nur langsam verändern.
Ethnozentristische Voreingenommenheit ist kein Problem westlichen Denkens, sondern ein in allen Kulturen anzutreffendes Phänomen. Durch europäische Kultur geprägte Denkmuster werden Eurozentrismus genannt. In anderen Kulturräumen bestehen vergleichbare kulturell geprägte Denkmuster. Die eigentliche Problematik besteht in dem Sachverhalt, dass
- im Alltagsdenken kulturelle Prägungen von Denkmustern nicht bewusst werden und daher kulturspezifische Denkmuster als universelle Denkmuster missverstanden werden,
- eurozentrische Denkmuster Dominanz enfalten konnten, weil sie sich als scheinbar überlegen erfolgreich durchgesetzt haben,
- eurozentrische Denkmuster vermeintlich eine Dynamik kulturellen Fortschritts antreiben.(4)
Eine Gruppe Geisteswissenschaftler um den psychologisch ausgerichteten Anthropologen Joseph Henrich hat in einer einflussreichen Veröffentlichung 2010 den Begriff WEIRD für westliches Denken geprägt.(5) WEIRD ist ein englisches Akronym für western (westlich), educated (gebildet), industrialized (industrialisiert), rich (wohlhabend, reich) und democratic (demokratisch) und zugleich ein Wortspiel. Im Englischen bedeutet weird
seltsam, sonderbar, merkwürdig.
Ca. 12 % aller Menschen leben in westlichen Industrieländern. Eine
Mehrheit aller wissenschaftlichen Studien verantworten jedoch Wissenschaftler aus WEIRD-Ländern. Probanden von Studien sind ebenfalls in WEIRD-Ländern sozialisiert. 2008 stammten in Psychologiestudien 96 % der Teilnehmer aus Industrieländern.
Als Ethnologen haben Henrich et al. aufgrund
empirischer Studien erkannt, dass einerseits westliche
Verhaltensmuster, Werte und Normen in weiten Teilen der Welt als
seltsam, sonderbar, unverständlich gelten und andererseits die meisten
Menschen nicht WEIRD sind. Da wissenschaftliche Studien zu Kontexten menschlichen Verhaltens überwiegend von WEIRD people produziert werden, sind Ergebnisse dieser Studien mehr oder weniger extrem WEIRD bzw. eurozentristisch
verzerrt.(6) Im Ergebnis zeigen die Untersuchungen, dass Untersuchungen
kulturell variable Aspekte mit universalen Aspekten vermengen, daher
kulturell geprägte menschliche Vielfalt übersehen und zum Teil variable
Aspekte fälschlicherweise als universelle Aspekte identifizieren. Joseph
Henrich hat mit einer Studiengruppe diese Sachverhalte und ihre
Auswirkungen untersucht und Ergebnisse der Untersuchungen in einem Buch
veröffentlicht, auf das sich dieser Beschreibung bezieht.(7,8)
Von Henrich et al. beschriebene Sachverhalte bestätigt der Schweizer Historiker, Philosoph, Ethnologe Daniel Speich Chassé in einer kritischen Betrachtung westlicher Konzepte von Fortschritt und Entwicklung, die am 21. September 2012 in Docupedia-Zeitgeschichte als Essay veröffentlicht wurde: Fortschritt und Entwicklung.
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- Post: Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält
- Die Problematik von Bewusstsein betrachten mehrere Posts:
- Nachdenken über Lösungsmuster konfrontiert unweigerlich mit Problemen kollektiver Güter, auf die der Post Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält in Kapitel 6.7 eingeht.
- Das Narrativ des durch europäische Kultur getriebenen kulturellen Fortschritts betracht der Post Konstruktion und Dekonstruktion der großen Erzählung vom Fortschritt
- Joseph Henrich, Steven J. Heine, Ara Norenzayan: The weirdest people in the world?, Behavioral and Brain Sciences, 2010, Jahrgang 33, S. 61–135 (PDF). doi: 10.1017/S0140525X0999152X
- Joseph Henrich, Steven J. Heine, Ara Norenzayan: Most people are not WEIRD, Nature 466, 29 (2010). doi: 10.1038/466029a
- Joseph Henrich: Die seltsamsten Menschen der Welt. Wie die Menschen reichlich sonderbar und besonders reich wurden. Berlin 2022 (Original: The WEIRDest People in the World: How the West Became Psychologically Peculiar and Particularly Prosperous. Farrar, Straus and Giroux, 2020)
- Rezensionen des Buchs:
- Günter Renz, Ethik und Anthropologie: Joseph Henrich: Die seltsamten Menschen der Welt
- Deutschlandfunk: Warum westliche Menschen "weird" sind
- WELT: Warum sich Westler keine Gesichter merken können
- FAZ: Die Menschen im Westen sind die Besten
- Günter Renz, Ethik und Anthropologie: Joseph Henrich: Die seltsamten Menschen der Welt
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