Montag, 24. April 2023

"Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält." (Max Frisch) - Post in Bearbeitung: 26.10.2023

Handkolorierte Farbradierung «Lebenslauf»,
Adi Holzer 1997 (Werksverzeichnis 850)
Der Autor des Posts versteht Menschen posthumanistisch als bio-soziale Maschinen, Kultur und Religion als Strategien der Weltbewältigung, subjektive Wahrnehmung eines individuellen Selbst als Konstrukte des mentalen System, Biografien als ex post erzeugte Artefakte.
Biografien im Sinne chronologisch geordneter Abfolgen von Ereignissen und Entscheidungen einer verschrifteten Lebensgeschichte beschreiben individuelles Leben als einen ganzheitlichen kohärenten Zusammenhang. Der Schriftsteller Max Frisch wendet sich gegen diese Ansicht, wenn die Romanfigur Gantenbein mit biografischen Fiktionen spielt. Pierre Bourdieu erklärt in Die biographische Illusion (BIOS 1/1990, S. 75-81) Sinnzusammenhänge von Lebensgeschichten soziologisch als Konstrukte kulturell geprägter Wahrnehmungen der Welt, die bereits mit der Namensgebung sozialer Akteure angelegt werden. 
Naivem Alltagsdenken bleibt Komplexität der Umgebung von Leben verborgen und nimmt mental erzeugte Artefakte als biographisch beschreibbare objektive Realität wahr. Ursachen und Folgen unterschiedlicher Sichten auf die Welt geht dieser Post nach, ohne Wahrheiten zu verkünden. Aber er sucht nach Wahrheiten und scheut dabei weder Anstrengungen noch Provokationen. Neurobiologie und Sozialpsychologie vermitteln Ahnungen, wie im evolutionären Prozess unter kontingenten Bedingungen komplexer Umgebungen universale biologische Mechanismen und variierende kognitive Strukturen des mentalen Systems als nützliche Funktionen des Überlebens von Organismen entstehen und Illusionen eines sich vermeintlicher Individualität und Autonomie bewussten Subjektes  erzeugen. 

Inhaltsübersicht
 
1            Worum geht es in diesem Text?
1.1         Motivation
2            Annahmen universaler struktureller Prinzipien der Realität
2.1         Komplexität, Chaos, Kontingenz, Ordnung, Kausalität, Leben
2.2         Ordnung der materiellen Welt
2.3         Schichtenmodell menschlicher Denk- und Verhaltensweisen
2.4         Denkordnungen
2.4.1      Alltagsdenken (Denken 1. Ordnung)
2.4.2      Wissenschaftliches Denken (Denken 2. Ordnung)
2.4.3      Kritisch-rationales Denken
3            Funktionalistische Erklärungen
4            Wie gehen biologische Systeme mit Komplexität, Chaos, Kontingenz um?
4.1         Vulnerabilität und Widerstandsressourcen von Leben
4.2         Wahrnehmung, Bewusstsein, Regulierung mentaler Zustände lebender Systeme
5            Wie gehen soziale Systeme mit Komplexität, Chaos, Kontingenz um?
5.1         Entstehung von Kultur und des Fortschrittsparadigmas westlicher Kulturen
5.1.1      Kultur als Symbolsystem menschlicher Kooperation
5.1.2      Kollektives kulturelles Gedächtnis 
5.1.3      Kollektivbewusstsein, Diskurse, Konflikte
6            Bedeutung und Entstehung von Religion
6.1         Erklärungen der Makroeben: Individualistische Modelle der Entstehung von Religion 
6.1.1      Entstehung von Religion als Bewältigungssystem von Todesangst
6.1.2      Entstehung von Religion aus neurobiologischer Sicht
6.1.3      Entstehung von Religion aus neurotheologischer Sicht  
6.1.4      Religion in intepretativer Ethnologie: Clifford Geertz
6.2         Erklärungen der Makroeben: Religion als System
6.2.1      Religionssoziologie: Èmile Durkheim, Max Weber, Pierre Bourdieu
6.2.2      Der Ursprung der Religion: Robert Bellah 
6.2.3      Evolution von Religion in der biologisch-kulturellen Patrix (Carel von Schaik und Kai Michel) 
6.2.3.1   Religion von unten im Kontext von Gender
6.2.3.2   Transformation und Institutionalisierung
6.2.3.3   Religion von oben als männliche Herrschaftsreligion
7            Kulturelle Transformation vom Nomadentum zur Sesshaftigkeit 
7.1         Übergang zur Sesshaftigkeit 
7.1.1      Entstehung von Eigentum
7.1.2      Entstehung von Machtstrukturen und sozialer Ungleichheit
7.1.3      Entstehung des Patriarchats
7.1.4      Umformung von Religionssystemen zu angstbesetzten Herrschaftssystemen 
7.1.5      Entstehung von Kriegen als soziales Phänomen
7.2         Erbe von Sesshaftigkeit
7.2.1      Entstehung von Wissenschaft
7.2.2      Ausbreitung von Wissenschaft 
7.2.3      Imperialismus: Kampf um die Weltherrschaft  
8            Anpassungsfähigkeit von Strukturen und Prozessen sozialer Institutionen und formaler Organisationen
9            Komplexität sozialer Realität der Gegenwart aus ethischer Sicht
9.1         Bevölkerungsentwicklung
9.2         Menschenrechte
9.3         Religionen im Kontext kultureller Weltbilder
9.3.1      Ethische Betrachtung von Religion als vorsätzlich kultiviertes adaptives Wahnsystem 
9.3.2      Extrinsische und intrinsische Religiosität
9.3.3      Segen und Fluch von Religionen
9.4         Patriarchat und Feminismus 
9.5         Pandemien
9.6         Klimawandel und Klimapolitik
9.7         Kollektive Güter
9.7.1      Tragik und Rationalitätsfallen kollektiver Güter  
9.7.2      Komplexität kollektiver Güter 
9.8         Künstliche Intelligenz (KI) 
9.9         Ethisch korrektes Leben
10          Lebensgeschichte: Determinismus vs. Indeterminismus, Zufall vs. Planung
10.1       Was prägt Denken und Verhalten?
10.1.1    Biologische Faktoren
10.1.2    Lebensraum (Umwelt der Wahrnehmung)
10.1.3    Kulturelle Umgebung
10.1.4    Soziale Faktoren
10.1.4.1 Schwangerschaft und Geburt
10.1.4.2 Frühkindliche und juvenile Sozialisation 
10.1.4.3 Erwachsenenalter 
10.2       Lebensstil und Habitus     
10.3       Perspektiven von Leben
10.3.1    Denkordnungen: Wildes, wissenschaftliches, posthumanistisches Denken  
10.3.2    Ist die Welt noch zu retten?
11          Änderungshistorie des Posts
 
 
1 Worum geht es in diesem Text?

Dieser Post ist der 2. Teil einer zweiteiligen Postserie, die sich mit Denkordnungen auseinandersetzt.
  • Teil 1 (Grundfarbe Deutsch - individuelle Happiness - prekäres vs. lebenswertes Leben) vermittelt anhand inhaltlicher Beispiele der im Buch Grundfarbe Deutsch ausgebreiteten Migrationsthematik, wie unterschiedliche Denkweisen unterschiedliche Verständnisse von Welt hervorbringen. 
  • Teil 2 (dieser Text) befasst sich mit dem abstrakten theoretischen Gerüst eines auf Methoden rationaler Analyse beruhenden selbstreflexiven wissenschaftlichen Denkens 2. Ordnung und nutzt theoretische Erklärungsmodelle dieses Denken, um eine Reihe empirischer Mikro- und Makro-Phänomene kultureller Evolution zu deuten. Abschnitte des Kapitel 1.2 und Kapitel 1.3 sowie Kapitel 6.8 sind identisch mit Inhalten des Teils 1.
Dass Menschen als soziale Wesen kooperieren, ist eine triviale Aussage. Spannender sind die Fragen, welche Kooperationsstrategien sie nutzen, wie diese Strategien zustandekommen, welche Strategien erfolgreich sind oder scheitern sowie die Frage, was Erfolg oder Misserfolg verursacht und bewirkt. Suchen nach Antworten müssen unterschiedlichen Aspekten nachgehen, die aber kein Bild ergeben. Der Post beschreibt Bildskizzen.
 
Im Post geht es insbesondere um das Verständnis des Kontextes, der in komplex-dynamischer Umwelt individuelle biografische Sinnkonstrukte in Interdependenz mit kollektiven kulturellen Sinnkonstrukten als Funktionen des Überlebens hervorbringt. Sinnkonstrukte verbessern Chancen des Überleben in einer unendlich komplexen Realität, weil sie Kooperation ermöglichen und Handlungssicherheit vermitteln. Kooperation erfordert Synchronisierung von Verhalten. Kollektive kulturelle Sinnkonstrukte sozialer Systeme synchronisieren individuelles Verhalten.  
 
Aufgrund komplexer dynamischer Bedingungen ihrer Umgebung prägen soziale Systeme mehr oder weniger stark differierende Kulturen aus. Bei aller Unterschiedlichkeit scheinen sämtliche Kulturen Anforderungen der Synchronisierung von Verhalten mit ähnlichen zentralen Mechanismen zu lösen. Als Religion bezeichnete Konstrukte sind in variierenden Ausprägungen ubiquitär verbreitet. Als Kerne kultureller Identität bilden religiöse Konstrukte ein universales Element von Verknüpfungen zwischen kollektiven und individuellen Sinnkonstrukten. Je nachdem, ob Konsens oder Dissens besteht, synchronisieren oder fragmentieren religiöse Konstrukte soziales Verhalten.
 
Wertepluralismus westlicher Kulturen löst eine religiöse Kernschmelze aus, mit der sozial prekäres Leben zunimmt und Distanzen zu weltanschaulich dogmatischen Kulturen wachsen. Derartige Zustände entstehen nicht über Nacht, sondern entwickeln sich in zeitlich langen Ketten komplex vernetzter Prozesse. Verständnis von Zusammenhängen komplexer Prozessketten ist nicht auf Spaziergängen erreichbar, sondern verlangt Bereitschaft zum Gehen weiter Wege. Der Post beschreibt auf dem Weg sich einstellende Eindrücke und Erkenntnisse, die vorläufiger Art sind und sich ändern können.

 
1.1 Motivation 
 
Wissenschaftliches Denken evoziert die Erkenntnis, dass Alltagsdenken (Denken 1. Ordnung) auf biologischen Mechanismen des Wahrnehmungsapparates beruht. Diese verhindern, dass deterministische Prägungen erkannt werden und erzeugen im Bewusstsein 
  • Verständnis von Kompetenz und Autonomie als vermeintliche individuelle Fähigkeiten,
  • Illusionen subjektiver Einzigartigkeit,  
  • Auffassungen vermeintlich objektiver Realität, Kausalität und Sinnhaftigkeit.
Der Post geht Unterschieden von Alltagsdenken und wissenschaftlichem Denken nach und versucht, Unterschiede zwischen naivem Alltagsdenken und wissenschaftlichem Denken zu verstehen und zu beschreiben, ohne Anspruch auf Wissenschaftlichkeit zu erheben. Antworten auf Fragen nach Ursachen und Auswirkungen struktureller Unterschiede sind dem Stand der Erkenntnis geschuldet, der sich schnell verändert und daher als vorläufig einzuordnen ist.
 
Angedeutete Komplexität des Themenfeldes bereiten dem Autor und Lesern unvermeidbare Mühen, zumal intellektuelle Redlichkeit Genauigkeit von Aussagen und Angabe von Quellen verlangt. Trotzdem kratzt die Behandung von Themen nur an Oberflächen. Angesprochene Themen wären in ihrer Reichweite nur in umfangeichen Büchern zu würdigen. Robert N. Bellah hat nach eigenen Angaben an seiner phänomenalen, in der deutschen Ausgabe fast 900 Seiten umfassenenden Darstellung des Ursprungs der Religion 16 Jahre gearbeitet und musste seine Arbeit aus Altersgründen auf halbem Weg abbrechen (Robert N. Bellah: Der Ursprung der Religion. Vom Paläolithikum bis zur Achsenzeit. Freiburg 2021. Original: Robert N. Bellah: Religion in Human Evolution. From the Paleolithic to the Axial Age. Cambridge Mass. 2011). Umfang und Komplexität der Themen, die auch äußerst gebildeten Autoren wie Bellah große Schwierigkeiten bereiten, gebieten Demut und Bescheidenheit.
 
Im Post formulierte Aussagen haben oftmals spekulativen Charakter und beschreiben keine objektive Realität. Da sicheres Wissen über Realität nicht möglich ist, sind beschriebene Zusammenhänge als Modelle aufzufassen, die Verständnisse von Realität ermöglichen, aber nicht behaupten und abweichende Verständnisse von Realität nicht ausschließen.
 
 
2 Annahmen universaler struktureller Prinzipien der Realität
 
Annahmen dieses Kapitels besagen, dass 
  • Perspektiven unterschiedlich geordneter Denkmodelle zu unterschiedlichen Erklärungen biographischer Muster gelangen,
  • Biographien zwar auf universalen biologischen Gesetzmäßigkeiten beruhen, aber aufgrund kultureller Varianten eine reiche Vielfalt ausprägen,
  • unendliche Variationen der Vielfalt aus kontingenten Bedingungen resultieren,
  • Denkmodelle des Alltagsdenkens auf biologisch determinierten Denkmustern beruhen, 
  • Beschränkungen des Alltagsdenkens mit Hilfe von Denkmodellen 2. Ordnung sichtbar werden,
  • Grenzen biologisch determinierter Denkmuster 1. Ordnung von Denkmustern 2. Ordnung durchbrochen werden können.
Ein zugegeben grobkörniges abstraktes Modell erklärt Prinzipien der Entstehung und Variation biologischer und kultureller Ordnung auf Basis einer Reihe von Grundannahmen, die Kapitel 2.1 vorstellt.
 
 
2.1 Komplexität, Chaos, Kontingenz, Ordnung, Kausalität, Leben
 
Ob und in welchem Umfang Aussagen über Komplexität, Ordnung (systematische Strukturen), Kausalität, Kontingenz, Chaos, LebenEvolution für die gesamte materielle Welt einschließlich organischer Systeme gelten, ist unsicher. 
  • Evolution verläuft ohne Ziel oder Richtung. Annahmen von Orthogenese im Sinne eines aktiven Trends zunehmender Komplexität durch innere treibende Kräfte gelten bezüglich der biologischen Evolution als widerlegt. Zunehmende Komplexität betrifft nur einen kleinen und abnehmenden Anteil aller Lebewesen (siehe Wikipedia: Entwicklung biologischer Komplexität).
    Bezüglich kultureller Evolution scheint zunehmende Komplexität von zunehmend verdichteten Lebensräumen sowie vom zunehmenden Wissensvorrat über empirische Phänomene verursacht zu sein.
  • Leben ist umgeben von einer kontingenten Welt. Kontingenz ist nicht immer spontan erkennbar und zeigt sich oft erst bei genauerer Betrachtung.  
  • Kontingenz erzeugt Zustände, die möglich sind, aber mangels erkennbarer Kausalität nicht notwendig, sondern zufällig auftreten.
  • Kontingenz im Sinne von Zufallsereignissen resultiert aus Komplexität der Realität. 
  • Komplexität von Zusammenhängen der Realität ist nur in engen Grenzen kausal verständlich.
  • Von Kontingenz erzeugte Zustände werden im Alltagsdenken als Chaos im Sinne vollständiger Unordnung wahrgenommene. Tatsächlich handelt es sich um Zustände mit begrenzter Vorhersagbarkeit. 
  • Chaos ist prinzipiell lebensfeindlich. Trotzdem sind in evolutionären Prozessen komplex organisierte Lebensformen entstanden, deren Funktionsfähigkeit ein Minimum an Ordnung ihrer Umgebung voraussetzt.
  • Leben organischer Systeme der uns bekannten Art benötigt ein nicht genau bestimmbares bzw. über organische Lebensformen variierendes Maß an Ordnung, um Funktionsfähigkeit des Organismus zu ermöglichen, eine regelmäßige Energieversorgung zu gewährleisten, relativen Schutz vor Feinden zu bieten, Reproduktion zu gestatten.
  • Da komplexe Organismen im Chaos nicht überleben können, haben sie evolutionär interne organische sowie auf die Umwelt bezogene ordnungsstiftende Mechanismen herausgebildet, die Überleben ermöglichen.
  • Neurobiologische Mechanismen der Ordnungsstiftung erzeugen in höheren Formen des Lebens als Kohärenzsystem bezeichnete mentale Ordnungsstrukturen. Kohärenzsysteme ordnen Sinneswahrnehmung hinsichtlich Verstehbarkeit, Handhabbarkeit, Sinnhaftigkeit mittels Kategorisierung und Kausalattribuierung. (Rainer M. Holm-Hadulla: (Neuro-)Biologie der Kreativität: Strukturaufbau und Strukturabbau)
  • Kognitive Kompetenz höherer Art (Intelligenz) verfügt über Lernfähigkeit. Diese besteht aus den Prozessschritten
    • Übertragung mentaler Ordnungsstrukturen auf Deutungsmuster des Wahrnehmungssystems,
    • Bildung von Kognitionsmustern gemäß regulatorischem Kohärenzsystem,
    • Speicherung von Kognitionsmustern.
  • Mentale Ordnungsmuster und Ordnungskonstrukte der Lebensumgebung beeinflussen sich wechselseitig.
    • Kognitive Kompetenz verhilft zur Übertragung kategorialer mentaler Ordnungsmuster des regulatorischen Kohärenzsystems auf kulturelle Ordnungskonstrukte von Lebensumgebungen.
    • Internalisierungsprozesse transformieren kulturelle Ordnungskonstrukte von Lebensumgebungen in mentale Ordnungsmuster.
  • Individuelle Biographien und ihre mentalen Zustände entstehen aus Vermengungen von universalen biologischen Gesetzmäßigkeiten mit Kontingenzen ihrer Lebensumgebung:
    • Ökosysteme,
    • räumliche Umgebung,
    • Kulturmuster,
    • individuelle Ereignisse wie Geburt, zwischenmenschliche Beziehungen, Tod, Erbschaft etc.,
    • individuelle Fähigkeiten, Chancen, Risiken.
  • Interagierende Individuen gestalten ihre Lebensräume als funktionale soziale Systeme. Unterscheidbare soziale Systeme haben unterschiedliche Ordnungsstrukturen.
  • Trotz universaler biologischer Gesetzmäßigkeiten übt Kontingenz von Lebensumgebungen permanenten Anpassungsdruck aus, der dem immer wieder neue Varianten kultureller Muster, sozialer Systeme, mentaler Ordnungssysteme, individueller Biographien erzeugt.
 
2.2 Ordnung der materiellen Welt
 
Leben ist umgeben von einer kontingenten Welt. Kontingenz im Sinne von Zufallsereignissen resultiert aus Komplexität resp. aus Chaos der Realität. Kontingenz ist nicht immer spontan erkennbar und zeigt sich oft erst bei genauerer Betrachtung. 
 
Kausalität liegt vor, wenn Ereignisse unter definierten Bedingungen vorhersagbar sind. Kausalität ist nur bei einer begrenzten Menge kontrollierbarer Bedingungen nachweisbar. In der Realität entstehen empirische Ereignisse teilweise unter derart komplexen Bedingungen, dass kausale Zusammenhänge nicht erkennbar sind und die Realität als kontingent und chaotisch wahrgenommen wird. 
 
Ob Kausalität ein Naturgesetz ist oder Chaos und Kontingenz tatsächlich real sind, ist unsicher. Möglicherweise ist die Wahrnehmung von Chaos und Kontingenz lediglich eine Folge eingeschränkter menschlicher Wahrnehmungsfähigkeit. Mit der Zunahme von Wissen durch Wissenschaft scheint jedoch die Menge nicht bekannten Wissens größer zu werden. Da wir nicht wissen, was wir nicht wissen, sind endgültige Aussagen über Naturgesetze unmöglich und daher Kontingenz und Chaos als mögliche Zustände von Welt zu akzeptieren.
 
Ein Beispiel für kontingente Ereignisse sind Wetterphänomene, die nur kurzfristig vorhersagbar sind und von Prognosen mehr oder weniger abweichen. Die Verlässlichkeit längerfristiger Wettervorhersagen nimmt über Zeit exponentiell ab. Trotzdem sind relativ stabile langfristige Wetteränderungen erkennbar, die als Klima bezeichnet werden. Klima umfasst komplexe Dynamiken und relativ stabile meteorologische Symptome auf der Basis von Modellen, die keine Kausalerklärungen darstellen. Langzeit-Betrachtungen sind schwer einzuordnen. Genauer betrachtet ist Klima lediglich ein Konstrukt von über Jahrzehnte oder über Jahrhunderte gemittelten Beobachtungen empirischer Wetterphänomene und ihren Auswirkungen.
 
Andererseits sind relativ stabile feuchte oder aride, kalte oder warme Regionen und deren langfristige Veränderungen empirisch nachweisbar. Da Interaktionen zwischen Wetter, Klima, materiellen Lebensbedingungen und kulturellen Veränderungen mit physikalischen Gesetzmäßigkeiten nur unvollständig erklärbar sind, handelt es sich offensichtlich um nicht verstandene und daher nicht vorhersagbare komplexe Prozesse höherer Ordnung. Komplexe Modelle beruhen auf mathematischen Methoden wahrscheinlichkeitstheoretischer Berechnungen von Veränderungen. Mathematische Aussagen über mögliche Zustände von Welt sind keine Aussagen über empirische Zustände von Welt. Kontingenz verursacht Schwankungsbreiten resp. Streuungen von Aussagen mathematischer Modelle.
 
Mit wachsender Menge an der Entstehung empirischer Ereignisse beteiligter Bedingungen nimmt wahrnehmbares Chaos zu. Chaos verteilt sich über die Welt prinzipiell nicht homogen, sondern kann Cluster bilden, was Klima und Wetter exemplarisch zeigen. In stabilen Klimazonen sind Wetterphänomene ebenfalls relativ stabil. Chaos bleibt weiter möglich, nimmt aber ab oder beschränkt sich auf begrenzte Zeiträume. 
 
Ein anderes Beispiel bietet Plattentektonik. In Bruchzonen ist Chaos deutlich größer als außerhalb von Bruchzonen. Ähnliche empirische Beobachtung gelten für geopolitische Räume. Labilität und Stabilität geopolitischer Räume entstehen aus kausal nicht erklärbaren Gemengelagen komplexer Bedingungskonstellation, über die Chaos variiert. 


2.3 Schichtenmodell menschlicher Denk- und Verhaltensweisen
 
Carel von Schaik, Evolutionsbiologe und Anthropologe, und Kai Michel, Historiker und Literaturwissenschaftler, schlagen in ihrer Veröffentlichung Das Tagebuch der Menschheit. Was die Bibel über unsere Evolution verrät (Reinbek bei Hamburg 2016, S. 28ff.) ein Schichtenmodell drei kumulativ aufeinander aufbauender menschlicher Denk- und Verhaltensweisen vor, die sie als Naturen bezeichnen und von denen sie annehmen, dass sie das Repertoire an Handlungsoptionen ständig erweitern, aber auch Konflikte erzeugen: 
  1. Biologische Natur: Angeborene Emotionen, Instinkte, Bedürfnisse
    haben sich in der biologischen Evolution in gleichartiger Art und Weise genetisch verankert entwickelt und werden daher von allen Menschen geteilt. Subjektiv vermittelt sich diese instinktive biologische Natur als selbstevidentes 'Bauchgefühl'.
  2. Individuelle Prägung durch unbewusste kulturelle Natur
    Menschen erzeugen mit kultureller Evolution kumulativ weitgehend ritualisierte Handlungsmuster im Sinne von Alltagspraktiken und verankern diese im kollektiven Gedächtnis als Kollektivbewusstseins über Sitten, Gebräuche, Überzeugungen. Die soziale Vererbung dieser Handlungsmuster erzeugen Mechanismen individueller Enkulturation (-> Post Kapitel 4.1).
    Kulturell entwickelte und vererbte Verhaltensmuster ermöglichen Kooperation, indem sie instinktives Verhalten der biologischen Natur auch gegen Unlust einhegen und Verhaltenssicherheit herstellen. Allerdings prägen sich in räumlich, zeitlich, ethnisch, sozialstrukturell unterscheidbaren Populationen unterschiedliche kulturelle Naturen aus, die als Diversität kulturelle Grenzen menschlicher Kollektive markieren. Kulturelle Grenzen machen die Zugehörigkeit zu Kollektiven erfahrbar.
    Regeln pragmatischer Vernunft vermitteln innerhalb kultureller Grenzen angemessene Verhaltensweisen. Regeln ermöglichen soziale Kontrolle von Verhaltenspraktiken und legitimieren Bestrafungen ungehörigen Verhaltens. In diese Kategorie von Verhaltensmustern fallen von Menschen erdachte spirituelle, sakrale, esoterische Vorstellungen und Praktiken.
    Variierende Denk- und Verhaltensmuster kultureller Natur entsprechen Pierre Bourdieus Konzept von Habitus (sozial vererbtes und individuell angeeignetes kulturelles System selbstverständlicher Verhaltensdispositionen). Unter gleichartigen kulturellen Bedingungen lebende Menschen teilen ihren Habitus und identifizieren sich wechselseitig als kulturell zusammengehörig. Fremdartig Verhaltensmuster externer Kulturen werden als fehlerhaft wahrgenommen. (-> Post Kapitel 4.1.3 und 7.1.3)
  3. Bewusste kulturelle Natur: rationale Vernunft
    entsteht, wenn kumulativ erzeugte kulturelle Verhaltensmuster pragmatischer Vernunft konkurrierend aufeinandertreffen und sich aufgrund von Vergleichen ihrer Leistungsfähigkeit wechselseitig anreichern, womit nicht gesagt ist, dass interkultureller Austausch grundsätzlich freiwillig und friedlich stattfindet.Rationale Kulturmustern können als Regeln oder Normen institutionalisiert und indoktriniert sein, aber sie bleiben überwiegend äußerlich. Gesetzte und Regeln bewirken nicht zwangsläufig Konformität und Compliance von Verhalten und können ungesetzliches, unehrliches, betrügerisches, sozial schädigendes Verhalten nicht vollständig sowie im Fall kollektiver Güter prinzipiell nur eingeschränkt verhindern (-> Post Kapitel 6.7).
    • Wenn Vernunftnatur der biologischen Natur widerspricht, erzeugt sie Unlust.
    • Wenn sich Vernunftnatur mit der kulturellen Natur reibt, erzeugt sie individuelle Schuldgefühle oder Konflikte.  
Allerdings entstehen in der kulturellen Evolution zugleich auch Fehlanpassungen, die als Mismatch-Phänomone bezeichnet werden. Mismatch-Phänomone erzeugen individuell Emotionen der Unlust und Schuldgefühle sowie kollektiv Risiken politischer und sozialer Art.


2.4 Denkordnungen
 
Leben ist ohne Verständnisse von Realität der uns umgebenden Welt nicht möglich. Verständnisse von Realität entstehen mit Hilfe von Methoden des Denkens 1. Ordnung (Alltagsdenken) und der 2. Ordnung (wissenschaftliches Denken).  
 
Wissenschaftliches Denken erschließt komplexe Zusammenhänge von Denkordnungen und evoziert die Erkenntnis, dass Alltagsdenken 1. Ordnung auf universalen biologischen Mechanismen des Wahrnehmungsapparates beruht. Diese verhindern, dass deterministische Prägungen nicht erkannt werden und erzeugen im Bewusstsein 
  • Wahrnehmungen eigener Kompetenz und Autonomie als individuelle Fähigkeiten,
  • Illusionen subjektiver Einzigartigkeit,  
  • Verständnisse vermeintlich objektiver Realität, Kausalität und Sinnhaftigkeit.
Abgesehen von pathologischen Zuständen und relativ gering variierenden Genmustern sind biologische Strukturen und Prozesse menschlichen Denkens funktional einheitlich organisiert. Erst komplexe systemische Zusammenhänge erzeugen eine große Vielfalt kultureller Muster und individueller Denkweisen:
  • Fähigkeiten kognitiver Kompetenz ermöglichen als Kultur aufgefasste Gestaltungen von Lebensbedingungen. 
  • Randbedingungen des Lebens bewirken anzutreffende Variationen von Kulturmustern.
  • Kulturmuster variieren individuelle kognitive Muster (Denkmuster). 
  • Unterschiedliche Denkmuster bewirken, dass objektiv gleichartige Sachverhalte und Ereignisse subjektiv unterschiedliche Wahrnehmungen und Erinnerungen evozieren. 
  • Aufgrund dieser systemischen Prozesse erleben sich Menschen als Selbst und können mentale Zustände anderer Menschen empathisch nachvollziehen.
Verständnisse der Bedeutung von Bewusstsein und Kultur vertiefen die beiden kürzlich veröffentlichten Posts Was ist Bewusstsein? und Was ist Kultur?.
 
 
2.4.1 Alltagsdenken (Denken 1. Ordnung)
 
Überleben und Reproduktion erfordert pragmatisches Denken, das sich im Alltagsdenken ausprägt und Methoden 1. Ordnung nutzt. Denken 1. Ordnung umfasst sowohl unbewusste Wahrnehmungs- und Deutungsmechanismen als auch bewusste, assoziativ und spontan stattfindende, auf Vergleichen von Mustern beruhende analoge Prozesse des kognitiven Apparates.
 
Alltagsdenken ist die im sozialen Raum vorherrschende Denkweise. Die Verwissenschaftlichung des Alltagsdenken findet in Sozialwissenschaften und der Philosophie (Liebe zur Weisheit) statt. Deren Disziplinen untersuchen und erklären Aspekte von Strukturen, Prozessen, Funktionen der Wahrnehmung und des Verhaltens einzelner Individuen sowie Zusammenhänge sozialer Verflechtungen zwischen Individuen.
 
Alltagsdenken nutzt Methoden 1. Ordnung, die mit begrenzten Ressourcen ein Überleben unter prekären Bedingungen ermöglichen, indem sie mittels Vereinfachungen und Filtervorgängen ein vermeintlich konsistentes Bild der Realität konstruieren, das schnelle Urteile (Entscheidungen) erlaubt, um pragmatische Handlungsfähigkeit herzustellen. Methoden 1. Ordnung basieren auf einer Reihe ohne Richtung und Ziel im Prozess der Evolution biologisch programmierter kognitiver Heuristiken:
  • Kohärenzzwang erzeugt Kohärenzbedürfnisse. Diese motivieren zur Herbeiführung mentaler Zustände, die als kohärent empfunden werden (verstehbar, handhabbar, nützlich, sinnhaft) sowie zur Abwehr von Zuständen, die dem Kohärenzbedürfnis widersprechen.
  • Das Kohärenzbedürfnis bevorzugt soziale Kontakte, die emotionale Zustände von Kohäsion erzeugen.
  • Entscheidungs- und Verhaltenssicherheit fördern heuristische Mechanismen, die praktikable Handlungsoptionen bei begrenztem Wissen und begrenzter Zeit herstellen:
    • Ordnungen zweiwertiger Kategorisierungen (wahr vs. unwahr, richtig vs. falsch, gut vs. böse, essbar vs. nicht essbar, Freund vs. Feind etc.) wahrgenommener Phänomene ermöglichen schnelle Entscheidungen.
    • Kausalattribuierung (Annahmen unmittelbarer Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge zwischen empirischen Phänomen) bezeichnet vermeintliche Ursachen wahrgenommener Phänomene. Kausalität beruht auf vermeintlichem Wissen bzw. Erfahrungen und erwartet, das Gleiches dieselbe Ursache hat.
    • Vorurteilen und Stereotypen (ungeprüft angewendete gespeicherte Bewertungsmuster) sowie kognitive Verzerrungen (in Lebenspraxis bewährte systematische Denk- und Wahrnehmungsfehler) erzeugen Verhaltenssicherheit mittels Beurteilungsautomatismen. (FAZ: Psychologische Biases)
Tendenzen der Systematik des Alltagsdenkens:
  1. Wahrnehmungsmuster analogen Alltagsdenkens beruhen auf naivem Realismus, der eigene Wahrnehmung als objektive Sachverhalte auffasst, von denen implizit angenommen wird, dass andere Menschen sie teilen. 
  2. Alltagsdenken nimmt an, dass evolutionäre Prozesse zielorientiert entweder in Richtung einer eschatologischen Endzeit oder als unendlicher Fortschritt verläuft.   
  3. Denkprozesse zeichnen sich durch Selbstverständlichkeit und Automatismen aus und erklären, was man sieht und was man denkt. Da Selbstreflexion und kritische Distanz zur eigenen Wahrnehmung unüblich sind, können 'Denkfallen' entstehen, die aber erst erkannt werden, wenn erwarteter Nutzen sich nicht einstellt oder Schaden auftritt.
  4. Deutungsmuster des Alltagsdenkens betrachten die Welt unter Aspekten von Nützlichkeit oder Praxistauglichkeit ideologisch, d.h. mit vorgefertigten Vorstellungen und Ideen, die Wertepluralismus und Toleranz nur in engen Grenzen bekannter und akzeptierter Rahmen zustimmen. Die Bereitschaft zum Ertragen von Widersprüchen ist gering. 
    • Gewöhnlich gelten mit individuellen Ansichten und Vorlieben harmonierende Sachverhalte als richtig bzw. 'normal' und als Bestätigungen vorgefertigter Weltanschauungen. 
    • Das Bedürfnis eines positiven Selbstbilds verbucht günstige Resultate von Handlungsaktvitäten als Erfolge eigener Fähigkeiten und Leistungen und schreibt ungünstige Ergebnisse Fremdverschulden zu.
    • Von Ansichten und Vorlieben deutlich abweichende Werte und Verhaltensmuster stoßen auf ein breites Spektrum der Ablehnung, das von Ignoranz über Misstrauen bis zu massiver Bekämpfung reichen kann.
    • Erklärungen sozialer Phänomene resultieren aus politisch, religiös, spirituell konnotierten dogmatisch-fundamentalistischen Anschauungen einer Realität, die scheinbar dichotomisch in Paaren von Gegensätzen organisiert ist (Freund vs. Feind, gut vs. schlecht, nützlich vs. unbrauchbar, Nutzpflanzen/Unkraut, Nutztiere vs. Ungeziefer/Schädlinge etc.). 
    • Weil Komplexität und Kontingenz unverstanden bleiben, werden prozesshafte empirische Phänomene mit Hilfe vereinfachender Konstrukte vermeintlich kausaler Linearität erklärt.  
    • Außerhalb eigener Verständnisfähigkeiten liegende Sachverhalte werden ausgeblendet oder marginalisiert.
    • Rational nicht nachvollziehbaren Phänomenen der Realität wird Kausalität zugeschrieben, indem Ursachen des Auftretens dieser Phänomene mit universalen Gesetzmäßigkeiten oder transzendenten Mächten erklärt wird.

2.4.2 Wissenschaftliches Denken (Denken 2. Ordnung)
 
Wissenschaftliches Denken wechselt vom Was zum Wie. Es erklärt nicht Inhalte von Wahrnehmung und Denkprozessen (was), sondern auf welche Art und Weise (wie) Inhalte zustande kommen. Diese Denkweise bezieht sich nicht ausschließlich auf Fremdbeobachtung, sondern kann sich auch selbstreflexiv auf sich selbst beziehen.
 
Wissenschaftliche Methoden beruhen auf analytischem Denken 2. Ordnung, wenn sie rational begründbare modellhafte Erklärungen von Realität entwickeln, die sich in empirischen Überprüfungen bewähren müssen. Durch Vergleiche mit konkurrierenden Modellen kann die Leistungsfähigkeit von Erklärungen reifen, ohne Realität jemals als gültig erklären zu können. Methoden 2. Ordnung verstehen Methoden 1. Ordnung als nützliche Illusionen und erklären deren Nützlichkeit, Entstehung, Persistenz sowie deren Mechanismen. 
 
Wissenschaftliches Denken ist sich bewusst, dass 
  1. evolutionäre Prozesse kein Ziel haben und ungerichtet verlaufen,
  2. Wahrheit nur in formaler Logik möglich ist und hinsichtlich Realität auf Überzeugungen beruht, deren Gültigkeit nicht bewiesen werden kann,
  3. gültige Aussagen über mentale Zustände prinzipiell nur für den eigenen Zustand möglich sind,
  4. Komplexität von Realität nur unvollständig verstehbar ist,
  5. Komplexität nicht vorhersagbare kontingente Ereignisse erzeugt,
  6. Wissensvorräte endlich sind und Irrtümer enthalten,
  7. die Menge nicht bekannten Wissens mit zunehmendem Wissensvorrat zu wachsen scheint,
  8. Verständnisse von Realität auf sozialen Konstrukten beruhen, die sich über Zeit ändern,
  9. soziale Konstrukte keine objektive Realität beschreiben, sondern auf Konsens beruhen und unter Bedingungen von Komplexität und Kontingenz variieren,
  10. zur Frage der Beschaffenheit und Erkenntnisfähigkeit von Realität unterschiedliche Auffassungen konkurrieren, von denen keine alleinige Gültigkeit beanspruchen kann. Verbreitet ist die Position des Kritischen Realismus (KR). Diese nimmt an, dass
    1. eine vom Denken unabhängige Realität existiert,
    2. Realität prinzipiell dem Denken zugänglich ist,
    3. sicheres Wissen über Realität nicht möglich ist und daher Aussagen über Realität auf Annahmen resp. Vermutungen beruhen (weshalb Beschreibungen von Zusammenhängen als Modelle oder Theorien bezeichnet werden).
 
 2.4.3 Kritisch-rationales Denken
 
Unter Positionen erkenntnistheoretischen Denkens besetzt Kritischer Rationalismus (KR) eine optimistische ethische Haltung, die eine Position zwischen Dogmatismus bzw. Fundamentalismus einerseits und Relativismus andererseits einnimmt. KR deklariert Bedingungen, unter denen alltägliche, soziale, wissenschaftliche Probleme undogmatisch, methodisch und rational untersucht und verbessert werden können. Die Position des KR basiert auf Prinzipien von Versuch und Irrtum, die mittels Kritik an Beobachtungen und Überprüfungen zu neuen, verbesserten Erkenntnissen und Problemlösungen gelangt. Angemerkt sei, dass der Begriff Rationalität mit strittigen Mustern von Wertvorstellungen besetzt ist (Wikipedia: Rationalität).


3 Funktionalistische Erklärungen
 
Modelle erklärungsbedürftiger sozialer Phänomene argumentieren i.d.R. funktionalistisch. Perspektiven funktionalistischer Modelle argumentieren auf unterschiedlichen Erklärungsebenen:
  • Modelle der Mikroebene erklären Verhalten individualistisch mit Hilfe biologischer, psychologischer, sozialpsychologischer Annahmen als handlungstheoretische Konzepte.
  • Modelle der Makroebene erklären in sozialen Kollektiven ausgeprägte Verhaltensmuster mit ihrer funktionalen Notwendigkeit für die Persistenz sozialer Systeme. Variierende Ausprägungen zwischen sozialen Bedingungskonstellationen und als Religion verstandenen Verhaltensmustern funktionaler Teilsysteme bilden Erklärungsgegenstände für Religionssoziologie
  • Ohne Vertiefung sei erwähnt, dass Religion aufgrund dieser beiden Sichtweisen zugleich ein Brückenelement der Verknüpfung von Erklärungen der Mikro- und Makroebene bildet.  
Funktionalistische Modelle enthalten sich ethischer Wertungen und erklären i.d.R. weder Prozesse der Entstehung sozialer Phänomene noch Besonderheiten, spezielle Eigenschaften und Abgrenzungskritierien und erfordern daher Ergänzungen. 
 
Aus funktionaler Perspektive ist Religion ein Konsens stiftendes ubiquitäres normatives System von Überzeugungen und Praktiken, dessen Ausprägungen aufgrund von Interaktionen mit inhaltlich kontingenten kulturellen Kontexten breit variieren. (-> Wikipedia: Religionsdefinition.Funktionalistischer Religionsbegriff) Nachfolgende Anmerkungen skizzieren methodische Probleme dieser Sichtweise.
  • Individualistische Konzepte erklären Strukturen und Prozesse sozialer Systeme funktional aus der Perspektive individueller Akteure und verstehen soziale Systeme als von Menschen kooperativ organisierte Funktionen der Systemerhaltung. Da sich soziale Systeme nicht selbst konstruieren, sondern durch kooperierenden individuellen Akteuren zustande kommen, ist die Berechtigung dieser Perspektive nicht von der Hand zu weisen.
  • Aufgrund der Beobachtung, dass individuelle Akteure nur scheinbar eigenmotiviert handeln und in der Realität von kulturellen Einflüssen geprägt sind, die unbewusst Motivationen individueller Akteure prägen, sind ebenso Makromodelle funktionaler Erklärungen berechtigt. Makromodelle betrachten universale soziale Phänomen aus der Perspektive von Systemanforderungen. Sie nehmen an, dass Makrosysteme Nutzen erzeugende Subsysteme hervorbringen und diese individuelle Motivationsstrukturen modellieren. 
  • Wenn beide Perspektiven Gültigkeit beanspruchen können, aber Systeme über kein Bewusstsein ihrer selbst als handelnde Akteure verfügen, stellt sich die Frage, wie Verknüpfungen zwischen Mikro- und Makroperspektiven zustande kommen. Soziologie bleibt die Beantwortung dieser Frage weitgehend schuldig. Iterative kybernetische Modell versuchen diese Lücke relativ erfolglos zu schließen. Notwendiger Streit zwischen Vertretern aller Lager erzeugt bisher kaum oder nur kleine Früchte.
    Dieses Defizit ist kein Privileg soziologischer Wissenschaft. In Naturwissenschaften bestehen innerhalb von Mikro- und Makroperspektiven ebenfalls große Lücken. Noch viel größer sind nicht überbrückbare Lücken zwischen Erklärungen der Mikro- und Makroperspektive.   
    Andere Wissenschaftszweige wie Geschichtswissenschaften, Psychologie, Medizinwissenschaften etc. kapitulieren in Anbetracht der Komplexität ihrer Felder und fokussieren Erklärungen auf generische Kausalmodelle mit zweifelhafter Relevanz.
    Unzulänglichkeiten wissenschaftlicher Erklärungen bleiben innerwissenschaftlichen Diskussionen vorbehalten. Nach außen wird ein weniger seriöses Bild vermittelt, das Wissenschaften als Strategie auf einem Fortschrittsweg darstellt, der Lösungen für Weltprobleme entwickelt.  

4 Wie gehen biologische Systeme mit Komplexität, Chaos, Kontingenz um?
 
Leben entsteht und existiert nur in Umgebungen mit einer minimalen und relativ stabilen Ordnung. Verschiedene Umgebungen bringen allerdings verschiedene Arten von Leben hervor, die zwar eine begrenzte Anzahl von Grundmustern teilen, diese aber in unterschiedlichen Ausprägungen variieren, z.B.: 
  • Wassertiere, Landtiere oder im Wasser und/oder auf Land lebende Tiere
  • bilateralsymmetrische Tiere vs. keine Symmetrie aufweisende Tiere mit Hohlkörpern
  • eingeschlechtliche vs. zweigeschlechtliche Fortpflanzung  
  • embryonale Entwicklung im Körper von Muttertieren vs. außerhalb von Körpern in Eiern
  • Zweibeinigkeit (Bipedie) vs. Vierbeinigkeit (Tetrapoden) vs. Gliederfüßer mit 6 oder mehr Beinpaaren
  • flugfähige vs. nicht flugfähige Tiere
  • usw.
Evolution findet nicht zielgerichtet statt, sondern verläuft kontingent. Kontingenz variiert über Lebensräume, tritt aber auch innerhalb von Lebensräumen auf. Daher entstehen trotz identischer oder ähnlicher funktionaler Anforderungen organischen Lebens und ähnlicher Bedingungen von Lebensräumen Variationen organischen Lebens. Jede diese konkreten Ausprägungen organischen Lebens hat Vor- und Nachteile, die sich Bedingungen ihrer Umgebungen besser oder schlechter anpassen und via evolutionärer Selektionsmechanismen verändern.
 
 
4.1 Vulnerabilität und Widerstandsressourcen von Leben

Da lebende biologische Systeme über einen Stoffwechsel verfügen, der Energie, Sauerstoff und Wasser verbraucht und eingeschränkte Temperaturbedingungen benötigt, sind sie von einer kontinuierlichen Versorgung und relativ konstanten Umweltbedingungen abhängig, die Existenzbedingungen biologischer Systeme prekär gestalten. Um unter prekären Bedingungen überleben zu können, haben biologische Systeme  evolutionär Anpassungsmechanismen entwickelt. Hierzu aus einer unüberschaubaren Menge an Phänomenen eine Auswahl von Beispielen:
  • Laubbäume werfen im Herbst Blätter ab und regenerieren im Winter.
  • Zugvögel verlassen über den Winter ihr Brutgebiet und fliegen weite Strecken in nahrungsreiche Zonen. 
  • Fischschwärme folgen nährstoffreichen klimatisch regulierten Meeresströmungen.
  • Einige Tierarten gehen in den Winterschlaf, in dem ihr Stoffwechsel bis auf eine Minimum reduziert ist.
  • Andere Tierarten legen Nahrungsvorräte an, die Überleben im Winter sichern.
  • Menschen bilden bei Nahrungsüberfluss ganzjährig Fettreserven, mit denen sie ehemals in Mangelzeiten überlebten. In der Gegenwart verkürzen ständige größere Fettreserven das Leben.
Wenn Leben in einer chaotischen Umgebung prinzipiell prekär ist, sind Prozesse des Lebens prinzipiell vulnerabel. Dass Leben, dessen Reproduktion und evolutionäre Entwicklung möglich sind, ist generalisierten Fähigkeiten zu verdanken, die als Widerstandsressourcen Vulnerabilität reduzieren, zur Bewältigung von Stressoren verhelfen, Anpassungsfähigkeiten verstärken, Lebensräume verbreitern und damit Erfolgsfaktoren der Ausbreitung einer Art sind. Widerstandsressourcen bleiben ein Leben lang formbar. Grundlagen ihrer Stärke entwickeln sich in der Sozialisation.
 
 
4.2 Wahrnehmung, Bewusstsein, Regulierung mentaler Zustände lebender Systeme

Höhere Tierarten, zu denen auch Menschen zählen, haben über Fähigkeiten zur Regulierung materieller Ressourcen hinaus evolutionär auf kognitiver Kompetenz basierende generalisierte Fähigkeiten entwickelt, die immaterielle Ressourcen der Überlebensfähigkeit erschließen. Hierzu zählen u.a. Lernfähigkeit und Erinnerungsvermögen, Kommunikation und Kooperation, mentale Fähigkeiten der Bewältigung psychischer Belastungen, Störungen, Traumata.
 
Unter chaotischen Bedingungen und einer unüberschaubaren Menge Entscheidungsparametern sind Entscheidungen nur möglich, wenn der Wahrnehmungsapparat die Menge potentieller Entscheidungsparameter mittels unbewusster Filtermechanismen der Wahrnehmung drastisch reduziert und gleichzeitig Wertigkeiten relevanter Entscheidungsoption vorbelegt. In modellhaften wissenschaftlichen Vorstellungen sind Wahrnehmungsfilter als kategoriales Denken, Kausalattribuierung, Stereotype, Vorurteile bekannt und mit Instrumenten der Sozialpsychologie nachweisbar. 

Im wachen Zustand trifft der kognitive Apparat pausenlos Entscheidungen, die Menschen oft nicht bewusst werden. Algorithmen unbewusster Wahrnehmung funktionieren schematisch auf Basis von Vergleichen mit Mustern gespeicherter kognitiver Strukturen. Schematische Algorithmen haben den Vorteil, schnelle Entscheidungen zu ermöglichen. Schnelle Entscheidungen sind nicht immer die besten. Zugrundeliegende Annahmen können durchaus objektiv falsch sein, aber darauf kommt es nicht an, weil es ausschließlich um Nützlichkeit geht. Nützlich sind Entscheidungen dann, wenn sie Entscheidungsziele realisieren und Überleben ermöglichen.
 
Im Kontext komplexer Entscheidungen sind kognitive Mechanismen beteiligt, die als bewusste Erkenntnisse wahrgenommen werden. Wie Bewusstsein es schafft, Sinneswahrnehmungen (abgesehen von pathologischen Zuständen) so zu integrieren, dass ein Selbst mit dem Gefühl entsteht, nicht viele Personen, sondern eine einheitliche Person zu sein und nicht in vielen Welten, sondern in einer einheitlichen Welt zu leben, ist ein ungelöstes wissenschaftliches Rätsel. Wahrscheinlich handelt es sich um eine durch neurophysiologische Prozesse erzeugte Illusion. Bewusstseinsstörungen wie Schizophrenie oder bipolare Störungen beruhen vermutlich auf Funktionsstörungen dieser mentalen Mechanismen. Phänome der Ich-Illusion beschreiben verlinkte Artikel:
Dank eines illusionär erzeugten Selbst vermögen komplexe Organismen von Menschen und höheren Tierarten offenbar unendlich chaotische biochemische Prozesse in Interaktionen mit einer noch komplexeren und chaotischeren Umwelt zu regulieren. Neurophysiologisch ist anzunehmen, dass Regulationsprozesse von genetisch codierten Kohärenz erzeugenden neurobiologischen Mechanismen gesteuert werden. Als Trigger dieser Prozesse werden intrinsische psychische Grundbedürfnisse nach Verstehbarkeit, Sinnhaftigkeit, Angstreduzierung angenommen. Diese Grundbedürfnisse regulieren individuelle Wahrnehmungsprozesse. Dieses beziehen sich nach Innen auf das Selbst und nach außen auf Lebensräume (soziale Gruppen, Symbolsysteme, abstrakte Glaubenssysteme). Der Post Pathogenese vs. Salutogenese oder die Verwandlung von Chaos in mentale Ordnung streift in mehreren Kapiteln Aspekte des Kohärenzsystems.
 
Zusammenhänge zwischen mess- und darstellbaren Stoffwechselprozessen auf der Molekularebene einerseits sowie mentalen Zuständen des individuellen Bewusstseins andererseits bilden unter dem Einfluss von Kultur ein komplexes, analytisch schwer durchdringbares vernetzt interagierendes Bedingungsgeflecht. Koppelungen elementarer neurophysiologischer Mechanismen mit kognitiven Strukturen erzeugen Systeme, die ihre Dynamik aus selbst kreierten bzw. konstruierten Bedürfnissen speisen. Selbstregulierende mentale Systeme bilden Voraussetzung für die Entwicklung kultureller Lebensräume. Modellhaft vereinfachend können diese Zusammenhänge wie nachfolgend aufgefasst werden:
  • Primäre Bedürfnisse resultieren aus unmittelbaren biologischen Lebensanforderungen, wie sie Ernährung, biologische Reproduktion, soziale Selektion, Kooperationsanforderungen etc. darstellen. Primäre Bedürfnisse werden von unbewussten Mechanismen reguliert.
  • Auf der Bewusstseinsebene werden unbewusste biochemische Prozesse als emotionale und motivationale Impulse wahrgenommen, die Aktivierung und Sättigung von Bedürfnissen eines Organismus bewirken. 
  • Plastische mentale Systeme sind offene Systeme, die über Fähigkeiten zur Konstruktion mehr oder weniger fluider, bewusst wahrgenommener sekundärer Bedürfnisse verfügen. 
  • Sekundäre Bedürfnisse dienen zwar keinen unmittelbaren biologischen Lebensanforderungen, aber sie werden von den gleichen neurobiologischen Kohärenzmechanismen reguliert. Diese Mechanismen
    • messen kontinuierlich nicht nur physiologische Zustände, sondern auch sinnliche Wahrnehmungen emotionaler und kognitiver Art,
    • gleichen sie mit Sollzuständen lebensnotwendiger primärer Bedürfnisse des biologischen Organismus sowie mit sekundären Bedürfnissen des mentalen Systems ab 
    • und erzeugen im Fall von Abweichungen steuernde Impulse für die Auslösung von Aktivitäten.
  • In Kooperation mit dem Kohärenzsystem regulieren kognitive Fähigkeiten des mentalen Systems sekundäre Bedürfnisse in 2 Modi:
    • Ein generativer Modus erzeugt bzw. kreiert oder konstruiert als nützlich empfundene sekundäre Bedürfnisse des mentalen Systems.
    • Ein auf Nutzenmaximierung ausgerichteter Kontrollmodus bewertet die Nützlichkeit sekundärer Bedürfnisse und bewirkt bei Bedarf Modifikationen.
  • Regulatorische Mechanismen des Kohärenzsystems interagieren in iterativen Prozessen mit einem komplementären internen Belohnungssystem. Dieses wirkt mit als Emotionen resp. Motivation wahrgenommenen Signalen steuernd auf das Kohärenzsystem ein.
Annahmen selbstregulierender Interaktionen eines Kohärenzsystems mit einem internen emotionalen Belohnungssystem machen verständlich, wie in einer chaotischen Umwelt ein Überleben im Chaos möglich wird:
  • Mentale Ordnungskonstrukte erzeugen im mentalen System Verstehbarkeit, Beherrschbarkeit, Sinnhaftigkeit.
  • Fähigkeiten des mentalen Systems erzeugen soziale Systeme mit konstruierten kohärenten Zusammenhängen von Kultur, Familie, Freundschaften, Gemeinschaften, Religion, Gesellschaften etc. und bewirken aufgrund sich ständig verändernder Bedingungen der Umgebung dieser Systeme laufende Anpassungen.
  • Prozesse der Erzeugung, Aufrechterhaltung und Anpassung von Kohärenzystemen erfordern Anstrengungen und verbrauchen Ressourcen, die auch in anderen Bereichen des Lebens eingesetzt werden können oder dort fehlen und handlungsbedürftige Mangelzustände zeigen. Daher bevorzugen Kohärenzsysteme stabile Strukturen der Homöostase.
 

5 Wie gehen soziale Systeme mit Komplexität, Chaos, Kontingenz um?

Kohärenzgefühle interagierender und kooperierender Menschen bewirken die Entstehung von Kohäsion (emotionale Zusammengehörigkeitsgefühle) sozialer Gruppen. Der Zusammenhalt ähnlich gesinnter sozialer Gruppen (Familien, Verwandtschaften, Sippen, Clans, Freundeskreise, Sportmannschaften, Zusammenarbeit in beruflichen Teams, kooperierende karitative, politische, militärische Gruppen etc.) erzeugt und stärkt Bindungen, reduziert oder vermeidet Angst und ist ein wesentlicher Faktor für individuelles Wohlergehen. 
 
Kontingente Umweltbedingungen treiben evolutionäre Prozesse biologischer und sozialer Art, deren Interdependenzen auf der Individualebene Bewusstsein erzeugen (Kapitel 3.2) und auf der Kollektivebene Kultur modellieren. Was als Kultur verstanden wird und wie Kultur entsteht, betrachtet der Post Was ist Kultur?. In diesem Kapitel geht es um die Frage warum Kultur entsteht.
 
Auf organischer Systemebene verhelfen nützliche biologische Mechanismen zur Reduzierung von Chaos mittels Filter des Wahrnehmungsapparates sowie mittels mentaler Prozesse der Ordnung und Bewertung von Wahrnehmungsinhalten gemäß Anforderungen psychischer Grundbedürfnisse. Diese Mechanismen erzeugen als Resultat Illusionen eines Selbst, das sich als Einheit erlebt und Realität von Welt als einen hoch komplexen Zusammenhang auffasst, der zwar (noch) nicht in allen Details verstanden ist, aber als prinzipiell rational zugänglich gilt.
 
 
5.1 Entstehung von Kultur und des Fortschrittsparadigmas westlicher Kulturen
 
Alle höheren biologischen Arten entwickeln in der Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt Strategien des Überlebens, der Reproduktion und des existenziellen Krisenmanagements. Einige höhere Arten verfügen in einem weiten Verständnis des Begriffes über Kultur im Sinne der Fähigkeit, Strategien individuell zu lernen und kommunikativ zu teilen. Kulturelle Strategien bevorraten Praktiken der Weltbewältigung.  
 
Fähigkeiten zur evolutionären Kumulierung kultureller Strategien sind eine spezielle Eigenschaft von Homo sapiens, die ihn von anderen biologischen Arten absetzt. Mit der evolutionären Entwicklung der menschlichen Art entwickeln sich im mentalen System primäre Bedürfnisse kohärenter Sinnhaftigkeit. Auf Lebensrisiken reagiert das mentale System mit Alarmmeldungen, die als Aufmerksamkeit erzeugende emotionale Angstzustände empfunden werden und Aktivität erfordern. Die Etablierung externer Kohärenzsysteme ermöglicht unter prekären Bedingungen relative Entscheidungs- und Verhaltenssicherheit und erhöht Lebenschancen.  

Nicht erklärbare empirische Phänomene können auf unbekannte Risiken hinweisen und erzeugen daher Alarmzustände. Wenn nicht erklärbare empirische Phänomen regelmäßig auftreten, ohne dass Risiken zu erkennen sind, stören sie das Koheränzbedürfnis des mentalen Systems und erzeugen kognitive Dissonanzen, die das mentale System mit Hilfe kausaler Erklärungskonstrukte auflöst. Narrative der Erklärung von Kausalität befriedigen Bedürfnisse kohärenter Sinnhaftigkeit, indem sie rational nicht erklärbare empirische Phänomene verständlich machen und Ängste vor Risiken des Lebens reduzieren. 

Im Kontext kultureller Evolution entstanden für kausal nicht erklärbare empirisch wahrnehmbare Zustände und Ereignisse religiöse Deutungsmuster und Handlungsvorschriften. Menschen bevorzugen prägnante Begriffe als Anker eigener abstrakter Vorstellungen. Die begriffliche Verdichtung einer speziellen Klasse kultureller Phänomene auf den Begriff Religion vermittelt implizit Vorstellungen relativ gleichartiger kultureller Deutungsmuster mit relativ ähnlichen Praktiken. Tatsächlich handelt es sich um einen vielgestaltigen kulturellen Komplex, der zeitlich, räumlich, ethnisch, geschlechtlich eine große Bandbreite an Strategien und Praktiken ausprägt.
 
Nach mehr als 1000 Jahren setzte um das Jahr 1700 in westlichen Kulturen mit der Aufklärung und der beginnenden Industrialisierung eine Umkehrung von Zukunftsvisionen ein. Die Kumulierung von Wissen und Fähigkeiten im Prozess kultureller Evolution verdrängte zuvor als sicher geltende Vorstellungen apokalyptischer Eschatologie zugunsten optimistischer Erwartungen evolutionären Fortschritts. Narrative rechtfertigten Irrtümer und Kollateralschäden als unvermeidbare Begleiterscheinungen iterativer Prozesse kulturellen Fortschritts und erwarten mit wachsendem Fortschritt die Minimierung von Irrtümern und Kollateralschäden gegen Null. 
 
Im Kontext der Umwelt kooperierte Homo sapiens 99 % des Zeitraums seiner Existenz in kleinen Gruppen unter egalitären Bedingungen weitgehend friedlich, basisdemokratisch und gendergerecht. Vor ca. 10.000 Jahren entstanden mit der Neolithisierung (Übergang zur Sesshaftigkeit) soziale Ungleichheit und Ausbeutung und verdrängten egalitäre Kultur. Die Frage, ob diese Wende als Katastrophe oder als Erfolgsstory zu werten ist, wird kontrovers diskutiert. Erfolge westlicher Kulturen geben der optimistischen Weltsicht dieser Kulturen scheinbar Recht.
 
Innerhalb westlicher Kulturen reklamieren insbesondere Kulturwissenschaftler Einwände gegen diese Ansichten. Diese bleiben überwiegend ungehört oder unverstanden. Attraktiv und sympathisch ist die westliche Perspektive vor allem für Menschen, die als WEIRD (western, educated, industrialized, rich, democratic) gelten. Global sind das ca. 12 %. Menschen der WEIRD-Kulturen ignorieren gerne, dass Wohlstand auf Fundamenten von Imperialismus, Dogmatismus, Rassismus errichtet ist, die Ausbeutung und Unterdrückung rechtfertigen. Außerhalb westlicher Kulturen teilen längst nicht alle Menschen westliche Weltsichten und deren Werte. Daher erzeugt die globale materielle Überlegenheit westlicher Kultur terroristischen Widerstand, dessen Ethik nicht weniger problematisch ist.
 
 
5.1.1 Kultur als Symbolsystem menschlicher Kooperation
 
Kooperation erfordert Synchronisierung des Denkens und Verhaltens der Mitglieder einer sozialen Gemeinschaft. Synchronisierung basiert auf Systemen generalisierter Symbole (Laute, Sprache, Gesten, Zeichen, Bilder, Musik, Riten etc.), über die ein gemeinsames Verständnis besteht. Um Ressourcen zu schonen, ist es sinnvoll, Symbole stück- und fallweise nicht bei Bedarf immer wieder neu zu erfinden. Bewährte Symbole, über deren Semantik Konsens besteht, verfestigen sich zu Vorräten an Symbolsystemen, die bei Bedarf effiziente Kommunikation und Kooperation ermöglichen.
 
Das gesamte Bündel bevorrateter Symbolsystemen einer sozialen Gemeinschaft bildet eine Kultur. Kultur erzeugt eine virtuelle soziale Systemebene, auf der primäre Ressourcen der Reproduktion, Nahrungsversorgung, Sicherheit und ggf. weitere sekundäre Ressourcen in sozialen Verbänden gemeinschaftlich synchronisiert und organisiert werden. Symbolsysteme werden in Lernprozessen mimetisch (durch Nachahmung) und episch (durch Sprache) sozial vererbt.
 
Kultur entsteht in Bewusstseinsprozessen. Kognitive Kompetenz nutzt Elemente des kulturellen Vorrats bestehender Symbolsysteme weitgehend unbewusst als Selbstverständlichkeit, um Lebensbedingungen zu organisieren. Im Fall veränderter oder neuer Lebensbedingungen erfolgen Anpassungen von Kultur, indem neue oder veränderte Symbole bewusst modelliert und in bestehende Symbolsysteme integriert werden. 

Regulierungsbedarf von Kooperation und Organisation benötigt und verbraucht Ressourcen, die in anderen Kontexten fehlen, obwohl sie dort ebenfalls benötigt werden. Regulierungsbedarf erzeugt unvermeidbare Ineffizienz, die für den Gewinn verbesserter Handlungsfähigkeit in Kauf genommen wird. Mit Größe sozialer Verbänden nimmt Regulierungsbedarf zu. Arbeitsteilige Organisation und die Etablierung sozialer Institutionen minimieren entstehende Ineffizienz. Soziale Institutionen wie Familien, Verwandtschaftssysteme, Erziehungssysteme, Herrschaftsstrukturen etc. legen in verschiedenen Handlungsfeldern Organisationsregeln fest, erzeugen Verbindlichkeit, schränken Willkür und Beliebigkeit ein. Soziale Institutionen entlasten individuelle Verantwortung mittels verteilter Verantwortung und stärken die Gemeinschaft mittels Kohäsion. In formalen Organisationen von Bürokratien, Produktionsbetrieben und Serviceunternehmen sind diese Prinzipien umgesetzt und optimiert. 
 
Zwischen volatilen Umweltbedingungen und intendierten Handlungen ihrer Bewältigung bestehen Dynamik erzeugende Wechselwirkungen. Unbeabsichtigte Nebeneffekte absichtsvoller Handlungen tragen zur Kontingenz von Umweltbedingungen bei und verändern oder erhöhen Chaos von Realität und bewirken Zunahme prekärer Lebensbedingungen. Da Chaos lebensfeindlich ist, erfordert es Anstrengungen zur Reduzierung von Lebensfeindlichkeit.
 
 
5.1.2  Kollektives kulturelles Gedächtnis
 
Typische Beschreibungen von Gegenwartskulturen vernachlässigen Erinnerungen des kulturellen Gedächtnisses, das als Bestandteil des sozialen kollektiven Gedächtnisses kulturelle Muster über Jahrhunderte und Jahrtausende per Traditionen weitergibt und menschliches Zeit- und Geschichtsbewusstsein, Selbst- und Weltbild prägt. 
 
Den meisten Menschen dürfte nicht bewusst sein, dass z.B. 
  • in Symbolik von Hochzeits- und Bestattungsriten prähistorische Kulthandlungen erhalten sind, 
  • Ahnenkulte in Friedhofskulturen zeitlich überdauern, 
  • Grabsteine Varianten megalithischer Menhire sind,
  • Initiationsriten in Kulturen schon immer als wichtige Übergänge individueller Lebensphasen gelten und noch immer in Traditionen von Taufe, Kommunion, Konfirmation, Abschlussfeiern etc. symbolisch Ausdruck finden und offensichtlich so wichtig sind, dass in der DDR als Alternative und Gegenmodell zu religiösen Riten die Jugendweihe eingeführt wurde, 
  • Volkskunst, Folklore, Trachten auf Traditionen beruht, deren Ursprünge kaum jemand kennt, von denen kaum jemand weiß, warum sie für die individuelle kulturelle Identität bedeutsam sind,
  • Siegerehrungen sportlicher oder kultureller Wettbewerbe Relikte von Heroenkulten darstellen, die bereits in Agonen (Wettkampf-Spielen) der Antike zu den bedeutendsten kulturellen Veranstaltungen zählten,
  • Kirchengebäude als Versionen von Tempelanlagen einzuordnen sind, die seit der Übergangszeit vom Paläolithikum zum Neolithikum errichtet werden (Wikipedia: Göbekli Tepe, National Geographic: Orkney-Inseln: Ein Tempel der Steinzeit),
  • Tempelanlagen (Kirchengebäude) nicht nur religiösen Funktionen, sondern zahlreichen und sehr unterschiedlichen sozialen Funktionen dienen, 
  • von der Umgebung abgehobene Groß- oder Monumentalarchitekturen von Tempelanlagen nur vordergründig religiös zu begründen sind und vor allem Machtstrukturen symbolisch repräsentieren,
  • ritueller Geschenkaustausch wahrscheinlich schon immer zwischen Menschen stattfand und Geschenke die Funktion haben, Vertrauen zwischen Menschen herzustellen, um Kooperationen zu ermöglichen.
    Bemerkenswert ist in diesem Kontext, dass Menschen intuitiv wissen, zu welchen Anlässen Geschenke erwartet oder ausgetauscht werden, welche Art von Geschenk zu welchem Anlass geeignet ist, welche wertmäßige Größenordnung eines Geschenkes als angemessen gilt, aber andererseits enttäuscht oder empört reagieren, wenn implizite Erwartungen verfehlt werden. Menschen sind sich der unausgesprochenen traditionellen Verpflichtungen bewusst, kennen aber i.d. R. nicht die sozialen Funktionen des Geschenkaustauschs. 
Exemplarisch genannte kulturelle Muster sind in allen Kulturen zu finden, weil sie offensichtlich für die Existenz von Kulturen wichtig und mit individuell gleichartigen mentalen Bedürfnisstrukturen verwoben sind. Innerkulturell korrespondieren Kulturmuster mit kulturspezifischen Ausprägungen von Formen und Normen. Da funktionale  Bedeutungen unbewusst bleiben und Ausprägungen von Formen und Normen kulturell variieren, bleiben im Alltagsdenken gemeinsame funktionale Kerne i.d.R. unerkannt sowie in fremden Kulturen herausgebildete Ausprägungen unverstanden. Strukturelle Gesetzmäßigkeiten erschließen sich erst im wissenschaftlich-analytischem Denken. 
 
Für Menschen, die in der Symbolwelt ihrer kulturellen Umgebung leben, bleiben nicht nur von kulturellen Symbolen transportierte Bedeutungen unbewusst, sie sind sich ihrer Kultur insgesamt unbewusst und das darf auch gar nicht anders sein:
  • Menschen konstruieren Symbole mittels in Sprache, Zeichen, Bildern, Ritualen verwobenen Bedeutungskontexten. Aus diesen Elementen setzen sich Kulturen zusammen. Prozesse der Enkulturation machen nicht einfach Menschen zu Elementen einer Kultur, sondern sie formen das individuelle Bewusstsein einer mehr oder weniger einzigartigen Identität von Menschen. Mentales Bewusstsein der Einzigartigkeit gestattet keine beliebigen kulturellen Ausprägungen, sondern verlangt nach absolut sinnhaften Konstrukten der Welt. Diese unterscheiden sich jedoch zwischen Kulturen und machen daher die interkulturelle Verständigung schwierig.
  • Menschen benötigen kein explizites Bewusstsein von Symbolen, weil deren Bedeutungen im kollektiven kulturellen Gedächtnis verankert und in kontextuellen Riten unmittelbar (unbewusst) präsent sind. 
  • Menschen dürfen sich der Bedeutung nicht bewusst sein, weil rationale Begründungen von Ritualen und Symbolen deren Bedeutung und Zauber demontieren. Eine Art magischer Kraft können Rituale und Symbole nur dann entfalten, wenn diese Kraft unbewusst auf Verhalten einwirkt.  
  • Fragen nach Bedeutungen und Sinnhaftigkeit sind für religiöse Glaubenssysteme gefährlich und müssen daher bestraft werden. Nachdem Adam und Eva Früchte vom Baum der Erkenntnis gegessen haben, werden sie aus dem Paradies verbannt, um zu verhindern, dass sie auch noch Früchte vom Baum des ewigen Lebens essen und damit zu Göttern würden. Weil Religionsstifter diese Gefahr verstanden haben, verlangen religiöse Glaubenssysteme bedingungslose Hingabe an Dogmen.
  • Bewusstwerdung von Kultur entfremdet Menschen nicht nur von ihrer nativen Kultur, sondern auch von ihrer eigenen, durch Kultur vermittelten sozialen Identität und nicht zuletzt von ihnen nahe stehenden Menschen ihrer eigenen Herkunft. Literarisch hat Max Frisch diesen Prozess im Roman Gantenbein verarbeitet.
Aufgrund unterschiedlicher kollektiver Erinnerung konstatiert die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann in einem Essay zu Geschichte und Erinnerung
"Gegenwärtig entstehen [...] in Europa neue Frontlinien entlang solcher Nationen, die sich den Standards einer ethischen Globalisierung unterwerfen und solchen, die dieses nicht tun und auf dem alten Prinzip einer erinnerungspolitischen Selbstbestimmung beharren."
 
Astrid Erll, Professorin für anglophone Literaturen und Kulturen an der Goethe-Universität Frankfurt, beschäftigt sich mit der Thematik kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen und betrachtet u.a. vor dem Hintergrund historischer Vergleiche die Frage, welche Spuren die Corona-Pandemie im kollektiven Gedächtnis hinterlässt: Jenseits des Erwartungshorizonts -  Pandemie und kollektives Gedächtnis 
 
Eine Ahnung von der Bedeutung des kollektiven Gedächtnisses vermitteln Analysen und Diskussionen anlässlich der für den 6. Mai 2023 geplanten Krönungszeremonie für Charles III.
 
 
5.1.3 Kollektivbewusstsein, Diskurse, Konflikte
 
Unter Bedingungen knapper Ressourcen gehörten Arbeitsteiligkeit und Streit zwischen Menschen sowie Konflikte zwischen rivalisierenden sozialen Gruppen wahrscheinlich schon immer zum Repertoire von Sozialverhalten. Um kooperieren zu können, benötigen aber auch nomadisierende kleine soziale Verbände gemeinsame Weltsichten.
 
Abgesehen von wenigen eher instinktiv regulierten universellen Verhaltensmustern manifestiert sich soziales Verhalten weitgehend unbewusst als Ausprägung interkulturell variierender Werte- und Glaubenssysteme, die weitgehend unbewusst als wahr, gültig, richtig angenommen werden und als Selbstverständlichkeiten innerkulturell nicht diskutiert oder problematisiert werden. Diesen Sachverhalt umschreibt der Begriff des Kollektivbewusstseins. Kollektivbewusstsein umfasst die Gesamtheit aller gemeinsamen Ansichten, Emotionen, Werte einer Kultur und erzeugt Gefühle der Zusammengehörigkeit (soziale Kohäsion), indem es sich individuell als 'kollektives Wir' manifestiert. Besonders deutlich wird dieser Sachverhalt in Moden, zu denen Menschen unterschiedliche Einstellungen haben können, denen sich aber niemand entziehen kann.
 
Sachverhalte dieser Art belegte der französische Soziologe Pierre Bourdieu mit den Begriffen Habitus (sozial vererbtes und individuell angeeignetes kulturelles System von Verhaltensdispositionen) und Doxa (nicht hinterfragbare, selbstverständliche Auffassungen von Realität) und wies deren Einfluss auf das Denken und Verhalten von Menschen in empirischen Studien nach (Post: Pierre Bourdieu, Habitus und Doxa).
 
Diskurse und Konflikte entstehen insbesondere dann, wenn unterschiedliche Werte- und Glaubenssysteme aufeinandertreffen und jeweils Gültigkeit beanspruchen. Im Alltagsleben komplex differenzierter Sozialsysteme gehören Konflikte dieser Art zu kulturellem Ballast, der nicht wünschenswert, aber unvermeidbar ist. 
  • Nomadisierende soziale Verbände sind weitgehend egalitär und basisdemokratisch organisiert. Auf ungünstige Lebensbedingungen können diese Verbände flexibel reagieren, indem sie andere Lebensräume aufsuchen. 
  • Unter Bedingungen von Sesshaftigkeit geht diese Flexibilität verloren. Erfolgreiche, robuste Kulturen können mit solchen Konflikten umgehen, weil sie zu deren Bewältigung Deeskalationsmechanismen in Form kultureller Pluralismuskonzepte entwickelt haben. Weniger robuste Kulturen provozieren Fluchtbewegungen und Migrantenströme.
 
6 Bedeutung und Entstehung von Religion (in Bearbeitung)
 
Antworten auf Fragen nach Ursachen der Universalität und der Entstehung religiöser Phänomene haben naturgemäß spekulativen Charakter und sind von wissenschaftlichen Perspektiven beeinflusst. 
 
Protoreligiöse Vorstellungen sind wahrscheinlich bereits mit der Homonisation entstanden. Die ältesten bekannten protoreligiös gedeutete Begräbnisse fanden vor ca. 120.000 Jahre statt. Rituell-kultische Deutungen von Bestattungen setzen voraus, dass im Mittelpaläolithikum Fähigkeiten zur Symbolbildung und damit zur Kulturbildung bestanden (Wikipedia: Religion im Paläolithikum). Im kollektiven Gedächtnis (Spektrum: Was ist das kollektive Gedächtnis?) verankerte und mittels tradierten Mythen, symbolischen Zeichen, Ritualen etc. sozial vererbte Symbolsysteme bilden vermeintlich alternativlose Selbstverständlichkeiten, über die kein expliziter Konsens hergestellt werden muss (doxisches Verhalten in der Terminologie von Pierre Bourdieu).  

Religionsanthropologie untersucht Strukturen religiösen Verhaltens aus verschiedenen Sichten, u.a. Entstehen und Wirken religiöser Glaubenssysteme, Symbolik, Mythen, Rituale, heilige und transzendentale Phänomene, Theophanie (Manifestierung von Göttern), Institutionalisierung von Religionen. Religionsanthropologie identifiziert 6 Zeitphasen der Entstehung religiöser Phänomene:
  1. Entdeckung vermeintlich transzendenter Phänomene des Lebensraums, aus der sich Kultur entwickelt,
  2. Nachdenken über Sterblichkeit, das sich in frühen Bestattungsriten manifestiert und als Nachweis der Fähigkeit zum Denken über Transzendenz gilt,
  3. Entwicklung von Mythogrammen als Mythensysteme im Jungpaläolothikum
  4. Darstellung von Gottheiten ab dem Neolithikum,
  5. Personifizierung von Gottheiten in symbolischen Darstellungen und Bau von Tempelanlagen in frühen Hochkulturen Mesopotamiens,
  6. Entstehung der großen monotheistischen Religionen mit Absolutheitsanspruch, deren Gottheiten vollständige Unterwerfung verlangen.
 
6.1 Erklärungen der Mikroebene: Individualistische Modelle der Entstehung von Religion
 
Individualistische Modelle nehmen an, dass der Prozess biologischer Evolution im mentalen System von Homo sapiens ein genetisch codiertes Kohärenzbedürfnis entwickelt hat, das bei Störungen kognitive Dissonanzen erzeugt, die das mentale System mit Hilfe von ebenfalls genetisch codierten Bewältigungsmechanismen aufzulösen versucht. Zu diesen Bewältigungsmechanismen zählen Kausalattribuierung, kategoriales Denken, Stereotype, Vorurteile. Diese befähigen zu schnellen Entscheidungen, ermöglichen spontanes Erkennen vermeintlicher Zusammenhänge zwischen empirisch wahrnehmbaren Zuständen oder Ereignissen und möglichen Ursachen.

Zur Regulierung dauerhafter Zustände und regelmäßig auftretender Ereignisse entstanden Im Kontext kultureller Evolution Praktiken der Weltbewältigung bevorratende kulturelle Strategien. Mit einfachen 1:1-Kausalattribuierungen nicht erklärbare empirische Phänomene erzeugen aufzulösende Ängste. Auf immaterielle Kräfte und Mächte verweisende religiöse Deutungsmuster hegen diese Ängste ein und befriedigen Bedürfnisse kohärenter Sinnhaftigkeit mit Hilfe von Handlungsvorschriften.


6.1.1 Entstehung von Religion als Bewältigungssystem von Todesangst 
 
Vertreter der sozialpsychologischen Terror-Management-Theorie (TMT) betrachten das Bewusstwerden der eigenen Sterblichkeit (Mortalitätssalienz) als Hauptproblem menschlicher Spezies, weil gemäß Annahmen dieser Theorie ein starker Konflikt mit dem universalen Selbsterhaltungstrieb und daher lähmende Angstzustände (Terror) entstehen. TMT nimmt an, dass zwei als kulturelle Angstpuffer bezeichnete Bewältigungsmechanismen diesen Konflikt auflösen: 
  • Gemäß Mortalitätssalienz-Hypothese entstehen aus dem Bewusstsein von Verletzlichkeit und Endlichkeit als Angstpuffer der kollektiven Ebene kulturelle Weltanschauungen, die die Welt mit Ordnung, Sinn, Dauerhaftigkeit anreichern und existenziellen Terror verdrängen. (Spektrum: Terror-Management-Theorie)
    Sinnhaftigkeit kollektiver Weltanschauungen fordert auf strengen Regeln basierende ritualisierte Strukturen gemeinsamer Werte, die zu einer sozial geteilten Lebensführung verpflichten. Kulturelle Weltanschauungen entwickeln als externe Kohärenzsysteme Verständnisse von Sinnhaftigkeit, die sich in Mythen, Symbolen und symbolischen Verhaltensweisen bzw. protoreligiöser Vorstellungen manifestieren.
  • Indem der kulturelle Kontext Erwartungen der Unsterblichkeit in Aussicht stellt und Emotionen der Selbstachtung erzeugt, schützt und stabilisierte er als Angstpuffer der individuellen Ebene das den Selbsterhaltungstrieb symbolisch manifestierenden Selbstwertgefühl.
In Studien konnten jedoch nur schwache Korrelationen zwischen Religiosität und Angstgefühlen nachgewiesen werden (Online Lexikon für Psychologie & Pädagogik: Terror-Management-Theorie, Simon Schindler, TU Dresen: Die Mortalitätssalienz-Hypothese auf dem Prüfstand). Allerdings ist zu berücksichtigen, dass diese Untersuchungen in westlichen Kulturen der Neuzeit durchgeführt wurden und dort völlig andere Kultureinflüsse auf Emotionen einwirken, als das zur Blütezeit von Religionen und Religionssystemen der Fall war und wahrscheinlich in einigen Kulturen noch immer ist.
 
 
6.1.2 Entstehung von Religion aus neurobiologischer Sicht
 
Neurobiologe Robert-Benjamin Illing erklärt die Entstehung von Religion als evolutionäre Anpassungsleistung des Gehirns an Bedingungen der Umwelt. Religion versteht Illing als Ergebnis kreativen menschlichen Angstmanagements, das Bilder der Realität konstruiert, die einen Überlebensvorteil sichern und von 3 primären psychischen Bedürfnissen getrieben wird (Deutschlandfunk: Hirnforscher und Theologen auf der Suche nach Gott): 
  • Angst vor dem Tod,
  • zwanghaftes Denken der Herstellung kausaler Zusammenhänge, 
  • zwanghafte Gewohnheit, Vermutungen über fremdseelische Zustände anzustellen.
 
6.1.3 Entstehung von Religion aus neurotheologischer Sicht
 
Der evangelische Theologe Dirk Evers räumt in einem Streitgespräche mit Illing diese Motive durchaus ein, aber die Wurzel von Religiosität liegt für Evers im sozialen Raum des Zusammenlebens von Menschen und ihrer Reflexion dieses Miteinanders. Evers fasst Religion neurotheologisch auf. Evers sieht in Religion mehr als einen biologischen Überlebensmechanismus und bezieht Aspekte menschlichen Lebens ein, die nicht evolutionsbiologisch funktional beschrieben werden können. (Pressemitteilung Uni Münster, 21.05.2014: Religion als Instrument der Angstbewältigung)


6.1.4 Religion in der intepretativen Ethnologie: Clifford Geertz

Als Hauptprotagonist interpretativer Ethnologie gilt der US-amerikanische Ethnologe Clifford Geertz (1926-2006). Geertz fasste Kulturen als geschlossene Bedeutungssysteme auf, die er wie literarische Texte zu lesen, zu analysieren und zu interpretieren versuchte. Schlüssel des Verstehens bildeten für Geertz Symbole, die in Kommunikationsprozessen auf Weltsichten, Wertvorstellungen und Handlungsmotive verweisen. Innerhalb einer durch Symbolsysteme repräsentierten Kultur bildet Religion für Geertz ein eigenes Symbolsystem als notwendiges Muster,  
"dessen Ziel es ist, starke, umfassende und dauerhafte Stimmungen und Motivationen im Menschen zu erzeugen, indem Vorstellungen einer allgemeinen Seinsordnung formuliert werden, die mit einer solchen Aura von Faktizität umgeben werden, dass die Stimmungen und Motivationen vollkommen der Realität zu entsprechen scheinen". (Wikipedia: Religionsdefinition.Funktionalistischer Religionsbegriff)  
Als Orientierungs- und Sinnsystem ist Religion für Geertz  
"letztlich eine Konfliktlösungsstrategie, weil Religionen eine allgemeine Seinsordnung und ein Ordnungsmuster zur Verfügung stellen und durch sie kein Ereignis unerklärlich bleibt." (Wikipedia: Religion.Clifford Geertz und Gerd Theißen) 

 
6.2 Erklärungen der Makroebene: Religion als System 
 
'Klassische' soziologische Annahme der Makroperspektive besagen,
  • dass mit der kulturellen Evolution die Größe sozialer Verbände zunimmt und mit ihr soziale Komplexität aufgrund sozialer Differenzierung, weshalb mit zunehmender Größe soziale Kooperationen erschwert, bedroht oder verhindert werden und daher integrierende und stabilierende Systemfunktionen notwendig sind. Diese Notwendigkeit im Prozess kultureller Evolution erklärt die Installation von Göttern als Normüberwacher und die Etablierung formeller religiöser Institutionen.  
  • Spiritualität und Religiosität ermöglichen dauerhafte Kooperationen zwischen nicht verwandten (fremden) Menschen und damit stabile größere soziale Verbände (Wikipedia: Hominisation.Spiritualität und Religiosität).
  • Religionssysteme reduzieren Komplexität der Realität, indem sie die Wahrnehmung und das Denken von Menschen vereinheitlichen, Sinn stiften und Kooperation ermöglichen.
  • Durch Religion legitimierte Gewalt, Unterdrückung, Ausbeutung, Genozide und Kriege werden nicht als Funktionsstörungen aufgefasst, sondern als extreme Strategien der Reduzierung von Funktionsstörungen. 

6.2.1 Religionssoziologie: Èmile Durkheim, Max Weber, Pierre Bourdieu
 
Der französische Soziologe Èmile Durkheim (1858-1917) und der deutsche Soziologe Max Weber (1864-1920) gelten als Begründer der Religionssoziologie.
 
Èmile Durkheim deutete Religion als Ursprung und Stütze kollektiver Wissensstrukturen und vertrat die Auffassung, dass das Sakrale Ausdruck eines solidarischen Systems sei, das menschliche Kooperation und kollektives Leben ermöglicht (Wikipedia: Religiosität). Diese Erklärung von Religion hat sich kulturwissenschaftlich weitgehend durchgesetzt.
 
Max Weber erklärt die Dominanz des Kapitalismus, bzw. die Wirtschaftsethik und den Erfolg von Industrieländern in seinem Werk Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904) mit okzidentalem Rationalismus, dessen Ausbreitung auf die von Luther und Calvin postulierte asketische proteastantische Ethik zurückzuführen sei. Wissenschaftliche Diskussionen von Webers religionssoziologischen Erklärungen setzte zwischen Kritikern und Vertretern erst nach dem 2. Weltkrieg ein und sind bis heute nicht abgeschlossen. Empirische Prüfungen produzieren widersprüchliche Ergebnisse.
 
Pierre Bourdieu (1930-2002), französischer Soziologe in der Tradition von Èmile Durkheim, macht deutlich, dass und wie Religion in gesellschaftlichen Macht- und Ungleichheitsverhältnissen verwoben ist. Herrschaftsstrukturen fördern oder instrumentalisieren jeweils solche religiösen Strömungen, die eigenen dominanten Interesse dienen. Gewicht erhält Bourdieus religionssoziologische Theorie durch Überprüfung an empirischen Beispielen.
 
 
6.2.2 Der Ursprung der Religion: Robert Bellah 
 
(to do) 

 
6.2.3 Evolution von Religion in der biologisch-kulturellen Patrix (Carel von Schaik und Kai Michel) (in Bearbeitung!)
 
Die Autoren Carel von Schaik, Evolutionsbiologe und Anthropologe, und Kai Michel, Historiker und Literaturwissenschaftler (nachfolgend als Schaik/Michel bezeichnet) entwickeln in ihren Veröffentlichungen
Das Tagebuch der Menschheit. Was die Bibel über unsere Evolution verrät (Reinbek bei Hamburg 2016)
sowie Die Wahrheit über Eva. Die Erfindung der Ungleichheit von Frauen und Männern (Hamburg 2020) 
ein als 2x2-Matrix verstandenes Modell, das in biologischer Evolution entstandene mentale Mechanaismen mit in kultureller Evolution entstandenen Überzeugungen, Verhaltensvorschriften und Praktiken verknüpft. Der Umbruch vom Nomadentum zur Sesshaftigkeit veränderte in einer transitorischen Phase Ordnungen, Verhaltensvorschriften, Praktiken, Überzeugungen, Narrative und teilt dieses Modell in ein Vorher und ein Nachher.
  • Auf der Achse biologischer Evolution entwickelten alle höheren Arten über lange Zeiträume binäre Muster. Prinzipielle evolutionäre biologische Veränderungen des Homo sapiens haben im Zeitraum der vergangenen 100.000 Jahre nicht stattgefunden.
  • Auf der Achse kultureller Evolution modelliert der Prozess kultureller Evolution im relativ überschaubaren Zeitraum der letzten 100.000 Jahre zwei höchst unterschiedliche soziale Muster, in denen sich Denk- und Verhaltensmuster von Homo sapiens tiefgreifend unterscheiden:
    • Abgesehen von kleinen Resten nomadisch oder halbnomadisch lebender Ethnien, lebte Homo sapiens bis vor vor ca. 10.000 Jahren als Jäger und Sammler räumlich ungebunden und daher ohne Privateigentum in kleinen Gruppen weitgehend selbstbestimmt, basisdemokratisch, egalitär und entwickelte auf diese Lebensweise abgestimmte kulturelle Strategien der Weltbewältigung mit sich ergänzenden geschlechtspezifischen soziale Rollenmuster (Gender). Unter biologisch determinierten mentalen Ordnungskonstrukten entwickelte Homo sapiens für kausal nicht erklärbare empirisch wahrnehmbare Zustände und Ereignisse als Religion von unten verstandene Deutungsmuster und Handlungsvorschriften.
    • Gemäß Auffassung der Autoren entwickelte Homo sapiens mit dem kulturellen Prozess der Neolithisierung (Übergang zur Sesshaftigkeit) über die vergangenen 10.000 Jahre eine männlich deformierte Realität, die Schaik/Michel als toxische patriarchale Matrix beschreiben und als Patrix bezeichnen.
      In der Patrix entstehendes Privateigentum und Konkurrenz um Ressourcen erzeugt soziale Ungleichheit, die nicht nur Frauen diskriminiert, sondern auch die meisten Männer unterdrückt und ungeachtet ihres Geschlechts den größten Teil der Menschheit ausbeutet. Diese Transformation beschleunigt sowohl soziale als auch ökologische Dynamiken und erzeugt globale Krisen.
      In der Patrix entsteht eine als Katalysator wirkende neue Art von Religion im Sinne von Herrschaftsstrategie (Religion von oben).
Dieser Post beabsichtigt keine Detailbetrachtung der Patrix, sondern er beschränkt sich auf Aspekte von Religion im Kontext des Prozesses kultureller Evolution.
 
Schaik/Michel postulieren, dass das weibliche und männliche Geschlecht im Prozess kultureller Evolution Religion als Strategie des Krisenmanagements in genderspezifischen Praktiken der Weltbewältigung als männliche Religion und weibliche Religion ausgeprägt haben, die sich in der Urversion (Religion von unten) zunächst ergänzen. Mit dem Übergang zur Sesshaftigkeit transformiert männlicher Heldenkult religiöse Praktiken der Weltbewältigung zur Herrschaftsreligion (Religion von oben) und vollzieht einen Bruch mit weiblicher Religion.
 
 
6.2.3.1 Religion von unten im Kontext von Gender
 
Religion von unten ist das sehr viel ältere und lange vorherrschende Kulturmuster. Religion von unten entsteht im Prozess kultureller Evolution unter Bedingungen genetisch programmierter mentaler Mechanismen dualistischer Kategorisierung, des Kohärenzzwangs und der Kausalattribuierung (siehe Kapitel 1.3.1) zwangsläufig ubiquitär. "Ich kenne keinen Landstrich auf der Welt, in dem es keine Religion gibt", erklärt Religionssoziologe Detlef Pollack in einem am 5.08.2023 veröffentlichten Interview mit der FAZ.
 
Unter Anwendung genannter fundamentaler mentaler Mechanismen lernen Menschen, nicht unmittelbar kausal erklärbare empirische Phänomen mit Hilfe animistischer Heuristiken als Werk unsichtbarer oder übersinnlicher Akteure (Ahnen, Geister, Dämonen etc.) zu deuten und sich gegen diese Akteure zu schützen. Um unsichtbare oder übersinnliche Akteure nicht zu gefährlichen Feinden zu machen, dürfen sie möglichst weder gestört noch ignoriert werden. 
 
Mittels Stimmen und natürliche Geräusche imitierender Musik, Tanz, Drogen, Ekstase versuchen Menschen mit übersinnlichen Akteuren zu kommunizieren, um deren Verhalten einschätzen und günstig beeinflussen zu können. Im Fall der Erregung übersinnlicher Akteure müssen diese mit Hilfe angemessener ritueller Handlungen (Geschenke, Dankesgaben, Opfer etc.) oder mit Magie besänftigt bzw. friedlich und freundlich gestimmt werden.
 
Schaik und Michel vertreten die Auffassung, dass unter egalitären Bedingungen menschlichen Zusammenlebens zwar ähnliche Anforderungen der Weltbewältigung ähnliche Deutungsmuster erzeugen, diese aber ein breites Spektrum unterschiedlicher Praktiken hervorbringen, deren Muster sich entsprechend der geschlechtsspezifischen Rollenverteilung in männliche und weibliche Sphären differenzieren, wobei die beiden Sphären unter egalitären Bedingungen nicht miteinander konkurrieren, sondern sich ergänzen, austauschen, vermischen. (Die Wahrheit über Eva, S. 270ff.)
 
Aufgrund geschlechtsspezifisch unterschiedlicher Fokussierungen (Rollen) unterscheiden sich sakral besetzte Vorstellungen der männlichen und weiblichen Sphären:
  • In der männlichen Sphäre besteht das Heilige aus Respekt, Kampf sowie Heldentum fordernde und fördernde große Gefahren und Risiken. Gemäß dieser Auffassung entwickelt die männliche Sphäre Verhaltensmuster des Heldenkults, die auf den Gewinn von Einfluss, Macht, Ansehen abstellen. 
  • Die weibliche Sphäre überhöht fundamentale Anforderungen des individuellen und familiären alltäglichen Lebens sakral und entwickelt Schutzmechanismen der Alltagsbewältigung, deren Anliegen sich auf Fruchtbarkeit, Ernährung, Gesundheit, Krankheit, Geburt, Kinder, soziale Vernetzung konzentrieren. 
 
6.2.3.2 Transformation und Institutionalisierung
 
Schaik/Michel postulieren, dass sich als Religion bezeichnete Bündel von Deutungsmustern und rituellen Praktiken mit dem Übergang zur Sesshaftigkeit fundamental verändern. Ursprüngliche Strategien der Weltbewältigung werden nicht vollständig verdrängt bzw. ersetzt, aber von Machtstrategien überlagert und dominiert. In diesem kulturellen Prozess erfahren Geschlechterrollen (Gender) grundlegende Veränderungen, mit denen sich die Wege trennen. Während sakrale Anliegen und religiöse Praktiken der weibliche Sphäre sich weiter auf Anforderungen des individuellen und familiären alltäglichen Lebens beziehen, verfestigt die männliche Sphäre religiöse Anschauungen und Praktiken in Institutionen, deren Regeln überindividuell und überzeitlich als allgemeingültig festgeschrieben werden und damit ein nicht verhandelbares Eigenleben entwickeln. Mit der Institutionalisierung religiöser Überzeugungen und Praktiken wird die männliche Sphäre dominant und unterdrückt die weibliche Sphäre. Lisa Lamm beschreibt diesen Übergang in einem bei National Geographic veröffentlichten Artikel anschaulich: Diskriminierung von Frauen: Woher kommt das Patriarchat?
 
 
6.2.3.3 Religion von oben als männliche Herrschaftsreligion
 
Mit dem Übergang zur Sesshaftigkeit vollzieht sich die Institutionalisierung der religiösen männliche Sphäre als männliche Herrschaftsreligion, in der es nicht länger um persönlichen Glauben bzw. individuelle spirituelle Bedürfnisse geht, sondern um die Rechtfertigung hierarchisierter männlicher Macht. Religiöse Symbole feiern männliche Potenz, das Töten von Tieren und Feinden sowie Beute von Kriegserfolgen mit Erniedrigung, Versklavung oder Vernichtung vermeintlicher Feinde als Ikonographie von Macht. Zuvor in Tierjagden entwickelte Techniken werden für Kriege gegen Menschen adaptiert. Regelwerke werden als göttlicher Wille ausgegeben und weltliche Herrscher als Vollstrecker dieses Willens. Die vermeintlich göttlich legitimierte Rechtsordnung schafft eine männlich verzerrte Welt, die Patrix.

 
7 Kulturelle Transformation vom Nomadentum zur Sesshaftigkeit (in Bearbeitung)
 
7.1 Übergang zur Sesshaftigkeit 
 
Der australische Archäologe Gordon Child (1892-1957) hat für den Prozess des Übergangs zur Sesshaftigkeit in Anlehnung an Industrielle Revolution den Begriff Neolithische Revolution geprägt (auch als Neolithisierung bezeichnet). Der Begriff ist umstritten, weil sich der Übergang zur Sesshaftigkeit in verschiedenen Kulturräumen zu verschiedenen Zeiten in mehreren Phasen über Zeiträume von mehreren tausend Jahren vollzogen hat, in denen sesshafte und nicht-sesshafte Lebensweisen teilweise nebeneinander bestanden oder sich auch jahreszeitlich abwechselten. 

Ortsfeste landwirtschaftliche Produktion ist mit größeren Risiken verbunden und erfordert einen deutlich größeren Arbeitsaufwand als nomadische oder halbnomadische Lebensweise. Ortsfeste Nahrungsmittelproduktion war daher wahrscheinlich nicht die Ursache von Sesshaftigkeit, sondern eine ihrer Folgen. Vermutlich ist der Übergang zur Sesshaftigkeit von mehreren Einflüssen verursacht, wie Bevölkerungswachstum, Klimaänderungen, Nahrungsmangel etc.. Der Übergang zur Sesshaftigkeit mit landwirtschaftlicher Produktion vollzog sich global unabhängig voneinander im Nahen Osten, China, Mexiko und breitete sich von diesen Zentren aus. Was diesen Übergang verursacht hat, vermag bisher keine Theorie belastbar zu erklären. (Wikiwand: Neolithische Revolution.Theorien und Kritik, Wikibrief: Neolithische Revolution)
Unstrittig ist, dass der Übergang zur Sesshaftigkeit starke Einflüsse auf Prozesse kultureller Selbstregulation ausübte. Mit Sesshaftigkeit nehmen Optionen räumlicher Veränderungen ab, weil Sesshaftigkeit Menschen an Territorien bindet und Mengen an Privateigentum vergrößert. Sesshaftigkeit modifiziert Anforderungen eines zuvor mobil und egalitär organisierten sozialen Zusammenlebens und stellt neue Anforderungen 
  • der Ressourcenverteilung,
  • der Vorratshaltung, 
  • des Umgangs mit prekären Lebensbedingungen,
  • der Lösung von Konflikten,
die folgenreiche neue Regelungen und Lösungen erfordern. Der Übergang zur Sesshaftigkeit vollzog sich nicht als revolutionärer Prozess, aber Auswirkungen von Sesshaftigkeit erzeugen auf bestehende Ausprägungsqualitäten sozialer Strukturen und Prozesse offensichtlich starken Veränderungsdruck. In evolutionshistorisch relativ kurzen Zeiträumen entwickeln soziale Strukturen und Prozesse sich relativ schnell ausbreitende neue Qualitäten, deren Entwicklungs- und Ausbreitungsgeschwindigkeit durchaus sprunghaften revolutionären Charakter haben. Zu diesen neuen Qualitäten zählen
  • zunehmende soziale Differenzierung mit verstärkter arbeitsteiliger Organisation und hierarchischen Machtstrukturen,
  • organisierte Kriegsführung,
  • Urbanisierung und Staatenbildung,  
  • politische Systeme der Legitimierung sozialer Ordnungen,
  • Symbolsysteme der Verschriftlichung von Sprache,
  • Modellierung der Geschlechterrollen in Richtung Patriarchat,
  • Etablierung von Religionssystemen,  
  • zunehmende kreative Innovationsfähigkeit,
  • analytisches rationales Denken im Sinne von Wissenschaft.
Themenfeldern dieser Sachverhalte bilden offene selbstregulierende Systeme, die in wechselseitigen Interdependenzen komplex vernetzt sind und deren Dynamik sich beschleunigt. Die methodisch nicht zu vermeidende analytische Isolierung von Themenfeldern verwischt Komplexität von Zusammenhängen. Diese dynamischen sozialen Systeme erzeugen als Kultur bezeichnete virtuelle Systeme ihrer Selbstregulation, in denen Kontrollprozesse von Politik und Wissenschaft eingebettet sind. Ebenso wie unbewusste Muster und Prinzipien der Wahrnehmung bleiben kulturelle Muster (Strukturen) und Arbeitsweise ihrer Kontrollprozesse überwiegend unbewusst. 
 
Bewusste Entscheidungen erforderndes Verhalten, kommt es auf mehrere Arten zustande, ohne dass kulturelle Bedingungen bewusst werden:
  • Verhalten, bei dem individuelle und kollektive Rationalität übereinstimmen, gilt als vermeintlich alternativlose Selbstverständlichkeit, über die kein expliziter Konsens hergestellt werden muss (doxisches Verhalten in der Terminologie von Pierre Bourdieu).
  • Verhaltensweisen, die alternative Optionen kollektiver Ordnungen mit variierenden Auswirkungen auf individuelle Rationalität gestatten (u.a. Ausstattungen sozialer Rollen, Verteilung von Ressourcen, Strategien der Kriegsführung etc.), können potentiell soziale Konflikte erzeugen, die soziale Gemeinschaften in prekäre Zustände versetzen. Um solche Zustände zu vermeiden oder zu unterdrücken, sind politische Mechanismen erforderlich, die individuelle Rationalität ausschalten, was auf 2 Wegen erreichbar ist.
    • Egalitär organisierte Kulturen erzeugen kollektive Rationalität mittels Verständigung über Vor- und Nachteile von Handlungsoptionen und Konsensbildung durch Mehrheitsentscheidungen. Aus diesem Entscheidungsmodell entwickeln sich demokratische Ordnungen.
    • Unter Bedingungen von Sesshaftigkeit entstehen Optionen autokratischer Machtstrukturen, in denen Inhaber der Macht eigenen Interessen dienende Entscheidungen kollektiv verbindlich anordnen.
      Fehlende Legitimierung kollektiver Konsensbildung verursacht prinzipielle Defizite autokratischer Entscheidungen und bewirkt sozial prekärer Lebensbedingungen. Autokratische Machteliten stabilisieren defizitär-prekäre autokratische Strukturen mittels Etablierung von Angstsystemen, Überwachung, Propaganda, Zensur, Unterdrückung von Meinungsvielfalt und Kritik. In der Gegenwart erweitern technologische Innovationen das Repertoire der Instrumente und Methoden ihrer Anwendung.
  • Kultur erzeugt auf einer Metaebene ihre eigenen selbstreflexiven Kontrollsysteme in Form von Wissenschaft.
 
7.1.1 Entstehung von Eigentum
 
 
7.1.2 Entstehung von Machtstrukturen und sozialer Ungleichheit
 
Effiziente Kriegsführung benötigt Anführer. Mit in Kriegen bewährten Anführern entsteht eine neue soziale Hierarchie, die für eine effiziente Organisation des Zusammenlebens sorgt und selbst Privilegien in Anspruch nimmt. Ordnungsmuster hedonistischer Monopolisierung von Macht und Privilegien einer aristokratischen Elite erzeugen hierarchische Machtstrukturen mit sozialer Ungleichheit. Nach langer Vorgeschichte eines tief im kollektiven Gedächtnis nicht-aristokratischer Bevölkerung verankerten universalistischen Egalitarismus resultieren aus diesen Ordnungsmustern zwangsläufig Legitimationskrisen der aristokratischen Machtelite.
 
Eine von Zwangsabgaben parasitär lebende aristokratische Elite kann nicht alleine existieren und muss Legitimationskrisen entschärfen. Kulturelle Antworten auf diese Konflikte bewirken in archaischer Kultur Veränderungen von Symbolsystemen und bringen sich wechselseitig verstärkende neue Kulturmuster hervor, die Machteliten zur Stabilisierung und Legitimierung von Dominanz und zur Reproduktion sozialer Hierarchien nutzen:
  • Patriarchat rechtfertigt männliche Dominanz. 
  • Protoreligöse Strukturen werden zu institutionalisierten religiösen Machtinstrumenten umgeformt, an deren Spitze allmächtige und allwissende Götter ein von aristokratischen Eliten gesetztes Normensystem als vermeintliche ewige Wahrheiten rechtfertigen. Machteliten geben sich als Götter oder deren Bevollmächtigte aus und überwachen die Befolgung von Normen mit Gewaltinstrumenten.
  • Höfischer Lebensstil von Machteliten prägt eigene Kulturmuster und Geschmacksklassen aus, die als vermeintlich besonders wertvolle kulturelle Leistungen gelten, aber der sozialen Distinktion dienen und sich als Hochkultur von Alltags-, Volks-, Massenkultur absetzen. 

7.1.3 Entstehung des Patriarchats
 
Bei nomadischer Lebensweise sind Frauen und Männer der menschlichen Art extrem aufeinander angewiesen. Sie gehen daher solidarisch miteinander um und sind überwiegend egalitär organisiert. Mit dem Übergang zu Landwirtschaft in sesshafter Lebensweise verändern sich Rollen der Geschlechter und prägen Patriarchat aus, das egalitär-komplementäre Zweigeschlechtlichkeit mit Verweis auf vermeintliche göttliche Schöpfungsordnung antagonistisch-komplementär umdeutet. Als Patriarchen nehmen Männer eine bevorzugte Stellung ein und üben rechtliche Macht über Familie, Haus, Hof, Gesinde und Tiere aus.
 
Der Ausbau männlicher Macht resultiert aus mehreren Entwicklungen: Erhöhung der Geburtenrate, zunehmende Bevölkerungsdichte, organisierte Gewalt der Kriegsführung, Zunahme hierarchischer Sozialstrukturen. Rechtfertigungen patriarchalischer Strukturen berufen sich auf 2 Quellen:
  • Zweigeschlechtliche biologische Reproduktion kann auf zahlreiche Tierarten veweisen, bei denen dominante Männchen Rudel von Weibchen anführen. Primaten kontrollieren weibliche Sexualität mit Dominanz und Bildung von Harems. 
  • Religiöse Dogmen legitimieren das Patriarchat als göttlichen Willen. Gott schuf zwar Eva aus einer Rippe von Adam, aber im Paradies waren beide gleichberechtigt. Erst der Mythos des Sündenfalls rechtfertigt die Degradierung von Frauen.

7.1.4 Umformung von Religionssystemen zu angstbesetzten Herrschaftssystemen

Mit dem Übergang zur Sesshaftigkeit erfahren protoreligiöse Angstpuffer Umformungen und Erweiterungen zu Religionssystemen. Mit Hilfe von Religionssystemen lösen Machteliten Legitimierungsprobleme sozialer Ungleichheit, indem sie im kollektiven Gedächtnis tief verwurzelte archaische Quellen protoreligiöser Angst-Bewältigungssysteme zu institutionalisierten, von Priesterkasten organisierten religiösen Angstsystemen umfunktionieren, über die allmächtige Götter wachen, als deren Bevollmächtigte Machteliten agieren.
 
Machteliten können gefordertes Verhalten unter Androhung von Gewalt nur in Face-to-Face-Kontakten erzwingen. Allmächtige und jederzeit wachsame Götter legitimieren generalisierte soziale Ungleichheit sowie aus ihr hervorgehende Verhaltensnormen und Bestrafungen von Ungehorsam lückenlos.
 
Der Philosoph Thomas Metzinger macht darauf aufmerksam, dass das für Kollektivgüter typische Trittbrettfahrerproblem auch bei einer unüberschaubarer Menge der Gefolgschaft entsteht, weil kooperationsunwillige Mitglieder der Gemeinschaft nicht lückenlos kontrollierbar sind (Kapitel 6.7). Religiöser Glaube internalisiert Götter als mental repräsentierte Richter allmächtiger Institution der Normüberwachung, die das Trittbrettfahrerproblem ausschalten. (Tomas Metzinger: Spiritualität und intellektuelle Redlichkeit, S. 37f.).
 
Die Reichweite neu etablierter Angstsysteme ist grenzenlos. Götter und ihre Helfer bestrafen öffentlich nicht bekannt gewordenen Ungehorsam spätestens nach oder mit dem Tod von Menschen. Da jedoch kollektive Erinnerungen an Egalität nicht erloschen sind und die Wirksamkeit religiöser Angstsysteme über Zeit abnimmt, veranlassen Machteliten die Errichtung monumentaler Kultzentren, in denen sie und Priesterkasten regelmäßig große Massenrituale mit Menschenopfern öffentlich zelebrieren und eigene göttliche Bedeutung demonstrieren. 

Kultzentren bilden den historischen Hintergrund für spätere Wallfahrtszentren und monumentale Kathedralen, die trotz veränderter Randbedingungen und Deutungswandel auch noch in der Gegenwart zahlreiche Menschen anziehen und wahrscheinlich schon immer spirituelle Bedürfnisse als Quelle für Geschäfte nutzen. Den meisten Menschen scheinen Verknüpfungen dieser eigentlich sich widersprechende Sphären mental keine Probleme zu bereiten. Der Kölner Dom ist mit mehr als 6 Millionen Besuchern pro Jahr die bedeutendste touristische Sehenswürdigkeit in Deutschland und für die Stadt Köln ein bedeutender Wirtschaftsfaktor.
 
 
7.1.5 Entstehung von Kriegen als soziales Phänomen
 
Der Krieg ist der Vater aller Dinge und der König aller. Die einen macht er zu Göttern, die andern zu Menschen, die einen zu Sklaven, die andern zu Freien.
(Heraklit, 520 - 460 v. Chr.; die Bedeutung dieser Aussage bei Heraklit ist unsicher: Deutung der Lehre Heraklits vom Krieg)
 
Mit Gewalt ausgetragene Konflikte gab es zwischen Menschen wahrscheinlich immer. Bereits Schimpansen, die nächsten lebenden Verwandten von Menschen, sind für eine hohe Gewaltbereitschaft bekannt (Süddeutsche Zeitung: Schimpansen sind geborene Killer). Nomadisierende Clans von Menschengruppen können sich aus dem Weg gehen. Kriege im Sinne planmäßig mit Waffen organisierter, gewaltsam ausgetragener Konflikte zwischen Kollektiven von Menschen sind ein von Sesshaftigkeit verursachtes Phänomen, das mit Bevölkerungswachstum zunimmt und die Entstehung institutionalisierter hierarchischer Machtstrukturen auslöst. Von Archäologen gefundene Spuren deuten darauf hin, dass kriegsähnliche Konflikte in Einzelfällen auch unter nomadisierenden Clans stattgefundenen haben (Süddeutsche Zeitung: Massaker im Paradies).
 
Mit Sesshaftigkeit entsteht in zuvor egalitär und basisdemokratisch organisierten Gemeinschaften soziale Ungleichheit. Indizien archäologischer Forschung zeigen mit der Ausbreitung von Sesshaftigkeit immer mehr Waffenfunde, schwere Verletzungen und befestigte Siedlungen. Das Ausmaß zunehmender Gewalt dokumentiert der Sachverhalt, dass jede größere Siedlung sesshafter Gemeinschaften befestigt oder so schwer zugänglich angelegt war, dass überraschende Angriffe nicht zu befürchten waren. Die Notwendigkeit der Befestigung von Städten und Dörfern reichte bis zur Neuzeit. Die seit der Römerzeit ab dem 1. Jahrhundert entstandene und bis 1815 immer wieder ausgebaute und verstärkte Befestigungsanlage der reichen Stadt Köln (Wikipedia: Stadtmauer Köln) galt als einzigartig wurde erst 1881 niedergelegt.
 
Sesshaftigkeit verursacht zunehmende organisierte Gewalttätigkeit, die von sozialer Ungleichheit verursacht ist. Mächtige Gemeinschaften unterdrücken schwächere Gemeinschaften und beuten sie aus. Sobald reiche Gemeinschaften Schwächen zeigen, überfallen sie Nachbarn, um sich zu bereichern und den eigenen Machtbereich ausdehnen oder um sich von Unterdrückung und Ausbeutung zu befreien. Dieses wechselseitige Gewaltspiel entwickelt sich unter Bedingungen von Sesshaftigkeit als globales kollektives Verhaltensmuster, das sich bis zur Gegenwart fortsetzt. (National Geographic: Warum die Menschen anfingen, Krieg zu führen)
 
Wachsender Reichtum machte befestigte Siedlungen interessant und anfällig für auf Raubzüge spezialisierte Kulturen, wie eurasische Steppenvölker oder als Wikinger bezeichnete kriegerische nordeuropäische Seefahrer. Gemäß historischer Quellen wurde Köln 881/882 von Wikingern überfallen. In welchem Umfang die Stadt zerstört und geplündert wurde, ist historisch nicht gesichert (Geschichte der Stadt Köln, Band 2: Köln im Frühmittelalter, S. 258ff).
 
Der renommierte deutsche Historiker Dieter Langewiesche vertritt die These, dass Kriege als bedeutende Gestaltungskraft der Kulturgeschichte zu verstehen sind (Dieter Langewiesche: Der gewaltsame Lehrer. Europas Kriege in der Moderne, München 2019). Ähnlich argumentiert die kanadische Historikerin Margarat MacMillan, wenn sie darauf hinweist, dass Kriege nicht nur Chaos produzieren, sondern auch als treibender Motor auf kulturelle Entwicklung einwirken (Deutschlandfunk: Kulturgeschichte des Krieges. Warum sich Völker und Nationen bekämpfen).
 
 
7.2 Erbe von Sesshaftigkeit
 
Unter Bedingungen von Sesshaftigkeit und Bevölkerungswachstum entwickeln sich hierarchisch organisierte soziale Strukturen und neue Organisationsformen, die ehemals subsistenzwirtschaftlich ausgerichtete Kulturen auf Wachstum umprogrammieren, ohne Begrenztheit von Ressourcen zu berücksichtigen. Neue Ziele und veränderte Strukturen setzen sich in wenigen Jahrtausenden bis auf wenige Ausnahmen global durch. 
 
Staatsmacht kann sich erst im Rahmen von Sesshaftigkeit entfalten. Modernes Nomadentum in Form 'vagabundierender' Individuen oder Ethnien wird als unzivilisiert, subversiv, parasitär gewertet und teilweise kriminalisiert. Traditionell nomadisch oder halbnomadisch lebende Ethnien können, wenn überhaupt, nur an Rändern vermeintlich fortschrittlicher Zivilisationen überleben. Da Versklavung nicht mehr möglich ist und Genozide inzwischen global geächtet sind, werden native Ethnien typischerweise in Reservate umgesiedelt, deren Landschaft wirtschaftlich nicht effizient nutzbar ist. Ethnien lassen sich nicht zwingen, Werte abgelehnter imperialer Kulturen zu teilen. Versuche der zwangsweisen Umerziehung junger Generationen dieser Ethnien sind gescheitert und gelten inzwischen als unethisch. Gegen formale Normensysteme abgelehnter imperialer Kulturen ist jedoch kein erfolgreicher Widerstand möglich. Erst staatliche Organisation macht diese Ethnien ungefragt und ungewollt zu Trittbrettfahrern kollektiver Güter (siehe Kapitel 6.7) und wirft ihnen anschießend parasitäres Verhalten vor.

Das Sinnhaftigkeit konstruierende mentale Kohärenzsystem nimmt bedeutende strukturelle Veränderungen als vermeintlich kausale Fortschrittsentwicklungen wahr. In der Geschichte der Menschheit über viel längere Zeiträume dominierende egalitäre soziale Strukturen gelten dagegen als rückständig und primitiv. 
Ursprünglich von Machteliten als höfischer Lebensstil ausgeprägte eigene Kulturmuster, Ästhetiken, Geschmacksklassen betrachten privilegierten Eliten als besonders wertvolle Hochkultur, dient der sozialen Distinktion (Abgrenzung und Reproduktion sozialer Unterschiede), indem sie sich von vermeintlich minderwertiger Volks-, Massen-, Alltagskultur absetzt. 
 
In komplexeren Kulturen kommen politische Willensbildung und Entscheidungen auf kollektiver Makroeben traditionell und bis zur Gegenwart auf 2 Wegen zustande:
  • Autokratische politische Ordnungen lösen soziale Probleme im Interesse der Machthaber pragmatisch mittels Anordnung. Abweichende Interessen werden ignoriert oder kriminalisiert. Die Legitimierung politischer Entscheidungen durch Machthaber und fehlender Konsens der Bevölkerung schwächen jedoch autokratische Systeme, weshalb sie regelmäßig Gewaltmethoden anwenden, politische Entscheidungen mittels lügenhafter Propaganda rechtfertigen, freie Meinungsäußerungen unterdrücken, Zensur ausüben, individuelle Freiheiten auf ein politisch opportunes Maß einschränken sowie rechtsstaatliche Methoden verweigern oder nur vortäuschen.
  • Demokratisch organisierte und kontrollierte politische Ordnungen lösen soziale Probleme mittels Mehrheitsentscheidungen, deren Legitimität in der Theorie Mechanismen der Entscheidungskontrolle schützen.
    • In der politischen Realität repräsentativer Demokratie repräsentieren demokratisch gewählte Volksvertreter jedoch selten das Volk und sind nicht nur ihrem Gewissen verpflichtet, sondern auch Wahlkreisen und politischen Fraktionen. Zugleich nehmen Interessen nationaler und globaler Wirtschaft sowie Interessen zahlreiche Verbände entgegen demokratischer Prinzipien Einfluss auf die politische Willensbildung. Politische Entscheidungen repräsentieren daher Interessen vermeintlich systemrelevanter Strukturen stärker als Interessen der Privatbevölkerung.
    • Allerdings darf diese 'Unwucht' nicht zu deutlich ausfallen. Verfassungsrechtlich vorgesehene Kontrollstrukturen, Pressefreiheit und Meinungsfreiheit wirken auf Missbrauchstendenzen ebenso begrenzend wie demokratische Wahlverfahren, die  politische Verantwortung nur auf Zeit verleihen. Wenn politische Vertreter nicht abgewählt werden möchten, müssen sie im Rahmen der Spielräume etablierter Regeln agieren und dürfen nicht in Verruf geraten.
Unstrittig dürfte sein, dass autokratische Regierungsformen Instrumente archaischer Angstsysteme nutzen, diese mit Mitteln von Gewalt, Zwang, Verboten, Kontrolle, Propaganda durchsetzen und sich selbst externer Kontrollierbarkeit entziehen. Frieden stiftende Werte können nur in Gesellschaftssystemen mit demokratischen Verfassungen realisiert werden. Demokratisch organisierte Gesellschaftssysteme sind in politischer Praxis mehr oder weniger perfekt oder defizitär. Demokratische Verfassungen garantieren nicht notwendig demokratische Politik, aber sie ermöglichen Optionen der Kontrolle von Politik. In der Realität der Gegenwart besteht ein breites Spektrum an Ausprägungen demokratischer Kulturen, dessen Varianten der Demokratieindex bewertet.
 
Die Ausübung von Kontrolle darf nicht allein manipulierbaren politischen Gremien überlassen bleiben. Rechte freier Meinungsäußerungen und freie Medien bilden Fundamente der Kontrolle von Machtstrukturen. In der Vergangenheit haben subtile Manipulationsmechanismen Mehrheitsinteressen mit Hilfe religiöser Dogmen zugunsten partikularer Machtinteressen ausgehebelt. Mittel der Manipulation haben sich verändert. In der Gegenwart manipulieren mediale Propaganda und technische Algorithmen Interessen von Mehrheiten, indem sie vermitteln, dass Interessen elitärer Minderheiten allgemeiner Wohlfahrt und dem Lebensglück aller Menschen dienen. Wenn wir uns wehren wollen, müssen wir Ziele, Strategien und Instrumente dieser Interessen mit Hilfe von Wissenschaft (selbstreflexive kulturelle Kontrollsysteme) analysieren und verstehen. 
 
 
7.2.1 Entstehung von Wissenschaft
 
Mit Sesshaftigkeit, Siedlungen, Vorratshaltung, Arbeitsteiligkeit und Bewässerungssystemen der Landwirtschaft nahm der Bedarf für möglichst exakte Vorhersagen von Naturphänomenen zu. Aus der Naturbeobachtung und dem Erkennen von Gesetzmäßigkeiten entstanden frühe Formen von Wissenschaften, die i.d.R von Priesterkasten oder zumindest unter Kontrolle religiöser Institutionen wahrgenommen wurden. Solange Welt als göttliche Schöpfung und religiöse Schriften als göttliche Offenbarungen galten, die nicht infrage gestellt werden durften und Abweichungen von religiösen Normen lebensgefährlich waren, fand reguläre Wissenschaft im Rahmen religiöser Institutionen in engen Grenzen statt und war einer kleinen männlichen Elite vorbehalten.
 
Den Durchbruch eines Denken zweiter Ordnung, das sich auf einer höheren Abstraktionsebene kritisch selbst reflektiert, verorten zahlreiche Kulturwissenschaftler in der sogenannten Achsenzeit, die zeitlich parallel ohne wechselseitige Beeinflussung in der frühen griechischen Antike sowie in China, Indien und im Judentum um das Jahr 2500 v. Chr. gesehen wird.

Eine Blütezeit erlebte Wissenschaft ab dem Jahr 825 im Haus der Weisheit in Bagdad, in dem islamische, jüdische und europäische Wissenschaftler antikes Wissen ins Arabische übersetzten und weiterentwickelten. In Bagdad gesammeltes Wissen gelangte nach Cordoba und Toledo in Spanien, wurde dort vom Arabischen ins Lateinische übersetzt und an europäische Zentren weitergereicht. 1258 zerstörten Mongolen das Haus der Weisheit in Bagdad. Im islamischen Kulturraum haben sich Wissenschaften nicht mehr erholt. Islamische wissenschaftliche Zentren Spaniens zerstörte die Reconquista im Interesse der Kirche, aber nach Europa infiltriertes antikes Wissen entfaltete Wirkung. 
 
 
7.2.2 Ausbreitung von Wissenschaft
 
In Europa sammelte sich antikes und arabisches Wissen insbesondere im heutigen Italien. Soziale und politische Strukturen städtischer Republiken boten relative Freiheiten, die eine Wiederbelebung antiken Wissens ermöglichten und einen als Renaissance bezeichneten Epochenumbruch auslösten. Um das Jahr 1500 begann unter Berücksichtigung religiöser Dogmen und Befindlichkeiten eine kritische Auseinandersetzung mit der Tradition, die sich dank Johannes Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks schnell ausbreitete, aber zunächst nur auf Naturwissenschaften einwirkte.

Kritik an traditionellen Überzeugungen richtete sich nicht gegen die Kirche, sondern wollte die Kirche vor schweren Irrtümern schützen. Die Kirche war jedoch nicht bereit, Fehler und Irrtümer einzugestehen. Sie hielt an traditionellen Lehrmeinungen fest und verurteilte von kirchlicher Lehre abweichende Meinungen als Häresie und Ketzerei, sodass Vertreter solcher Meinungen in die Zuständigkeit von Inquisitionsverfahren fielen, die im Interesse der Reinhaltung des Glaubens in Geheimverfahren vor allem vorreformatorische sektiererische Glaubensrichtungen bekämpften.
 
Von der Inquisition in Schach gehaltene ehemals kleine Gruppen kritischer Wissenschaftler wären möglicherweise unbedeutend geblieben, wenn nicht Reformation und Gegenreformation gravierende religiöse sowie kirchen- und machtpolitische Krisen ausgelöst hätten, als deren Folge sich Wissenschaft aus der religiösen Umklammerung befreien konnte.

Theologische Argumentation auf Seiten der katholischen Kirche blieb gegen die bald schon politisch und institutionell etablierte Reformationsbewegung erfolglos. Auf Einzelpersonen und kleinere Gruppen ausgelegte Inquisitionsverfahren waren mit der Bekämpfung der Reformation überfordert. Daher entwickelte die katholische Kirche mehrere Strategien von Gegenmaßnahmen, die der Begriff der Gegenreformation bündelt. Neben innerkirchlichen Reformen, Missionierung, Diplomatie und politischer Repression sollten barocker Kirchenbau und Förderung von Marienverehrung als Propagandastrategie zur Rekatholisierung beitragen.
 
‚Weiche‘ Maßnahmen konnten die Reformationsbewegung nicht aufhalten, weil Autoritätsverlust der Kirche und veränderte religiös begründete soziale Deutungsmuster die Bevölkerung zu Aufständen gegen Unterdrückung und Ausbeutung motivierten. Kirchliche Machtpolitik setzte auf den Feudaladel, der Religion und kirchliche Institutionen für eigene machtpolitische Interessen instrumentalisierte. Der Feudaladel wollte Bedrohungen seiner abgehobenen politischen und sozialen Stellung abwehren und Chancen für Ausdehnungen seiner Machtsphäre realisieren. Politische Gewaltstrategien der Koalition von Kirche und Adel entfachten in zahlreichen europäischen Ländern Religions- und Befreiungskriege, die zahllose Menschen mit ihrem Leben bezahlten.
 
Gegen Widerstand der katholischen Kirche spaltete sich die institutionelle Kirche. In Deutschland sammelten sich aufklärerische Wissenschaftler in toleranten protestantischen Fürstentümern. Aufgeklärte Wissenschaftler waren keineswegs religionsfeindlich gesinnt, aber sie trennten Wissenschaft von Religion und bewirkten über Jahrhunderte eine Säkularisierung von Wissenschaften. Im 19. Jahrhundert beschleunigten zahlreiche Erfindungen und technologische Innovationen die Dynamik des sozialen und kulturellen Wandels in bis dahin nicht bekannten Dimensionen.

Innerhalb von ca. 400 Jahren zerstörte die Auflösung von Dogmen eine ehemals als göttlicher Wille angenommene, vermeintlich harmonische Ordnung der Welt. Harmonie der Welt gilt nicht länger als göttliches Schauspiel himmlischer Harmonie, wie sie noch Johannes Kepler (1571-1630) angenommen hat. Glaube an die säkulare Glaubensmacht von Wissenschaft löst religiösen Glauben ab (Gottfried Küenzlen: Der alte Traum vom Neuen Menschen). Ehemals religiös begründete Programme von Menschenrechten lösen sich als universelles Naturrecht von ihrer religiösen Basis, bedeuten aber keinen Stillstand. Perspektiven posthumanistischen Denkens betrachten Beiträge der Veröffentlichung Der Neue Mensch.

Als Wissenschaft betriebene Methoden der Erforschung von Realität und als selbstreflexives Kontrollsystem des Denkens sind relativ jung. Wissenschaft erwacht mit der Aufklärung und ihrer Kritik des religiösen Dogmatismus. Der Philosoph Thomas Metzinger versteht ursprünglich religiöse Ideale bedingungsloser Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit gegenüber Gott als Quelle der Entstehung ethischer Wissenschaftsideale (Tomas Metzinger: Spiritualität und intellektuelle Redlichkeit):
  • Ideal der bedingungslosen Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit von Menschen sich selbst gegenüber,
  • Ideal der bedingungslosen Bekenntnis zum Erkenntnisfortschritt.
 
7.2.3 Imperialismus: Kampf um die Weltherrschaft
 
 
8 Anpassungsfähigkeit von Strukturen und Prozessen sozialer Institutionen und formaler Organisationen

Prozesse, die für die Existenz sozialer Systeme bedeutend sind, erfordern Persistenz. Zeitliche Dauerhaftigkeit erzeugen strukturierte Institutionen und formale Organisationen. Persistenz von Strukturen und Prozessen erzeugt Nutzen, indem sie Verhaltenssicherheit herstellt, effiziente Handlungsmuster ermöglicht und Prozesse beschleunigt. 
 
Konstruktionsbedingt resultieren aus Persistenz von Strukturen Nachteile der Beharrlichkeit. Die Anpassungsfähigkeit von Strukturen an veränderte Bedingungen nimmt ab. Daher reagieren Institutionen und formale Organisationen auf veränderte Bedingungen eher träge, mitunter auch unvollständig oder unangemessen, manchmal auch zu spät oder gar nicht. Mit zunehmender Größe von Organisation wachsen sowohl Nutzen als auch Beharrlichkeit persistenter Strukturen. 
 
Veränderungen, die in kontinuierlichen Prozessen nachhaltige Wirksamkeit erwartbar erzeugen, üben Anpassungsdruck auf Organisationen und ihrer Prozesse aus.
  • Organisationen, die unter Bedingungen von Wettbewerb agieren, sind aus Eigeninteresse darin geübt, mit Anpassungsdruck umzugehen. Daher funktionieren Märkte und demokratisch organisierte Verfassungsstaaten selbstregulierend, was nicht als Bewertung von Effizienz oder Qualität zu verstehen ist. Im Gegenteil muss wie in jedem komplexen System permanent nachreguliert werden, wobei sich typisch für große Systeme störende Trägheitsmomente bemerkbar machen. 
  • Institutionen und Organisationen mit Monopolstrukturen sind geringerem Anpassungsdruck ausgesetzt und agieren daher schwerfälliger, z.B. Behörden sowie jede Art von auf weltanschaulich-fundamentalistischen Dogmen beruhenden Einrichtungen wie planwirtschaftliche Ökonomien, politische Autokratien, religiöse Institutionen. 
Wenn Fähigkeiten zur Anpassung sich als nicht ausreichend erweisen, verlieren Organisationen ihre Legitimation, sodass sie sich entweder auflösen oder aufgelöst werden. In dieser Situation befinden sich aktuell religiöse Institution protestantischer und katholischer Konfession (jedoch nicht in allen Ländern), aber auch andere Einrichtungen und ganze Berufsgruppen, die länger erfolgreich waren, aber als Spezialisten über keine ausreichende Anpassungsfähigkeit verfügen (z.B. Warenkaufhäuser, Buchläden, Internet-Cafés, Laufmaschendienste, Heißmangeln etc. oder Böttcher, Hufschmiede, Hutmacher, Schneider etc.) und daher verschwinden oder nur noch in kleinen Nischen überleben.

Sonderfälle bilden in kollektiven Gütern gebündelte Interessen des Gemeinwohls und deren Organisationen (z.B. Bildungseinrichtungen, Systeme sozialer Sicherung, Wohnungsbau, Verkehrsinfrastruktur etc.), die prinzipiell unter Ineffizienz, Übernutzung und Missbrauch leiden (siehe Kapitel 6.7). Diesen Sachverhalt dokumentiert eine endlose Reihe von Beispielen, u.a.:
  • Klimawandel erzwingt tiefgreifende Veränderungen des gesamten Lebensraums, um die Erderwärmung und deren Folgen aufzuhalten. Die Liste zielführender notwendiger Maßnahmen ist bekannt und umfangreich. Umsetzungen erfolgen bestenfalls halbherzig ohne erforderliche Konsequenzen und verschieben so das Problem an nachfolgende Generationen.
  • Ansteigende Geburtenraten erlauben Bedarfsprognosen für benötigte Schulen und Lehrer, ohne dass bedarfsgerechte Infrastrukturen zeitgerecht entstehen.
  • Demographischer Wandel macht umfassende Veränderungen der Strukturen von Gesundheitssystemen, der sozialen Absicherung, von Wohnverhältnissen, von Verkehrsinfrastrukturen etc. erforderlich. Anpassungen erfolgen überwiegend in homöopathischen Dosierungen, die bestenfalls Spitzen von Eisbergen abschmelzen. 
  • Kindergeldregelungen können dazu motivieren, Einkünfte aus Kindergeld zu beziehen, anstatt einer beruflichen Tätigkeit nachzugehen. 
  • Sozialleistungen können dazu motivieren, diese als Basiseinkommen zu nutzen, steuerpflichtige Einkünfte zu vermeiden und zusätzliche Einkünfte mit Schwarzarbeit zu erzielen.
  • Illegale Formen der Schwarzarbeit beruhen prinzipiell auf parasitärem Verhalten, weil auch Schwarzarbeiter Kollektivgüter nutzen.
Zu berücksichtigen ist, dass politische Handlungsfähigkeit durch besondere Randbedingungen eingeschränkt oder verhindert sein kann:
  • Komplexität der Realität erzeugt nicht vorhersehbare kontingente Ereignissen (z.B. Kriege, Naturkatastrophen, Pandemien), die Krisen auslösen, für die keine Lösungen vorgehalten werden können und auf die oftmals auch nicht adäquat reagiert werden kann. 
  • Kompetenzrahmen politisch Verantwortlicher beschränken sich auf Legitimationsräume, über die hinaus keine Handlungskompetenz besteht. Globale Problementwicklungen und Krisen stellen dagegen Aufgaben, die nur global lösbar sind und daher Konsens über globale Willensbildung erfordern. Aufgrund fundamental unterschiedlicher Interessenlagen ist die Herstellung von Konsens zur Lösung solcher Problemfelder in überschaubaren Zeiträumen nicht zu erwarten, weshalb eine Reihe globaler Probleme nicht lösbar sind. Die nachfolgende Liste von Problemfeldern ist sicherlich unvollständig:
    • Beachtung von Menschenrechten, 
    • von Menschen verursachte Änderungen des Klimas,
    • Überbevölkerung,
    • Verschmutzung und Überfischung der Weltmeere,
    • Artensterben,
    • Abholzung von Regenwäldern,
    • Vermüllung des erdnahen Weltraums,
    • Lichtverschmutzung,
    • Cyberkriminalität und Cyberterrorismus,
    • Verrohung und Verdummung von Menschen via elektronische Medien,
    • usw.
Kumulierungen dieser Problemfelder erhöhen globale Risikopotentiale beträchtlich und setzen unbeherrschbare Migrationsströme in Gang, die nur global lösbar wären, aber unter Bedingungen von Realpolitik nicht lösbar sind. Kontroverse Auseinandersetzungen sind Indizien dafür, dass diese Problemfelder für politisch Verantwortliche eines Landes oder von Ländergemeinschaften weder ethisch noch sozial oder ökonomisch mit rational vertretbaren Argumenten und politischen Mitteln beherrschbar sind. 

 
9 Komplexität sozialer Realität der Gegenwart aus ethischer Sicht

Sesshaftigkeit erzeugt eine neue Qualität sozialer Komplexität und Dynamik, die über mehrere Jahrhunderte als Fortschritt gedeutet wurde. Fortschrittsideen leben noch. Für Marketing sind Fortschrittsbehauptungen unverzichtbar, aber auch Politik und Wirtschaft operieren ständig mit Fortschrittsbegriffen. Seriös betrachtet erweist sich Fortschritt als ein von Wunschdenken erzeugter zäher Mythos. Fragwürdigkeiten des Fortschritt-Begriffs betrachtet der Post Konstruktion und Dekonstruktion der großen Erzählung vom Fortschritt. Ambivalente Fortschritts-Vorstellungen beschreibt der lesenswerte Wikipedia-Artikel Fortschritt.
 
Beispiele dieses Kapitels dokumentieren, dass wir uns global in einer Phase befinden, in der Komplexität, Chaos und Kontingenz nicht abnehmen, sondern im Gegenteil wachsen und Dynamiken nicht kontrollierbaren kulturellen Wandels beschleunigt. Wissenschaften müssen einräumen, dass die Beherrschbarkeit kultureller Makroprozesse abnimmt und mit ihr Hoffnungen auf eine bessere Welt sterben.  
 
 
9.1 Bevölkerungsentwicklung
 
Zur Zeitenwende wird die Weltbevölkerung mit 200 - 300 Millionen Menschen geschätzt. Um 1650 lebten ca. 500 Millionen Menschen auf der Erde. Die Wachstumsrate betrug zu diesem Zeitpunkt 0,3 % (Wikipedia: Bevölkerungsentwicklung). Um 1800 lebten ca. 1 Milliarde Menschen auf der Erde. Für das Jahr 2022 gibt der Weltbevölkerungsbericht der Vereinten Nationen die Weltbevölkerung mit 8 Milliarden Menschen an.
 
Ab 1650 setzte ein exponentielles Bevölkerungswachstum ein, das vor ca. 200 Jahren in ein hyperexponentielles Wachstum überging und seit wenigen Jahrzehnten in globaler Betrachtung wieder abnimmt, aber regional sehr unterschiedlich ausfällt (BPB: Bevölkerungsentwicklung).   In Szenarien modellierte Prognosen erwarten in der mittleren Variante bis zum Jahr 2100 ein Wachstum um weitere 3 Milliarden Menschen.
 
Seit dem 18. Jahrhundert entstehende Nationalstaaten haben sich vermutlich als Reaktion auf diese Entwicklung herausgebildet. Bestrebungen zur Ausweitung staatlicher Machtsphären und zur Absicherung staatlicher Souveränität vergrößern Konfliktpotentiale und verschärfen in Verbindung mit Entwicklungen der Waffentechnologie die Art und Weise der Austragung von Konflikten, die schnell zu Vernichtungskriegen und Genoziden eskalieren können. Informationsmedien berichten über diesen Sachverhalt täglich. 

 
9.2 Menschenrechte
 
Unter dem Eindruck von 2 Weltkriegen wurde 1945 zum Schutz der Idee friedlichen Völkerrechts die Organisation der Vereinten Nationen gegründet. Diese verabschiedete im Oktober 1945 die zunächst von 51 Mitgliederstaaten unterzeichnete Erklärung der Menschenrechte. Der Katalog von Menschenrechten basiert auf im kollektiven Gedächtnis verankerten egalitären sozialen Mustern.
 
Seit 2011 haben die Vereinten Nationen 193 Mitglieder, die sich bis auf 10 politisch relativ unbedeutende Staaten zur bindenden Beachtung der UN-Charta verpflichtet haben. Einhaltung und Missachtung von Regeln überwachen mehrere Gremien der UN. Der Erfolg dieser Bemühungen ist mehr als dürftig. Global nehmen Kriegsaktivitäten in den letzten Jahrzehnten zu, was sicherlich auch eine Folge der politischen Verfassung von Staaten ist. Sozialindikatoren des Demokratieindex dokumentieren, dass Volldemokratien eine globale Minderheit bilden. Auswertungen des Jahres 2021:
  • 21 Länder (12,6 %) gelten als Volldemokratien, die insgesamt 6,4 % der Weltbevölkerung repräsentieren. Im Vergleich von Volldemokratien unterscheidet sich die Qualität der Umsetzung erheblich. In Europa zeigen sich in den Richtungen Nord-Süd und West-Ost deutliche Gefälle.
  • 53 Länder (31,7 %) gelten als unvollständige Demokratien, die insgesamt 39,3 % der Weltbevölkerung repräsentieren.
  • 34 Länder (20,4 %) gelten als Hybridsysteme, die insgesamt 17,2 % der Weltbevölkerung repräsentieren.
  • 59 Länder (35,3 %) gelten als Autokratien, die insgesamt 37,1 % der Weltbevölkerung repräsentieren.
Ein Zeitreihenvergleich ist mangels anderer Zahlen auf das Jahr 2006 beschränkt. Dieser Vergleich zeigt, dass die Anzahl demokratischer Staaten abnimmt und autoritäre Regime sich ausdehnen:
  • 27 Länder (16,8 %) gelten als Volldemokratien
  • 53 Länder (31,7 %) gelten als unvollständige Demokratien
  • 31 Länder (18,6 %) gelten als Hybridsysteme
  • 55 Länder (32,9 %) gelten als Autokratien
Unterdrückung von Menschenrechten, Gewaltexzesse autoritärer Diktaturen und Terror politisch anarchischer Staaten erzeugen nicht planbare und nicht kontrollierbare Migrationsströme. Anfang 2022 hat so gut wie niemand Russlands Krieg gegen die Ukraine erwartet. Im gleichen Jahr strömen mehr als 1 Millionen ukrainische Flüchtlinge alleine nach Deutschland. Niemand kann vorhersagen, wann und wo die nächsten Großkonflikte ausbrechen und neue Migrationsströme entstehen. 
 
 
9.3 Religionen im Kontext kultureller Weltbilder
 
Im Rückblick sind Entwicklungsphasen kultureller Muster identifizierbar, die mit Veränderungen religiöser Vorstellungen und Institutionen einhergehen:
  1. Vermutlich entstehen bereits mit der Homonisation neurobiologisch verwurzelte kulturelle Angstpuffer protoreligiöse Vorstellungen (Kapitel 4.2), die als Spiritualität bezeichnete Emotionen des mentalen Systems erzeugen.
  2. Mit dem Übergang zu ortsgebundener sesshafter Lebensweise entstehen auf protoreligiöse Vorstellungen basierende Religionssysteme (Kapitel 4.3.4), in denen sich Machteliten als Götter inszenieren.
  3. In der sog. Achsenzeit entwickelt sich vor 2.500 Jahren rationales Denken, mit dem eine 'Entgöttlichung' von Machteliten stattfindet und sich monotheistische Religionssysteme ausbreiten (Kapitel 4.4.1). Die 3 großen Buchreligionen (Judentum, Christentum, Islam) sowie Hinduismus und der vorwiegend patriarchalisch gedeutete Buddhismus zementieren mit religiöser Rechtfertigung das Patriarchat und damit wirtschaftliche und sexuelle Unterdrückung von Frauen. Religiöse Lehren der Buchreligion sind dogmatisch ausgerichtet und unterdrücken Toleranz. (Bzgl. Hinduismus und Buddhismus sind hierzu mangels eigener Kompetenz keine fundierten Aussagen möglich). 
  4. Mit der 'Entgöttlichung' politischer Machteliten gewinnen Priesterkasten politischen Einfluss. Zwischen geistlicher und weltlicher Herrschaft entwickelte sich eine 'Arbeitsteilung'. Indem geistliche Führung Menschen gefügig machte und weltliche Führung legitimierte, geriet weltliche Führung in verstärkter Abhängigkeit von geistlicher Führung.  Im Christentum folgte eine lange Phase der Auseinandersetzung zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt aus der schließlich die Reformation resultierte und geistliche Führung ihre politische Macht verlor, aber das Denken von Menschen weiter dogmatisch einengte.
  5. Mit der ab ca. dem Jahr 1700 einsetzenden Aufklärung entwickelt sich neuzeitliches rationales wissenschaftlichen Denken säkularer Art, mit dem die Durchsetzbarkeit fundamentalistischer Dogmen abnimmt. In westlichen Kulturen setzt sich Religionsfreiheit durch, mit der eine Auflösung institutionalisierter Religionssysteme einsetzt und religiöse Überzeugungen an private individuelle Glaubenssysteme verwiesen werden.
    Religionssysteme lösen sich nicht auf, weil elementare Ängste oder Bedarf für Sinnkonstrukte abgenommen hätten, sondern weil ihnen Anpassungen an kulturelle Veränderungen nicht gelingen und sie daher Glaubwürdigkeit einbüßen.
Abnehmende Bedeutung institutionalisierter Religionssysteme westlicher Länder übt erheblichen Einfluss auf kulturelle Entwicklungen aus:
  • Patriarchat und Dominanz männlicher Kultur verlieren religiöse Legitimierung und gelten nicht mehr als kulturelle Selbstverständlichkeit, sondern sind zunehmend negativ konnotiert (siehe 6.4).
  • Zunehmender kultureller Wertepluralismus beeinflusst zahlreiche Lebensbereiche: 
    • Enttabuisierung von Sexualität,
    • Entkriminalisierung und soziale Tolerierung von Geschlechterdiversität,
    • Veränderung von Erziehungszielen und pädagogischen Konzepten,
    • Zunahme von Scheidungsraten und Single-Lebensweisen,
    • Zunehmende Individualisierung von Verhaltensmustern verstärkt soziale Fragmentierung und schwächt soziale Kohärenz.
    • Individualisierung von Wertemustern verstärkt Orientierungsdefizite und Vereinsamung und öffnet medial bespielte Räume für fremdbestimmte Sinnkonstrukte und Verhaltensmanipulationen jeglicher Art. 
    • Wertepluralismus westlicher Kulturen erzeugt Konflikte mit weltanschaulich-dogmatischen Systemen religiöser Art (insbesondere des Islams) sowie politisch-autokratischer Art (China, Russland etc.).
 
9.3.1 Religion als vorsätzlich kultiviertes adaptives Wahnsystem 
 
In kultureller Evolution entstehende Bestattungsriten, Ahnenkulte und Schamanismus werden allgemein als Symbole geteilter Glaubenssysteme größerer Menschengruppen aufgefasst. Über Inhalte von Glaubenssystemen prähistorischer Kulturen sind nur spekulative Aussagen möglich. Das Modell der Terror-Management-Theorie (Kapitel 4.2.1) deutet die Entstehung geteilter Glaubenssysteme als Instrumente der kulturellen Verfestigung von Verhaltensweisen, die Menschen Angst vor dem Tod nehmen und den Zusammenhalt von Gruppen wesentlich verstärken.

Der Philosoph Thomas Metzinger versteht die Entstehung von Religion ebenfalls im Sinne der Terror-Management-Theorie als Mechanismus der Bewältigung von Todesangst. Metzinger legt jedoch seinen Fokus auf Glaubenssysteme, die er aus ethisch-philosophischer Sicht betrachtet.(Tomas Metzinger: Spiritualität und intellektuelle Redlichkeit (PDF), Anmerkungen und Zitate dieses Kapitels beziehen sich auf diesen 39-seitigen Text.)

Metzinger fasst Glaubenssysteme als fideistisch-dogmatische Modelle der Wirklichkeit auf und Religion als eine Ausprägung solcher Modelle.
  • Fideismus definiert Metzinger als „reinen Glaubensstandpunkt“ (im Gegensatz zu Vernunft) bzw. als Auffassung, „dass es nicht nur dann völlig legitim ist, an einer Überzeugung festzuhalten, wenn es keinerlei Evidenzen oder gute Gründe für diese Meinung gibt, sondern auch dann, wenn es beliebig viele Evidenzen oder gute Gründe gegen sie gibt.
  • Als Dogmatismus bezeichnet Metzinger „die These, dass es völlig legitim ist, an einer Überzeugung festzuhalten, einfach deshalb, weil man sie ja schon hat – die pure Tradition, ohne empirische Evidenzen und ohne vernünftige Gründe.
In Metzingers Perspektive ist Religion eine Strategie der Selbsttäuschung, die subjektiv und lokal erfolgreich, aber objektiv und global zerstörerisch wirkt: (S. 21) 

"Natürlich ist es wahr, dass solche Glaubenssysteme für einzelne Menschen und in kurzen Zeiträumen das subjektive Leiden wirksam vermindern können. Sie spenden Trost, ermöglichen intensive Gemeinschaftserfahrungen und das Erleben von Geborgenheit in einer unsicheren Welt, sie sind sozusagen metaphysische Placebos, die in der existentiellen Palliativmedizin eingesetzt werden. Für die Menschheit als Ganze ist diese Strategie aber objektiv nicht nachhaltig. Das ist der sachliche, für jeden leicht zu verstehende Punkt: Die lokale, kurzfristige Stabilisierung des Selbstwertgefühls erzeugt auf globaler Ebene immer wieder unfassbares Leid."
 
Die Bezeichnung als "adaptives Wahnsystem" rechtfertigt Metzinger mit dem Sachverhalt, dass Religionen Anpassungen darstellen, die existenzielle Todesangst bewältigen: (S. 21)
 
„Wahn“ ist zunächst, rein psychiatrisch gesehen, eine offensichtlich falsche Überzeugung, die mit einem starken subjektiven Gewissheitserleben einhergeht und die durch vernünftige Argumente oder empirische Belege nicht korrigiert werden kann. Ein System aus Wahnvorstellungen ist ein ganzes Netzwerk zusammenhängender Überzeugungen, das auch von vielen Menschen miteinander geteilt werden kann. 
[...]
„Dass ein Wahnsystem „adaptiv“ ist, bedeutet, dass es eine Anpassungsleistung darstellt. Adaptive Wahnsysteme sind Versuche, sich an eine unerwartete Herausforderung anzupassen, an eine neue Gefahr, die gleichzeitig in der Innen- und der Außenwelt eines Menschen auftritt.“
 
Der Aspekt des Wahnsystems reicht jedoch deutlich weiter, als auf dem ersten Blick zu erkennen ist. Wahnsysteme beruhen auf Mechanismen, die u.a. mit Hilfe von Drogen oder Ekstasetechniken gezielt erzeugt werden können. Aus psychiatrischer Sicht beeinträchtigen Systeme von Wahnvorstellungen Menschen in ihrer Lebensführung. In Metzingers Abstraktion handelt es sich um Systeme der Selbsttäuschung, die unterschiedlich zustande kommen können. Dass dieser Zusammenhang für religiöse Glaubensvorstellungen bestritten wird, hält Metzinger für falsch und betrachtet Religiosität als eine evolutionär entwickelte Variante eines geisteskranken Bewusstseinszustands:
 
„Wenn man von adaptiven Wahnsystemen redet, spricht man indirekt natürlich auch von geistiger Gesundheit und Krankheit. Eine interessante neue Einsicht könnte also sein, dass die Evolution insbesondere auch auf der psychologischen und soziokulturellen Ebene allem Anschein nach erfolgreiche Formen von geistiger Krankheit hervorgebracht hat.“
 
Bei Verzicht auf ausführliche Begründungen des Textes lässt sich das Verständnis von Religion als ein vorsätzlich kultiviertes adaptives Wahnsystem auf vier Aussagen verdichten: (S. 28)
  • „Religion maximiert emotionalen Profit – sie stabilisiert das Selbstwertgefühl, bietet dem Menschen Trost, Gemeinschaftserleben, Geborgenheit und gute Gefühle.“
  • „Religion opfert die eigene Vernünftigkeit für die emotionale Kohärenz des Selbstmodells.“
  • „Religion ist von der Grundstruktur her dogmatisch und damit intellektuell unredlich.“
  • „Religionen organisieren sich und missionieren.“
 
9.3.2 Extrinsische und intrinsische Religiosität
 
Die Religionspsychologie unterscheidet je nach Motivation zwischen 2 Arten (Wikipedia: Religiosität):
  • "Intrinsische Religiosität: Menschen, die ihre Bedürfnisse nach ihren religiösen Überzeugungen ausrichten und befriedigen (Ziel der Religionslehre)
  • Extrinsische Religiosität: Menschen, für die es persönliche Vorteile bringt, einer Religionsgemeinschaft anzuhören, z. B. als Ablenkung, Rechtfertigung oder aus Statusgründen (Widerspruch zur Religionslehre, siehe auch Scheinheiligkeit)."
Kultureller Wertepluralismus beschleunigt den Zerfall religiöser Institutionen im Sinne extrinsischer Religiosität, die pragmatisch auf emotionale oder soziale Vorteile abzielt, wenn Lehrmeinungen am religiösen Dogmatismus festhalten und keine individuellen Vorteile oder persönlicher Nutzen die Verbundenheit zu kirchlichen Einrichtungen rechtfertigen. Die Zunahme von Kirchenaustritten belegt diesen Sachverhalt. 
 
Toleranz und Wertepluralismus sind Ausprägungen von Bildung. Daher überrascht nicht, wenn religionssoziologische Untersuchungen für Länder der EU nachweisen, dass intrinsische Religiosität (Glaube an Gott oder an andere höhere Mächte) mit zunehmender Bildung abnimmt. (Wikipedia: Religiosität.Religionssoziologische Untersuchungen)
 
In Vorstellungen von Spiritualität überdauert intrinsische Religiosität in Form von Anschauungen einer sinnlich nicht fassbaren und rational nicht erklärbaren transzendenten Realität, die hinter oder über der materiellen Welt liegt und aus der die materielle Welt hervorgeht. Intrinsische Religiosität beruht gemäß Annahmen der Terror-Management-Theorie auf psychologischen Grundbedürfnissen (Kapitel 4.2). Beim Zerfall religiöser Institutionen bleiben diese Bedürfnisse erhalten. Religiöses Vakuum erzeugt Nachfragen nach Alternativen und öffnet Märkte für Angebote aller Art, die sowohl spirituell als auch konsumorientiert ausgerichtet sein können und vor allem als Geschäftsmodelle betrieben werden, aber prinzipiell und oftmals mit zweifelhaften Methoden auf emotionale Bedürfnisse abzielen.
 
 
9.3.3 Segen und Fluch von Religionen
 
In der biblischen Schöpfungsgeschichte sprach Gott am 6. Tag (Genesis 1, Lutherbibel 2017):
"Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden kriecht."(28)
[...]
"Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut. Da ward aus Abend und Morgen der sechste Tag."
Die Menschheit hat den Auftrag erfüllt. Wie man sich täuschen kann!
 
In funktionalistischer Perspektive hat Religion als soziales Phänomen zwei zu berücksichtigende Seiten:
  • Als eusoziales Phänomen erfüllt Religion weitgehend unstrittige individuell sinnstiftende sowie kollektiv integrierende und stabilisierende Funktionen. 
  • Die Wertschätzung des eigene kulturellen Weltbildes kann nur dann eine psychologische Schutzfunktion erfüllen, wenn sie zugleich eine Abwertung alternativer kultureller Weltbilder (Glaubenssysteme) vornimmt. Daneben hat Religion auch eine dunkle, destruktive, konfliktreiche zweite Seite, die aus Funktionen von Religion als Instrument politischer Macht sowie aus Dogmatismus resultieren.
Diese Zusammenhänge manifestieren sich in 3 Sachverhalten: 
  • Kulturelle Weltbilder und Religionen konkurrieren nicht nur, sondern sie bekämpfen sich seit der Entstehung von Religionssystemen (Kapitel 4.3.4) mit Heiligen Kriegen und Religionskriegen, was Beschreibungen fideistisch-dogmatische Modelle der Wirklichkeit als adaptives Wahnsystem rechtfertigt. (The Inquisitive Mind: Im Angesicht des Todes: Die psycholigische Schutzfunktion und ihre Folgen)
  • Mit zunehmendem säkularen Wertepluralismus nehmen dogmatische Vorstellungen richtigen Lebens und Verhaltens ab sowie Toleranz und individuelle Freiheiten zu, was sich u.a. in abnehmender Bedeutung religiös-dogmatischer Verhaltensvorschriften oder in Freiheiten der sexuellen Orientierung und des Sexualverhaltens zeigt, aber prinzipiell für alle Lebensbereiche gilt. 
  • Indem säkularer Wertepluralismus religiösen Dogmatismus auflöst, schwächt er institutionalisierte dogmatische Glaubenssysteme. Wenn die Annahme richtig ist, dass Glaubenssysteme funktionale Bedürfnisse erfüllen, gehen mit dem Verlust von Glaubenssystemen Funktionen dieser Systeme verloren:
    • Auf der sozialen Kollektivebene entsteht ein Verlust an eusozial-integrierenden Funktionen. 
    • Auf psychischer individueller Bewusstseinsebene entsteht ein Verlust an Kohärenz (Sinnstiftung).
    Da funktionale Bedürfnisse weiter bestehen, nimmt zwangsläufig die Empfänglichkeit für alternative Sinnkonstrukte und Glaubenssysteme zu.
 
9.4 Patriarchat und Feminismus
 
in westlichen Kulturen bewirkt der Bedeutungsverlust von Religionssystemen, dass Patriarchat seine Rechtfertigung verliert. Feministische Bewegungen setzen die Stärkung legitimer Frauenrechte und die Gleichstellung der Geschlechter durch.

Entwicklungen westlicher Kulturen mit rechtlicher Gleichstellung aller Menschen bleiben aufgrund globaler medialer Vernetzung in Kulturen mit dogmatisch-autokratischen und dogmatisch-religiösen Regierungssystemen nicht verborgen. Gleichstellungsrechte sind im kollektiven Gedächtnis als egalitäre soziale Muster verankert und werden global auch in weltanschaulich-dogmatisch geordneten Kulturen eingefordert, in denen sie mit etablierten dogmatischen Strukturen nicht vereinbar sind und daher in zahlreichen Kulturen starke Konflikte erzeugen oder zumindest Konfliktpotentiale entwickeln. Um Revolutionen zu verhindern, reagieren Regierungssysteme dieser Länder mit brutaler Gewalt und moderaten Lockerungen ihrer Zwangssysteme. Mittelfristig werden politische Umbrüche nicht zu verhindern sein. In der Zwischenzeit sind je nach Stärke von Repressionen und Gewalt neue Migrationsströme zu erwarten.


5.5 Pandemien

Die Covid-19-Pandemie dürfte bis auf Verschwörungsgläubige dem größten Teil der Menschheit bewusst gemacht haben, dass Pandemien dieser Art nie vollständig beherrschbar sind, jederzeit auftreten können und Risiken mit Bevölkerungswachstum und Bevölkerungsdichte zunehmen. Im Unterschied zu zuvor genannten Risiken wirken Pandemien bremsend auf Migrationsströme, weil Länder Grenzen schließen und Bedingungen Transfers verhindern. So war es zumindest bei der Covid-19-Pandemie. Ob diese eine Blaupause für zukünftige Pandemien sein wird, ist zwar zu erwarten, aber keineswegs sicher.
 
 
9.6 Klimawandel und Klimapolitik
 
Auf Wirtschaftswachstum programmierte westliche Kulturen haben Prozesse in Gang gesetzt, die sich als Klimawandel auswirken und eine globale Bedrohung darstellen. Inzwischen nehmen zahlreiche nicht-westliche Staaten an einer beschleunigenden Entwicklung der Klimaveränderung teil, die voraussichtlich nicht reversibel ist, Lebensgrundlagen zahlreicher Menschen zerstört und unkontrollierbare Migrationsströme verstärkt. Ob Klimaneutralität bis 2045 erreichbar ist oder überhaupt prinzipiell erreichbar ist, vermag niemand realistisch abzuschätzen. Selbst wenn ab sofort Klimaneutralität erreicht wäre, würde sich menschengemachter Klimawandel noch über mehrere Jahrhunderte fortsetzen. 
 
Behauptete Klimaneutralität von Unternehmen beruht häufig auf Greenwashing (PR-Lügen), mit dem ethisch verantwortliches Handeln von Unternehmen hinter oberflächlichen Aussagen zu Emissionen vorgetäuscht wird. Im Kern geht es um verborgene Fragen politischer und wirtschaftlicher Ethik, die eine Neuausrichtung von Wirtschaftssystemen und globaler Beziehungen notwendig macht. In der politischen Realität scheitern Klimaprogramme, weil sie von wohlhabenden Ländern (=Klimasünder) nur halbherzig (EU, Japan), nicht ernsthaft (USA, China, Australien) oder gar nicht (Russland) umgesetzt werden. Schwellenländer und Entwicklungsländer haben andere Sorgen und lassen sich für Klimasünden wohlhabender Länder nicht in Verantwortung nehmen.
  • Stattdessen wurde in der EU als zentrales politisches Steuerungsinstrument 2005 ein Emissionshandelssystem eingeführt, das bis 2017 seine Wirksamkeit vollständig verfehlte, zu Missbrauch einlud und neue Arten von Kriminalität ermöglichte. Seit 2018 verbessern zwar mehrere Reformen die Wirksamkeit, aber anstatt Emissionen zu reduzieren, profitieren große industrielle Klimasünder noch immer mit zusätzlichen Gewinnen vom Emissionshandel. Die EU beabsichtigt im Rahmen ihres Programms Green Deal(!) mindestens bis 2025 weiter Gratiszertifikate an die Industrie auszugeben (ZDF, 5.10.2021: Industrie profitiert vom Emissionshandel). 
  • Im Dezember 2022 wurden zwar Regeln der EU im Rahmen einer Reform verschärft, aber Schlupflöcher bestehen für die Industrie nach wie vor. Mittlerweile sollte jeder verstanden haben, dass Klimaziele nicht mit Marktmechanismen erreicht werden, e-Mobilität mit Tricks klimafreundlich gerechnet wird (ZDF, 12.09.2021: Wie umweltfreundlich sind E-Autos wirklich?) und Elektroautos nicht sauberer sein können als der Strom, mit dem sie fahren. Um Klimaziele zu realisieren, ist Politik viel stärker gefordert, als politische Willensbildung bisher auf den Weg gebracht hat (ZEIT, 20.02.2023: Kann der Markt das Klima schützen?). 
  • Schwellenländer und Entwicklungsländer sehen bzgl. Emissionen überwiegend scheinbar vorbildlich aus, was aber nicht ethischer Umweltpolitik zu verdanken ist, sondern aus fehlender wirtschaftlicher Potenz resultiert, die kolonialer Ausbeutung durch europäische Staaten geschuldet ist. Auf ethische Dimensionen der Klimaproblematik macht ein unter Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 4.0" veröffentlichter Artikel von Jenny Kurwan aufmerksam: Klimagerechtigkeit
Neben Temperaturanstiegen und Veränderungen von Wetterlagen sind Verschiebungen von Windsystemen und Meeresströmungen zu erwarten, deren Folgen im Detail nicht vorhersagbar sind, die aber schwerwiegend ausfallen werden. 
Gletscherschwund und Eisschmelze und mit ihnen ansteigende Meeresspiegel sind ein allgemeinverständlicher plakativer Ausschnitt des von Klimaveränderungen verursachten Szenarios, das viel umfassender ausfällt, als dieser Ausschnitt vermittelt. U.a. sind Migrationswellen in Größenordnungen zu erwarten, die aktuelle Migrationswellen und von ihnen bewirkte Konflikte übertreffen werden. 
 
Komplexität erlaubt im Rahmen beschränkter Modelle nur Wahrscheinlichkeitsprognosen zu  Auswirkungen von Klimaveränderungen. Vorhersagen zu globalen Konflikten der Menschheit und ihr soziales Zusammenleben unter Bedingungen schrumpfender Lebensräume bei gleichzeitig wachsender Bevölkerung sind noch weit unsicherer. Denkbare Szenarien möchte sich niemand ausmalen und schon gar nicht erleben.

Beschriebene Probleme und Szenarien sind bekannt. Trotzdem agiert Politik zögerlich, halbherzig oder gar nicht, und nur ein kleiner Anteil aller Menschen ist bereit, eigenes Verhalten zu ändern, solange Krisen nur erwartet werden, aber noch nicht eingetreten sind. Unter Bedingungen, die einen täglichen Kampf um Überleben erfordern, ist dieses Verhalten nachvollziehbar. Weshalb sich in wohlhabenden Ländern Verhaltensänderungen nicht durchsetzen und nur zart verbreiten, ist nicht spontan plausibel. Hierzu muss man verstehen, dass Klima ein Gemeingut ist. Gemeingüter können nur mit politischem Willen wirksam geschützt werden. Bezüglich Gemeingüter sind Willensbildung und Herstellung von Konsens  bereits innerhalb von Staaten nur in hoch komplexen Prozessen mit großen Anstrengungen erreichbar (wenn überhaupt). Auf internationaler Ebene wachsen Komplexität, Schwierigkeiten und notwendige Anstrengungen exponentiell (siehe EU). Auf globaler Ebene werden Grenzen der Beherrschbarkeit von Komplexität und Schwierigkeiten erreicht oder überschritten. Tragik kollektiver Güter betrachtet das Folgekapitel.
 
 
9.7 Kollektive Güter
 
Ökonomische und soziologische Theorien unterscheiden aufgrund unterschiedlicher Nutzungsbedingungen zwischen exklusiv genutzten privaten Gütern sowie frei zugänglichen kollektiven Gütern und Dienstleistungen, von deren Nutzung niemand ausgeschlossen werden kann. Sobald Menschen in Gruppen zusammenleben, entstehen frei zugängliche kollektive Güter, die je nach Einschränkungen ihrer Nutzung 3 Klassen bilden:
  • Gemeingüter sind solche kollektiven Güter, die allen Nachfragern unentgeltlich zur Verfügung stehen und gleichzeitig genutzt werden können, z.B. Klima, Luft, Naturlandschaften, Meere etc.. Bei diesen Gütern besteht prinzipiell die Gefahr von Missbrauch, Übernutzung, Ausbeutung. Weil Menschen gewöhnlich nicht bereit sind, für Nutzung, Erhalt und Schutz dieser Güter zu zahlen, können diese Güter i.d.R. nicht privatwirtschaftlich angeboten werden. Wenn Gemeingüter für Grundversorgungen notwendig sind, übernimmt der Staat die Versorgung in Form öffentlicher Güter. 
  • Öffentliche Güter sind Gemeingüter, deren Grundversorgung vom Staat bzw. öffentlichen Einrichtungen zur Verfügung gestellt wird, z.B. Bildungseinrichtungen, Verkehrsinfrastrukturen, Trinkwasserversorgung, Brandbekämpfung, Katastrophenschutz, Landesschutz, soziale Sicherungsnetze etc.. Damit diese Leistungen angeboten werden können, sind Ressourcen erforderlich, zu deren Bereitstellung Nutznießer (natürliche und juristische Personen) Steuern als Entgelt zahlen. 
  • Allmendegüter sind eine Unterklasse öffentlicher Güter, deren Nutzung auf Anspruchsberechtigte eingegrenzt ist (Bürger eines Staates, Einwohner einer Stadt oder Gemeinde etc.). Von der Nutzung kann kein Anspruchsberechtigter ausgeschlossen werden, aber bezüglich der Nutzung besteht aufgrund begrenzter Ressourcen eine hohe Rivalität (z.B. Services öffentlicher Dienstleistungen, Plätze in Bildungseinrichtungen, öffentliche Weide- und Wasserwirtschaft etc.). 
 
9.7.1 Tragik und Rationalitätsfallen kollektiver Güter
 
Wenn Ressourcen kollektive Güter begrenzt und nicht teilbar sind, entsteht Rivalität. In Selbstorganisation funktionieren kollektive Nutzungsformen mit gerechter Verteilung auch bei knappen Ressourcen, wenn Nutzungen ausreichend transparent sind und soziale Kontrolle stattfindet. 
 
Ohne Kontrolle besteht in großen Kollektiven ein Trend zu egoistischer Nutzung und zur Übernutzung von Ressourcen. Nutzer nehmen sich als nicht verantwortlich für einen achtsamen Umgang mit kollektiven Gütern wahr und maximieren ihren eigenen Nutzen ohne Rücksicht von Auswirkungen auf andere Menschen. Unter diesen Bedingungen entstehen zwischen rivalisierenden Nutzern Rationalitätsfallen in Form des Auseinanderfallens zwischen individueller Rationalität (rational vernünftig im Sinne der Maximierung individuellen Nutzens) und kollektiver Rationalität (rational vernünftig, wenn die Summe der Einzelnutzen den Nutzen für die soziale Gemeinschaft maximiert). Bei begrenzten Ressourcen und rivalisierenden Nutzern ist kollektiver Nutzen Pareto-optimal, d.h. kein Nutzer kann besser gestellt werden, ohne dass ein anderer Nutzer schlechter gestellt werden kann, z.B. kann ein Fisch nur einmal gefangen und verzehrt werden oder ein Baum nur einmal gefällt und verarbeitet werden. 
 
Kollektiver Nutzen begrenzter, nicht teilbarer kollektiver Güter ist prinzipiell Pareto-optimal. Eine gerechte, effiziente, nachhaltige Bewirtschaftung dieser Güter ist bei konkurrierender individueller Rationalität erschwert und wird bei Missbrauch verhindert. Um solche Situationen zu regeln, sind Kontrollmechanismen erforderlich, etwa durch öffentliche Institutionen oder durch Privatisierung von Gütern (wie das z.B. bei Zwangsversicherungen, Post, Telefon- und Straßennetzen sowie teilweise bei Verkehrsinfrastrukturen praktiziert wird), die jedoch für einige kollektive Güter nicht in Frage kommen (z.B. für Klima, Luft, natürliches Licht). 
 
Im Fall der Privatisierung üben Marktmechanismen Kontrolle via Angebot, Nachfrage, Preis aus. Teilweise bestehen auch Hybridlösungen (z.B. öffentliche neben privaten Einrichtungen des  Bildungssystems oder des Gesundheitssystems), die hier nicht weiter betrachtete Probleme eigener Art aufwerfen. Privatisierungen und Hybridlösungen funktionieren nicht notwendig kollektiv rational, weshalb sie häufig mit staatlichen Kontrollmechanismen der Marktüberwachung (z.B. Bankenaufsicht, Versicherungsaufsicht, Wettbewerbsbehörden, Kartellaufsicht) oder der Qualitätsüberwachung (z.B. Lebensmittelaufsicht, Schulaufsicht) kombiniert werden.  
 
 
9.7.2 Komplexität kollektiver Güter

Alle Kollektivgüter erzeugen prinzipiell komplexe Anforderungen politischer Willensbildung und Konsensfindung. Mit Größe sozialer Systeme nehmen soziale Differenzierung und mit dieser Fragmentierungen von Interessen, Wertesystemen und Verhaltenserwartungen zu. Als Ergebnis sind grundsätzlich nur Entscheidungen möglich, die niemals alle partikularen Interessen berücksichtigen und daher tendenziell strittig bleiben. Über die Problematik politischer Willensbildung hinaus besteht prinzipiell bei öffentlichen Gütern und Allmendegüter ein egoistisches Trittbrettfahrerproblem:
  • Bei öffentlichen Gütern tritt das Trittbrettfahrerproblem auf, wenn Unternehmen sich vor der Zahlung von Steuern drücken, indem z.B. im Inland tätige Unternehmen ihre Firmensitze in Steueroasen verlegen oder Privatpersonen keiner gesetzlich geregelten Arbeit nachgehen (und sich vielleicht mit Hilfe von Kindergeld für zahlreiche Kinder und/oder Schwarzarbeit finanzieren), aber trotzdem öffentliche Leistungen in Anspruch nehmen, weil niemand ausgeschlossen werden kann. 
  • Typische Trittbrettfahrerprobleme von Allmendegütern bestehen aus Übernutzungen und deren Folgen, z.B. Klimaveränderungen, Überfischung der Meere, Rodungen von Wäldern, übermäßiger Wasserverbrauch etc. und werden als Tragik der Allmende diskutiert.
Innerhalb von Staaten bestehen zur Verhinderung des Missbrauchs von Gemeingütern und öffentlichen Gütern verfassungsrechtlich abgesicherte gesetzliche Regelungen und entsprechende Einrichtungen der Kontrolle, z.B. Polizei, Ordnungsämter, Zoll, Finanzämter, Gerichte etc.. International und erst recht global stellen sich Anforderungen der Willens- und Konsensbildung jedoch deutlich komplexer dar als innerhalb von Staaten, weshalb sie schwierig herbeizuführen sind und auch dann noch an ihrer Durchsetzbarkeit scheitern können. Ausbeutungen und Missbrauch von Umweltressourcen, Klimaproblematik, Missachtung von Menschen- und Tierrechten und nicht zuletzt Migrationsströme dokumentieren die unbeherrschbare oder nur unvollständig kontrollierbare Komplexität der Realität. 

Erwähnt sei, dass Gemeinwohl Fragen aufwirft, zu denen Antworten nicht en passant auf der Hand liegen. Sachverhalte und Problematiken dieser Fragen sind unter nicht entscheidbare soziologische Streitfragen einzuordnen, zu denen die Frage gehört, welches Gemeinwohl dem Wohlergehen aller dient und wie Wohlergehen zu definieren ist.
 
 
9.8 Künstliche Intelligenz (KI)
 
Naives Alltagsdenken verbindet mit Innovationen künstlicher Intelligenz (KI) als Fortschritt verstandene Erwartungen globaler Problemlösung. Naiver Fortschrittsglaube ist längst als Mythos und Irrtum entlarvt (siehe Post: Konstruktion und Dekonstruktion der großen Erzählung vom Fortschritt), weshalb KI keinen Fortschrittssegen entfalten wird, aber tiefgreifende Veränderungen auslöst. Einige dieser Veränderungen werden nützlich oder hilfreich sein. Ob zusätzlicher oder neuer Nutzen durch neue Technologien entstehende Risiken zu rechtfertigen vermag, wird unterschiedlich gesehen. 
 
KI beruht bisher auf Erkennen, Berechnen, Vergleichen von Mustern sowie auf Lernfunktionen der Mustererkennung und auf Kreativfunktionen der Mustererzeugung. Maschinelle Fähigkeiten beruhen nicht alleine auf Algorithmen. Um hohe Qualität zu realisieren, werden riesige Datenmengen und eine hohe maschinelle Performance benötigt. Aufgrund der technischen Leistungsfähigkeiten aktueller maschineller Generationen haben Maschinen bzgl. der beschriebenen Funktionen menschliche Fähigkeiten längst überholt und werden sich weiter steigern. Erreichte und zu erwartende Fähigkeiten können für Menschen durchaus beunruhigend sein.
 
Menschen verfügen dagegen über Fähigkeiten, deren maschinelle Nachbildung noch nicht gelungen ist:
  • Menschen sind in der Lage, Muster bereits mit sehr wenigen Daten zu erkennen, wobei allerdings die Treffsicherheit von Aussagen bzw. die Irrtumswahrscheinlichkeit von einigen Bedingungen abhängig ist. 
  • Menschliche Mustererkennung beruht auf Fähigkeiten der Hypothesen- und Urteilsbildung mittels Wahrnehmung oder Vermutung kausaler Zusammenhänge sowie auf Fähigkeiten der Identifizierung von Konsistenz und der Bildung von Sinnkonstrukten.
  • Menschen verfügen über Emotionen bzw. über selbstreflexive Bewusstseinszustände und können diese mit Wahrnehmungen innerer und äußerer Zustände verknüpfen, um rationale Urteile zu bilden.  
KI ist in Wirklichkeit nicht intelligent, sondern dumm. KI verfügt über keine Rationalität und vermag nämlich nur solche Probleme zu erkennen und zu lösen, die als Muster angelernt wurden. KI kann sich nicht selbst reflektieren und keine Urteile bilden. Ob und ggf. wann diese Fähigkeiten maschinell beherrscht werden, ist unsicher, solange menschliche Algorithmen der Urteilsbildung unverstanden bleiben.
 
Von egoistischen Interessen verbreitete Fortschrittsnarrative sedieren naives Denken. Wer ethisch denkt und seriös über Risiken nachdenkt, sieht auf die Menschheit eine Welle globaler Bedrohungen mit bisher nur unvollständig absehbaren Folgen zurollen. Artikel der FAZ beschreiben ein noch relativ harmloses Experiment mit manipulierten Fotos (Alles, nur nicht die Wahrheit), das ernst zu nehmen ist: Wie Lügenbilder die Demokratie bedrohen. Defizite und Perspektiven von KI betrachten die FAZ-Artikel Wie künstliche Systeme lernen sollten und Radioaktive Texte. Um ethische Dammbrüche zu verhindern, benötigen wir Antworten auf die Fragen, wie wir im Alltag echte von falschen Informationen unterscheiden können und wie verhindert werden kann, dass falsche Informationen soziales Leben manipulieren. Derzeit sind nur schwache Ideen für praktikable Antworten erkennbar. 

Menschen sind biologische Maschinen, deren Leistungsfähigkeit sich von technischen KI-Maschinen derzeit noch gravierend unterscheidet bzw. kaum vergleichbar ist (Deutschlandfunk: Warum der Mensch-Maschine-Vergleich hinkt). KI beruht mit Hilfe von Statistik und Stochastik auf der Erkennung von Mustern und ist darin leistungsfähiger als Menschen. Menschliches Denken verfügt jedoch über die Fähigkeit, aus wenigen Informationen kausale Zusammenhänge herzustellen oder zu vermuten. KI fehlt diese Fähigkeit. Bisher ist nicht verstanden, wie die Fähigkeit zum Erkennen von Kausalität zustande kommt und kann daher nicht in Algorithmen nachgebildet werden (Max-Planck-Gesellschaft: Nicht ohne Grund!). Falls diese Hürde überwindbar ist, erfährt die Leistungsfähigkeit menschlichen Denkens Nachteile, deren Auswirkungen heute noch nicht vollständig zu bewerten sind, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit  schwerwiegend ausfallen werden.
 
Denkbar sind bereits heute von KI zu politischen Zwecken manipulierte Szenen vermeintlicher Terroraktionen, Kriege, Hinrichtungen etc. sowie Manipulationen wissenschaftlicher Studien. Es geht allerdings nicht nur um Bilder oder um Lügentexte, die KI bei entsprechenden Anforderungen liefert und als vermeintliche Beweise ausgegeben werden können, sondern auch um intransparentes unkontrollierbares autonomes Handeln von Maschinen. Wieviele Arbeitsplätze verloren gehen werden, was das für das soziale und politische Leben bedeuten wird und welche Auswirkungen auf das Denken und Verhalten von Menschen zu erwarten ist, vermag niemand seriös zu prognostizieren, aber Größenordnungen werden voraussichtlich gewaltig ausfallen und historische Transformationen sozialer und wirtschaftlicher Strukturen deutlich übertreffen. Selbstverständlich geht es bisher nur um Szenarien, die aufgrund fehlender Detailinformationen nicht planbar sind, aber dennoch vorausgedacht werden sollten, um Entwicklungen nicht ohnmächtig ausgeliefert zu sein.

Welche Entwicklungen in Laboratorien stattfinden, bleibt weitgehend geheim. Allein dieser Sachverhalt ist alarmierend. Der seit 2013 für Google arbeitende renommierte Kognitionspsychologe und KI-Experte Geoffrey Hinton hat Google kürzlich überraschend verlassen, um vor den Risiken von KI zu warnen:
Was möglich ist, wird genutzt, wenn es Interessen dient. Ein Artikel der FAZ vom 10.05.2023 berichtet über eine aktuelle Studie, in der allein in Biomedizin 28 % von 300.000 Arbeiten betroffen sind (FAZ: Studie stellt haufenweise gefälschte Publikationen fest):

"Demnach sind rund 28 Prozent aller weltweiten Publikationen verdächtig, gefälscht zu sein, davon viele mit Künstlicher Intelligenz verfasst und trotz unsinnigen Inhalts von renommierten Fachzeitschriften veröffentlicht."
[...]
"Die Arbeiten kommen weit überwiegend aus Ländern mit autokratischen Regierungen, die Wissenschaftler und Ärzte unter enormen Publikationsdruck setzen. Länder mit hohem Fälschungsanteil sind der Studie zufolge Russland, Türkei, Ägypten, China und Indien mit Werten zwischen 39 und 48 Prozent aller veröffentlichten Arbeiten, wobei absolut betrachtet China mit 55 Prozent Spitzenreiter ist. Bei aus Europa eingereichten Arbeiten sind „nur“ fünf Prozent Fake. Hier führt Italien mit elf Prozent, Deutschland liegt bei sechs Prozent, die Ukraine bei drei Prozent. Der Wert für die Vereinigten Staaten ist ebenfalls drei Prozent."
[...]
"Experten gehen davon aus, dass viele Fake-Arbeiten die künftige Entwicklung von Therapien für Menschen falsch beeinflussen. Bei präklinischen Studien eines Biotech-Unternehmens konnten die Ergebnisse von nur sechs von 53 „wegweisenden“ Artikeln repliziert werden, bei einem anderen Unternehmen waren nur 14 von 67 Studien in den Bereichen Onkologie, Frauengesundheit und Herz-Kreislauf-Medizin replizierbar. Die Replikationskrise, zur der Fake-Pu­bli­kationen erheblich beitragen, verlangsamt die Entwicklung lebensrettender Therapien mit einem geschätzten finanziellen Verlust für die Pharmaindustrie von 28 Milliarden Dollar pro Jahr."
 
Annahmen, dass KI nur für gutartige nützliche Zwecke verwendet würde, wären absolut naiv in Anbetracht der unkontrollierbaren Verflechtung von Interessen mit politischer und ökonomischer Macht sowie in Anbetracht der Schwierigkeit, ethisch gutes Handeln zu bestimmen (Kapitel 6.9). Für die optimistische Annahme, dass über ethische Kriterien von Technologien globaler politischer Konsens erzielt werden kann, sind keine guten Gründe sichtbar. Im Gegenteil sprechen Erfahrungen zu Entwicklungen des Klimas oder auch des öffentlichen Internets gegen eine solche Annahme. Selbst wenn Konsens erzielt werden könnte, würde er mit hoher Wahrscheinlichkeit an der Durchsetzbarkeit scheitern. IT-Konzerne verbergen bereits in der Gegenwart ihre Algorithmen. In naher Zukunft stellt sich mit zunehmender Dringlichkeit die Frage, welchen Informationen wir noch trauen können, wie Vertrauenswürdigkeit hergestellt werden kann oder wie sich soziales Leben ohne Vertrauen entwickeln wird. Antworten auf diese Frage sind nicht zu erkennen.
 
 
9.9  Ethisch korrektes Leben 
 
Ohne ethisches Verhalten wäre ein kooperierendes Zusammenleben von Menschen nicht möglich. Im begrenztem Umfang verhält sich daher jeder Mensch zeitweilig ethisch, zumindest solange ethisches Verhalten den eigenen Interessen dient. Inzwischen leben sehr viele Menschen auf der Erde und die Erdbevölkerung wächst weiter, damit auch der Kooperationsbedarf und die Dringlichkeit der Beantwortung ethischer Fragen der Menschheit insgesamt.
 
Globale ethische Fragen betreffen vor allem kollektive Güter: Menschenrechte, Umwelt und Nachhaltigkeit. Rationalitätsfallen und das Trittbrettfahrerproblem bilden nur ansatzweise kontrollierte, aber nicht vollständig lösbare inhärente Probleme kollektiver Güter (Kapitel 6.7). Wenn Menschenrechte, Umweltschutz und nachhaltiger Umgang mit Ressourcen nicht nur alibimäßig oder im Krisenmodus unter unvollständige Kontrolle gebracht werden sollen, sondern ernsthaft in voller Konsequenz verwirklicht würden, wären alle Menschen gefordert: einzelne Individuen, die Zivilgesellschaft, Wirtschaftsunternehmen, soziale Einrichtungen, Regierungen, überstaatliche Organisationen. 

Mit zunehmender sozialer Komplexität nehmen auch normative Probleme von Antworten auf die Frage nach gutem und richtigem Leben zu. Dass transhumane künstliche Intelligenz die Menschheit aus dieser Falle befreien könnte, ist aus Sicht des Autors Roberto Simanowski eine denkbare Option, aber ein Teufelspakt, in dem Menschen Willensfreiheit gegen Effizienz eintauschen. Ansprüche auf Autonomie und Souveränität, über die Menschen nur begrenzt verfügen (wenn überhaupt), wären obsolet.

Fragen nach gutem Handeln beschäftigt die Menschheit bereits seit prähistorischer Zeit (Wikipedia: Geschichte der Ethik). Unter Bedingungen kultureller Evolution werden Fragen drängender, aber zugleich nehmen auch normative Konflikte zu, während Antworten aus Richtung philosophischer Ethik zaghafter werden. Der Philosoph Wilhelm Vossenkuhl fragt nach Möglichkeiten des Guten und räumt ein, dass sich das Gute als Maßstab menschlichen Handelns historisch verändert und keine absolute Definition erlaubt.
Buchbesprechungen: Wilhelm Vossenkuhl: Die Möglichkeit des Guten. Ethik im 21. Jahrhundert, München 2006:
Deutschlandfunk: Streben nach gutem Handeln 
Forum Philosophicum, Volume 16, Issue 2, Autumn 2011
Kazimierz Rynkiewicz: Wilhelm Vossenkuhl, Die Möglichkeit des Guten. Ethik im 21. Jahrhundert
 
In Anbetracht globaler Krisen konstatiert der Philosoph Thomas Metzinger dringenden Bedarf der Entwicklung einer Bewusstseinskultur. Metzingers eigene Überlegungen kommen aber über Denkanstöße nicht hinaus. Buchbesprechungen Bewusstseinskultur, Berlin 2023:
 
Antworten dokumentieren depressiv stimmende Ratlosigkeit. Seriöse, intellektueller Redlichkeit verpflichteter pragmatische Beantwortung von Fragen nach globaler Ethik sind nicht zu erkennen. - Der Standard, 27.10.2018: Des Menschen Angst vor der Maschine

10 Lebensgeschichte: Determinismus vs. Indeterminismus, Zufall vs. Planung

Thema des Schlusskapitels ist die Illusion einer ihre Lebensgeschichte erzählenden sich selbst formenden einzigartigen Persönlichkeit, die sich ähnlich wie ein Lotse sieht, der ein Schiff souverän durch teilweise unbekannte und mitunter auch gefährliche Gewässer navigiert und scheinbar konsequent in Richtung Ziel unterwegs ist. Überraschende Ereignisse machen zwar immer wieder Korrekturen oder Umwege erforderlich, die aber auf dem Weg zum Ziel lediglich unausweichliche Entscheidungen für oder gegen Weichenstellungen abverlangen.
 
Diese Bild überzeichnet selbstverständlich Sachverhalte einer sehr viel komplexeren Realität. Sicher gibt es auch Menschen, die ziellos durch ihr Leben schlingern oder auch Menschen, denen aufgrund von Handicaps keine eigenständige Lebensführung möglich ist. In Wohlstandskulturen nimmt eine Mehrheit jedoch für sich in Anspruch, mit dem eigenen Leben weitgehend zufrieden zu sein, wie Umfragen zeigen:
  • Eine Umfrage zur Lebenszufriedenheit der Bürger der EU ergab im Februar 2023 für Deutschland, dass 20 % der Bürger mit ihrem Leben sehr zufrieden, 67 % ziemlich zufrieden und nur 1 % gar nicht zufrieden sind. Im Vergleich der Länder der EU liegt Deutschland damit im Mittelfeld. (Statista: Lebenszufriedenheit der Bürger in den EU-Mitgliedsstaaten (EU27) im Jahr 2023)
  • Im Vergleich der deutschen Bundesländer fallen Schwankungen der Zufriedenheitswerte eher gering und weisen auf einer Skala von 0 bis 10 Werte zwischen 7,14 und 6,35 aus. (Statista: Lebenszufriedenheit in Deutschland nach Region im Jahr 2022)
  • Die relativ hohe Zufriedenheit ist in Deutschland von Herbst 2018 bis Anfang 2023 in Anbetracht von Corona-Pandemie, Klimakrise, Umweltschäden, Migrationsproblematik, politischer Turbulenzen, Problemen der Verkehrsinfrastruktur, steigender Energiekosten, hoher Inflation, niedriger Sparzinsen etc. zwar von 32 % auf 20 % gesunken, aber der Anteil ziemlich zufriedener Bürger hat sich von 60 % auf 67 % erhöht und der Sockel der überhaupt nicht zufriedenen Bürger verweilt bei konstant 1 %. (Statista: Wie zufrieden sind Sie insgesamt gesehen mit dem Leben, das Sie führen?)
  • Detaillierte Information zur Lebenszufriedenheit von Menschen in OECD-Ländern bietet der interaktive OECD Better Life Index. (Wikipedia: OECD Better Life Index).
Aus welche Bedingungen sich Zufriedenheitswerte im Detail zusammensetzen, ist aus zitierten EU-Statistiken nicht zu erkennen. Prinzipiell kann angenommen werden, dass Bewertungen von äußeren Bedingungen beeinflusst sind, aber insbesondere individuelle Einschätzungen von  Autonomie und Kompetenz in Bewertungen einfließen. Autonomie und Kompetenz vermitteln Fähigkeiten persönlicher Resilienz, stärken das Selbstwertgefühl, verhelfen zur Konstruktion eines Selbstbildes, das dem eigenen Leben Sinn und Richtung gemäß Vorstellungen guten Lebens verleiht und rechtfertigen die eigene Lebensführung.
 
Bei kritischer Betrachtung von Annahmen naiver Denkweise werden Sachverhalte sichtbar, die auf universelle Regeln individueller Bewusstseinsbildung und Verhaltensweisen hindeuten:
  • Im Vergleich zum Gesamtspektrum aller Verhaltensoptionen ist das Spektrum individueller Verhaltensoptionen schmal, weil Freiheitsgrade von Entscheidungen klein sind.
  • Im schmalen Korridor des Verhaltensspektrums entstehen Illusionen eigener Autonomie und Kompetenz, wenn alternative Optionen zur Verfügung stehen.  
  • Von außen auf Verhalten einwirkende Kontingenz bleibt ausgeblendet oder wird kausal umgedeutet.  
  • Der Einfluss von Kultur auf die Persönlichkeitsentwicklung, auf Erwartungen und Ansprüche an das eigene Leben, auf die Art der Zufriedenheit oder Unzufriedenheit stiftenden Vergleiche bleibt überwiegend unbewusst.
  • Individuelles Verhalten wird weitgehend durch äußere Bedingungen determiniert.
  • Art und Bewertungen von Vergleichen definiert der kulturelle Rahmen von Lebensumgebungen.
  • Zusammensetzung und Varianz von Faktoren bestimmen soziale Kontexte.
  • Gutes und sinnhaftes Leben ist kein empirisch zu beobachtender und an Metriken zu bemessender  Sachverhalt, sondern ein mentales Konstrukt, das auf Vergleichen beruht und über zahlreiche Faktoren variiert.  

10.1 Was prägt Denken und Verhalten?

Strukturen und Prozesse evolutionär entwickelter biologischer Organismen sind weitgehend einheitlich organisiert. Bedingungen von Lebensräumen und Größen von Einflussfaktoren variieren dagegen stark. Noch stärker variieren Parameter der Entwicklung und Struktur individueller Persönlichkeiten. Weil Lebensbedingungen instabil sind und kontingent variieren, hat das menschliche mentale System evolutionär eine hohe Plastizität herausgebildet, die über die gesamte Lebensphase Anpassungen an eine unüberschaubare Menge dynamischer Faktoren ermöglicht. Einfluss auf das mentale System ausübende Faktoren sind entsprechend ihrer Variabilität nachfolgend ohne Anspruch auf Vollständigkeit in 4 Gruppen zusammengefasst.
 
 
10.1.1 Biologische Faktoren
 
Biologische Mechanismen sind je nach Komplexität einer Art unterschiedlich ausgeprägt. Morphologische und physiologische Muster einer biologischen Art bestimmen individuell nur schwach variierende Genotypen von Organismen.
 
Phänotyp und Morphologie von Organismen unterscheiden sich stärker. Die Bildung von Varianten bewirken mehrere Faktoren:
  • Bei zweigeschlechtlicher Reproduktion mischen sich 2 unterschiedliche Genpools, in denen Vorteile und Nachteile zusammentreffen. Im Rahmen der Kultivierung von Pflanzen und Tieren findet oft eine sorgfältige Auswahl von Genpools statt, um gewünschte Ergebnisse zu erhalten. Menschliche Reproduktion ist weitgehend kulturell determiniert. Zucht ist eher unüblich, Inzucht jedoch je nach Bedingungen mehr oder weniger stark verbreitet. Innerhalb von Kulturen kommt menschliche Reproduktion eher kontingent zustande, sodass Ergebnisse überwiegend kontingent ausfallen.
  • Lichtverhältnisse und weitere Bedingungen von Lebensräumen haben Einfluss auf die Pigmentierung der Haut, Haar- und Augenfarbe und andere morphologische Ausprägungen.
  • Aufgrund genetischer Differenzen zwischen Menschen haben sich bei großer genetischer Distanz evolutionär über lange Zeiträume morphologisch unterscheidbare Linien menschlicher Populationen herausgebildet, die jedoch gemäß biologischer Ordnungskriterien keine Rassen bilden, weil Unterschiede der genetischen Substanz gering sind und nur 1 o/oo der DNA betreffen. Auffällige Unterschiede zwischen Menschen, wie Pigmentierung, Haarform und Gesichtsform bewirken nur wenige Allele (Genvarianten), die geographisch durch gleitende Übergänge miteinander verbunden sind. (Spektrum: Menschenrassen)


10.1.2 Lebensraum (Umwelt der Wahrnehmung)

Zum Lebensraum zählen
  • geographische Struktur,
  • landschaftliche Struktur und Profil,
  • demografische Struktur,
  • Siedlungsstruktur und Siedlungsgeographie,
  • klimatische Bedingungen,
  • kulturelle Umgebung.
Der Lebensraum übt sicherlich relevanten Einfluss auf Ausprägungen menschlicher Persönlichkeit und Verhaltensweisen aus, aber dieser Zusammenhang findet in Wissenschaften kaum Beachtung. Einflüsse von Lebensräumen auf kognitive Strukturen sind hoch komplex. Da die Auflösung dieser Komplexität in messbare empirische Größen ungelöste Schwierigkeit bereitet, ignorieren Wissenschaften weitgehend Einflüsse des Lebensraum als Ganzes auf kognitive Strukturen und betrachten lediglich isolierbare Einzelaspekte, in der Soziologie u.a. Einflüsse von kulturellen Faktoren, Siedlungsstrukturen, Wohnverhältnissen etc.. Eine Ausnahme ganzheitlicher Betrachtung bildet die psychologische Feldtheorie (Disziplin der Gestalttheorie), deren Modell individuellen und sozialen Verhaltens den Lebensraum explizit als Einflussgröße von Wahrnehmung und Verhalten berücksichtigt.
Dorsch: Lexikon der Psychologie: Lebensraum - Feldtheorien, psychologische
Spektrum: Lexikon der Psychologie: Lebensraum - Feldtheorie


10.1.3 Kulturelle Umgebung

Unter dem Einfluss von Kultur prägen Menschen Eigenschaften aus, die sie zu Mitgliedern sozialer Kollektive machen. Die Übertragung kultureller Werte, Sitten, Normen, Rollen etc. auf Individuen mittels Internalisierung (Verinnerlichung) findet in Lernprozessen der Sozialisation bzw. Erziehung statt. Die Enkulturation (Einbindung bzw. Integration) von Individuen in eine Kultur setzt eine lebenslange hohe Plastizität kognitiver Strukturen voraus und beginnt wahrscheinlich unbewusst bereits pränatal. Bewusst setzt die Enkulturation bei Neugeborenen ein und ist mit Erreichen des Erwachsenenalters weitgehend abgeschlossen. Da die kognitive Plastizität lebenslang erhalten bleibt, sind bewusste und unbewusste kulturelle Lernprozesse in jedem Alter möglich. Prägungen nativer 'Mutterkultur' bleiben lebenslang erhalten und üben den stärksten Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung aus. 

Kultur hat keine unmittelbaren materiellen Eigenschaften sondern besteht aus Symbolsystemen (mit Bedeutung belegte Zeichen wie Sprache, Texte, Bilder, Gesten, Mimik, Laute, Klänge, Rhythmen, Musik, Tanz etc.) deren Bedeutung mittels bewusster und unbewusster Lernprozesse vermittelt und derart individuell verinnerlicht wird, dass der Zeichenvorrat des kollektiven Gedächtnisses eine Teilmenge des individuellen Gedächtnisses bildet. Das Modell des kollektiv gemeinsamen Gedächtnisses umfasst als kommunikatives Gedächtnis relativ schnell vergängliche personengebundene mündliche Überlieferung sowie als kulturelles Gedächtnis ein langlebiges, Zeit- und Geschichtsbewusstsein prägendes kulturelles Selbst- und Weltbild.
 
Im Kontext dieses Posts sind mehrere Sachverhalte von besonderer Bedeutung:
  • Das kulturelle Selbst- und Weltbild hat prägenden Einfluss auf das individuelle Selbst- und Weltbild. Im kulturellen Gedächtnis verankerte und mittels tradierter Mythen, symbolischer Zeichen, Rituale etc. vererbte Symbolsysteme bilden vermeintlich alternativlose Selbstverständlichkeiten des individuellen Gedächtnisses, das Situationen ereignisabhängig assoziativ interpretiert und Urteilsbildungen erzeugt, über die kein expliziter Konsens hergestellt werden muss. in der Terminologie von Pierre Bourdieu handelt es sich um doxisches Verhalten (siehe Post: Pierre Bourdieu, Habitus und Doxa).
  • Mit zunehmender Komplexität von Kulturen nimmt aufgrund von Ausdifferenzierung sozialer Strukturen sowohl die Komplexität des persönlichen Lebensraums als auch die Menge von Einflüssen auf das individuelle Selbst- und Weltbild zu. Im Ergebnis entstehen Unverständnis und Fremdartigkeit gegenüber der eigenen Kultur, die als 'Entfremdung' empfunden wird.
  • Mit zunehmender Distanz zwischen Kulturen nimmt zwischen Vertretern fremder Kulturen intuitives wechselseitiges Verständnis ab und wird zunehmend anfällig für Störungen und Missverständnisse, die bis zum völligen Unverständnis reichen können. Fähigkeiten interkultureller Kompetenz fehlen dem Alltagsdenken i.d.R., weil es dazu neigt, das eigene Selbst- und Weltbild als universale Normalität anzunehmen. 
  • Wer sich ernsthaft für fremde Kulturen interessiert, findet Schlüssel zum Verständnis von Kulturen in der Ethnologie und erweitert gleichzeitig sein Wissen über die eigene Kultur.
Biologische Notwendigkeiten Bedingungen von Lebensräumen üben selbstverständlich Einfluss auf kulturelle Ausprägungen sowie Denken und Verhalten von Menschen aus. Diese Einflüsse wirken jedoch nicht nur einseitig gerichtet, sondern entwickeln sich als interdependente Prozesse. Kulturellen entwickeln spezifische Sterotype, die das Denken von Menschen strukturieren und sich in der Gestaltung materieller und immaterieller Lebensräumen ausprägen. Auf diese Zusammenhänge macht der in Harvard lehrende kanadische Anthropologe und Psychologe Joseph Henrich in seiner jüngsten Veröffentlichung aufmerksam. Henrich weist anhand mehrerer Sachverhalte nach, dass Kulturräume Westeuropas und außerhalb Westeuropas kulturell unvereinbare Unterschiede von Stereotypen in Denkweisen von Menschen entwickelt haben. Die Essenz der Argumente fasst eine Rezension von Günter Renz zusammen: Joseph Henrich: Die seltsamsten Menschen der Welt.
Die seltsamsten Menschen der Welt. Wie die Menschen reichlich sonderbar und besonders reich wurden. Berlin 2022 (Original: The WEIRDest People in the World: How the West Became Psychologically Peculiar and Particularly Prosperous. Farrar, Straus and Giroux, 2020)

Folgen der von Henrich beschriebenen Sachverhalte sind weitreichend. Sie machen nicht nur verständlich, weshalb Menschen unterschiedlich denken und weshalb interkulturelle Verständigung schwer fällt oder mitunter auch nicht möglich ist. Aus westeuropäischer Denkweise resultiert eine vergleichsweise höhere Produktivität und ein insgesamt größerer Wohlstand, was prinzipiell begrüßenswert wäre. Aber dieser Sachverhalt ist nicht harmlos, sondern er wirkt toxisch, weil er als Fortschritt ausgegeben wird und aus vermeintlich alternativlosen Überzeugungen der Überlegenheit westlicher Kultur schwere globale Krisen resultieren.


10.1.4 Soziale Faktoren

Unter dem Einfluss von Kultur prägen Menschen (bzw. alle Lebewesen höherer Arten) Eigenschaften aus, die sie zu Individuen machen und ihnen Emotionen der Einzigartigkeit vermitteln. Mit Lebensphasen ändern sich Einflussfaktoren. 
 
Nachfolgend sind soziale Einflussfaktoren gruppiert nach Lebensphasen ohne detaillierte Kommentierung und ohne Anspruch auf Vollständigkeit aufgelistet. Ein hoher Anteil der aufgeführten Faktoren kommt kontingent zustande.
 
 
7.1.4.1 Schwangerschaft und Geburt
 
Neugeborene können sich weder ihre Familie, noch ihre Kultur oder ihren Lebensraum aussuchen. Bekanntlich haben bereits Einflüsse der pränatalen Phase signifikante Auswirkungen auf die Entwicklung eines Kindes. Unter gewöhnlichen Lebensbedingungen sind planbare Einflüsse nur eingeschränkt möglich und kontingente Einflüsse unvermeidbar. Jede Schwangerschaft und Geburt begleiten nur eingeschränkt kontrollierbare Risiken, aus denen weitere kontingente Einflüsse resultieren.


10.1.4.2 Frühkindliche und juvenile Sozialisation
 
Jugendliche wachsen in Umgebungen auf, die sie ebenfalls nicht ausgewählt haben. Zufällig zustande gekommene soziokulturelle und soziographische Bedingungen bestimmen zwar den sozialen Rahmen, aber auf welche qualitativen Ausprägungen von Schulen, Lehrern, Klassenkameraden etc. sie treffen, ist nicht im Detail planbar.
  • Kultureller und regionaler Lebensraum 
  • Statur, Gesundheit, Robustheit
  • Soziale Sicherheit und Wohlstand der Familie 
  • Familiäres Klima, Partner- und Rollenverhalten der Eltern
  • Familiäre Bildungsferne/Bildungsnähe
  • Weltbild, Rollenverständnis, Erziehungsstil, pädagogische Kompetenz von Erziehern
  • Art und Umfang familiärer Zuwendung und Fürsorge
  • Anzahl Geschwister, Stellung in der Geschwisterreihe, Konkurrenz und Akzeptanz unter Geschwistern
  • Schulkameraden, Freundeskreise, Peergroups, Cliquen
  • Schulerfolg und berufliche Perspektiven 
  • usw.
 
10.1.4.3 Erwachsenenalter
 
Erwachsene verfügen zwar über Entscheidungskompetenzen, aber entscheidbare Optionen sind durch Kultur, Lebensbedingungen und vorausgegangene Lebensphasen limitiert. Auf welche qualitativen Ausprägungen von Arbeitgebern, Arbeitsbedingungen, Arbeitskollegen, Partneroptionen, Wohnoptionen, Freundes- und Bekanntenkreise sie treffen und wie sich der Nachwuchs, die wirtschaftliche Situation, das politische Umfeld, die eigene Gesundheit etc. entwickeln, ist nur zu einem geringen Anteil planbar und zu einem hohen Anteil zufallsbestimmt. 
  • Berufswahl und Berufserfolg
  • Freundeskreis und soziale Beziehungen
  • Partnerwahl, Erfolg oder Misserfolg von Partnerschaften
  • Sozialer Status und Wohlstand
  • Soziale Sicherheit und soziales Netzwerk
  • Nachwuchs, Erziehung, Erziehungserfolg
  • usw.
 
10.2 Lebensstil und Habitus
 
Hier sei noch einmal auf den französischen Soziologen Pierre Bourdieu und sein Hauptwerk Die feinen Unterschiede verwiesen (Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft (französisch: La distinction. Critique sociale du jugement. Paris 1979). Frankfurt am Main 1982). Bourdieu postuliert, dass Positionen von Personen im sozialen Raum differenzierter Sozialsysteme nicht allein durch verfügbares ökonomisches Kapital determiniert sind, sondern das verfügbare Kapitalvolumen einer Person sich aus 3 Kapitalsorten zusammensetzt: soziales Kapital, ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital. Ihr persönlich verfügbares Kapitalvolumen nutzen Menschen zur Gewinnung von symbolischem Kapital, das sich im Habitus von Lebensstilen durch Merkmale sozialer Distinktion ausprägt (siehe Post: Pierre Bourdieu, Habitus und Doxa).
 
Bourdieus Habitus-Begriff bezeichnet das sozial vererbte Repertoire der Verhaltensdispositionen einer Person im sozialen Raum. Habitus bezieht sich nicht auf isolierte Handlungssequenzen, sondern umfasst das Auftreten einer Person, das in sozialen Interaktionen mittels Sprache und Körpersprache, Kleidung und Schmuck, Lebensstil, Vorlieben, Abneigungen, Gewohnheiten etc. internalisierte Wahrnehmungs-, Denk-, Wertungs- und Verhaltensmuster nach außen repräsentiert. Habitus manifestiert sich u.a. in der Kleidung, in der Wohnungsausstattung, in Ernährungs- und Essgewohnheiten, Reisezielen und Urlaubsvorlieben, im Freizeitverhalten, in der Art der Kommunikation, in der Art kultureller und sportlicher Interessen etc..
 
Habitus bildet gemäß Bourdieu ein stabiles und nur schwer änderbares System von Dispositionen, das nicht auf biologischen Voraussetzungen beruht, sondern das sozial vermittelt und individuell angeeignet wird. Bourdieu versteht Habitus als eine Vermittlungsinstanz zwischen Sozialstrukturen der Makroebene und individueller Lebenspraxis auf der Mikroebene. Habitus vermittelt zwischen sozialen Strukturen von Lebenswelten sozialer Akteure und deren individueller Lebenspraxis in zweifacher Funktion, die Bourdieu als Opus operatum sowie als Modus Operandi bezeichnet:
  • Elementare Lebensbedingungen der sozialen Lage von Individuen prägen mittels Lern- und Anpassungsprozessen grundlegende Einstellungen und das Repertoire von Verhaltensweisen einer Person im sozialen Raum. Als Opus operatum (Werk, Handlung) ist Habitus „geronnene Lebensgeschichte“ und „inkorporierte Kultur“, aus denen sich Wahrnehmungs-, Denk-, Wert- und Verhaltensmuster ableiten. 
  • Indem diese Wahrnehmungs-, Denk-, Wert- und Verhaltensmuster steuernd und realisierend auf konkrete soziale Aktionsfelder einwirken, bildet Habitus gleichzeitig ein generatives Prinzip der Erzeugung praktischer Handlungsweisen. Als Modus Operandi (Handlungsweise, Art des Handelns) hat Habitus gestaltende Wirkung.
In Die feinen Unterschiede weist Bourdieu empirisch nach, dass geschmackliche Distinktion sich nicht zufällig oder beliebig ausbreitet. Soziale Strukturen generieren soziale Unterschiede. Soziale Unterschiede etablieren Geschmacksklassen, deren Spitze ein von Eliten definierter legitimer Geschmack ('Hochkultur') besetzt. Etablierte Geschmacksklassen manifestieren und stabilisieren soziale Unterschiede (soziale Strukturierung) und verhelfen asymmetrischer Verteilung von Macht und Ressourcen zur Selbstreproduktion. Sozialisationsspezifische Verhaltensweisen (Denk-, Sprach- und Handlungsmuster) und Geschmacksrichtungen (Wohnmilieu und Wohnungseinrichtung, Essen und Trinken, Kunst und Musik, Kleidungsstil, Reisen etc.) weist Bourdieu für den gesamten Lebensstil von Menschen innerhalb einer gemeinsamen Kultur nach. 
 
Als Ausgangspunkt wählt Bourdieu eine Analyse des Kunstgeschmacks und zeigt auf der Basis von Erhebungen, „dass Geschmack nichts Individuelles darstellt, sondern dass dieser immer etwas von der Gesellschaft Geprägtes ist. Geschmack sei also keine Eigenheit des Menschen, die von Natur aus jeder hat, sondern rühre immer von der Art her, wie jemand sozialisiert wurde und wie und in welchem sozialen Umfeld er sich bewegt. Daher sei die soziale Herkunft, zu der immer ein bestimmter Habitus gehöre, das Maßgebliche. (…) Das Kulturelle ist demzufolge nichts Autonomes oder Spontanes, sondern immer Ergebnis der jeweiligen Sozialisation.“ (Wikipedia: Die feinen Unterschiede)
 
 
10.3 Perspektiven von Leben

Lebensläufe sind mit einer Vielzahl kontingenter Ereignisse konfrontiert. Kontingenz unter nicht planbaren Bedingungen von Komplexität ist dafür verantwortlich, dass Lebensläufe nur begrenzt vorhersagbar sind und Leben nie risikofrei bleibt. Risiken können selten oder häufig auftreten und klein oder groß ausfallen, aber sie sind nicht planbar, sondern bestenfalls im Rahmen von Wahrscheinlichkeiten vorhersagbar. Da Zustände der Welt sich in einem Prozess permanenter Veränderung befinden und Dynamik dieses Prozesses zunimmt, nimmt auch Komplexität des Lebens zu. Allerdings suggerieren Medien und selbsternannte Gurus, dass durch technologische Innovationen alles einfacher wird und die Welt sich insgesamt im Fortschritts-Modus befindet.
 
Mentale Mechanismen erzeugen Illusionen eines Bewusstseins, das sich als eine kognitive Oberinstanz einer einzigartigen und weitgehend autonom agierenden individuellen Persönlichkeit versteht, die individuell spezifische Verhaltensdispositionen ausprägen. Dispositionen können im Leben reifen, aber vermeintlich resultieren sie aus individuellen Fähigkeiten, die eine Persönlichkeit auszeichnen und das individuelle Leben formen. Individuelle Denk- und Verhaltensmuster zeigen teilweise tatsächlich relativ konstante Ausprägungen und sind daher z.T. vorhersagbar. Dieser Sachverhalt resultiert aber nicht auf Fähigkeiten und Leistungen eines autonomen Persönlichkeitskerns, sondern er beruht auf Plastizität bzw. Lernfähigkeit des kognitiven Apparates, der sich in der Sozialisation per Internalisierung kultureller Strukturen individuell ausprägt. 
 
Strukturen und Fähigkeiten sind nicht in Stein gemeißelt, sondern passen sich im begrenzten Rahmen veränderten Anforderungen an, wobei Grundmuster erhalten bleiben. Individuelle Resilienz und Anpassungsfähigkeit beruhen auf funktionalen Leistungen generalisierbarer Ressourcen, die sich in der Sozialisation entwickeln. Ob oder in welchem Umfang individuelle genetische Ausstattungen beteiligt sind, diskutiert die Anlage-Umwelt-Debatte kontrovers (Spektrum: Anlage-Umwelt-Kontroverse). Aus dieser Perspektive betrachtet handelt es sich bei Biographien um Erzählungen, die mit literarischer Phantasie ex post konstruierte Sinnzusammenhänge innerhalb eines soziokulturellen Rahmens beschreiben und der Legendenbildung dienen.
 
Seelengrund ist als Ort, an dem sich Gott im Menschen manifestiert, in der Gegenwart aus der Mode gekommen und als Gedanke nur noch bei tief religiösen Menschen präsent. In Vorstellungen von Spiritualität überdauern jedoch Anschauungen einer sinnlich nicht fassbaren und rational nicht erklärbaren transzendenten Realität, die hinter oder über der materiellen Welt liegt und aus der die materielle Welt hervorgeht. In Anbetracht emotionsfreier Prozesse der Evolution scheint dieser Gedanke vielen Menschen Trost zu spenden. 
 
 
10.3.1 Denkordnungen: Wildes, wissenschaftliches, posthumanistisches Denken 
 
Kosmogonische Schöpfungsmythen erklären, wie aus Chaos, dem Nichts, einem Ei, dem Urstoff oder einem Urwesen die Welt entstand. Mythen erheben Anspruch auf Wahrheit. Schöpfungsmythen sind meistens religiöse Erklärungen:
Die Verwissenschaftlichung der Welt markiert einen Wendepunkt im Denken von Menschen. Aus sinnlicher Wahrnehmung abgeleitetes wildes Denken muss abstrakt gerechtfertigt werden können, um Gültigkeit zu beanspruchen. Claude Lévi-Strauss verdanken wir die Einsicht,     

"Dass Mythen keine „primitiven“ Formen der Sinnbildung sind, sondern ausgefeilte Techniken, mit deren Hilfe eine Analogie zwischen Natur- und Sozialordnung begründet, stabilisiert und Sicherheit gestiftet werden kann, wird seit den Arbeiten von Claude Lévi-Strauss allgemein anerkannt. Sie haben eine epistemische (das Wissens- bzw. Glaubenssystem systematisch ordnende), soziale und anthropologische Funktion." (Wikipedia: Mythos)

Wissenschaftliches Denken folgt der gleichen inneren Logik, aber es fügt Abstraktion und empirische Beweisführung hinzu und navigiert damit in ein Dilemma: Wie aus anorganischer Materie Leben entstehen kann, ist nach Regeln von Wissenschaft nicht zu erklären, weshalb diese Frage als eines der großen wissenschaftlichen Rätsel gilt.
 
In der Tradition humanistischen Denkens wehren sich zahlreiche Menschen gegen posthumanistische Kritik des Humanismus bzw. traditionelle Konzepte des Menschentums. Wahrscheinlich akzeptiert ihr Selbstwertgefühl nicht, dass der Prozess der Evolution Leben aus anorganischer Materie hervorgebracht hat und Menschen als komplexe biologische Maschinen aufzufassen sind. Darum glauben sie lieber an Verknüpfungen zwischen göttlicher Transzendenz und einer unsterblichen menschlichen Seele. 
 
Die italienisch-australische Philosophin Rosi Braidotti(*) macht darauf aufmerksam. dass die Ablehnung des Posthumanismus als relativistisch oder nihilistisch auf Missverständnissen beruht und Posthumanismus als eine kritische Theorie aufzufassen ist, in der es um die Auflösung scheinbar unauflösbarer Widersprüche geht, in die wir als Menschen verstrickt sind. 
 
"Gesellschaftlich konstruktivistische, binäre Gegensätze wie Natur/Kultur oder menschlich/nichtmenschlich werden aufgelöst. Wir bewegen uns in Richtung einer dynamischen Art von materialistischem Vitalismus, der auf dem Gedanken beruht, dass Materie – einschließlich der menschlichen Verleiblichung – intelligent und selbstorganisierend ist. Das führt zu einer "vitalen Politik", die den Weg für eine nichthierarchische und daher stärker egalitäre Beziehung der Arten untereinander ebnet. An Stelle der Betonung des rationalen und transzendentalen Bewusstseins – eine der Säulen des Humanismus und der Schlüssel zu dessen implizitem Anthropozentrismus – tritt eine radikale Immanenz und Prozessontologie."
[...]
"Eines ist sicher: Um in Richtung vieler, differenzierter und nichtlinearer Wege für ein gemeinsames Eine-Welt-Werden zu arbeiten, müssen wir lernen, anders über uns zu denken."
 
Braidottis Essay ist ein Beitrag der von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegebenen Veröffentlichung Der neue Mensch.


10.3.2 Ist die Welt noch zu retten?

Antworten auf diese Frage erlauben nur Vermutungen. Zeichen verdichten sich, dass eine Rettung extrem schwierig oder auch unmöglich sein wird. Ist das wirklich tragisch? Für die Erde nicht. Die Erde braucht keine Menschen. Für Menschen sicherlich. Menschen brauchen die Erde, aber sie verhalten sich nicht dementsprechend. Wir müssen uns sehr viel mehr anstrengen, als das bisher der Fall ist. Ist diese Erwartung realistisch? Kaum! Evolution kennt keine Emotionen. Evolution bringt ständig Spezies hervor, die bei nicht ausreichender Anpassungsfähigkeit wieder untergehen. Die Hauptlinie der Dinosaurier hat die Erde immerhin 169 Millionen Jahre bevölkert. Dank höherer kognitiver Kompetenz dürfte Homo Sapiens deutlich schneller aussterben.
 
Die Evolution hat die menschliche Spezies mit Bewusstsein ausgestattet, das völlig neue Chancen eröffnet. Bisher haben wir diese Chancen vor allem eigennützig genutzt und es ist nicht erkennbar, dass sich daran etwas ändert und wir lernen werden, anders über uns zu denken. Daher ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die menschliche Spezies aufgrund von NIMBY-Haltung und Trittbrettfahrerproblem untergehen wird. Das ist die eigentliche Tragik. Dass Glauben und Gebete daran etwas ändern können, bleibt bis zum Beweis des Gegenteils eine Wahnvorstellung.    
 
Satellitenfotos menschlichen Wahns in einer Veröffentlichung der FAZ: Wunden der Erde, geschlagen vom Hunger der Energie
 

11 Änderungshistorie des Posts
 
26.10.2023:  Kapitel 2.1: Inhaltliche Änderungen 
18.08.2023:  Erweiterungen Kapitel 4.1
                     Neues Kapitel 4.2.3.2  
12.08.2023:  Neues Kapitel 1.4
25.05.2023:  Kapitel 4.2.3: Ergänzung Aufzählung Punkt 2
23.05.2023:  Kapitel 7.1.3: Ergänzung Verweis auf Joseph Henrich, Die seltsamsten Menschen der Welt
20.05.2023:  Kapitel 4.3.1: Ergänzung Heraklit-Zitat
12.05.2023:  Kapitel 6:8: Ergänzung Fake Science mit KI-Unterstützung 
05.05.2023:  Kapitel 4.1.3: Ergänzung Mode
03.05.2023:  Kapitel 3.2: Verlinkung Artikel zur Ich-Illusion
01.05.2023:  Kapitel 4.1.2 neu eingefügt
                     Kapitel 6.8: Ergänzung Artikel zu Geoffrey Hinton
30.04.2023:  Kapitel 6.3.3: Ergänzung Bibelzitat
29.04.2023:  Verlinkungen:
                     Kapitel 3.2: Gibt es einen freien Willen? 
                     Kapitel 6.9: Was Machinen dürfen sollen               
                     Kapitel 6.9: Des Menschen Angst vor der Machine
                     Kapitel 7.3: Wunden der Erde
28.04.2023:  Überarbeitung Kapitel 7.3.1 und 7.3.2   
27.04.2023:  Neue Kapitel 7.3.1 und 7.3.2  
                     Kapitel 4.3: Ergänzungen
26.04.2023:  Ergänzung Schlussanmerkung  
                     Kapitel 4.4: Ergänzung Nomadentum
25.04.2023:  Überarbeitung der Einleitung
24.04.2023:  Veröffentlichung der Urversion

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